24.06.2024
„Es gibt sehr wenig Wissen zur deutschen Rolle im Konflikt“
„Im Kern sagen alle Politiker:innen [im Bundestag]: ‚Israel sind wir‘“, so Marwecki. Darin zeige sich ein großes „Entlastungsbedürfnis“ und die Annahme, dass die deutsche Aufarbeitung seiner Vergangenheit vor allem an dessen Verhältnis zu Israel zu messen sei. Paradigmatisch steht hierfür die Verschmelzung der bundesdeutschen und der israelischen Flagge in dem Mural „Vaterland“ von Günther Schäfer (s. Bild) an der East Side Gallery, das auch Marweckis englische Buchausgabe zierte. Foto: Mark Turner.
„Im Kern sagen alle Politiker:innen [im Bundestag]: ‚Israel sind wir‘“, so Marwecki. Darin zeige sich ein großes „Entlastungsbedürfnis“ und die Annahme, dass die deutsche Aufarbeitung seiner Vergangenheit vor allem an dessen Verhältnis zu Israel zu messen sei. Paradigmatisch steht hierfür die Verschmelzung der bundesdeutschen und der israelischen Flagge in dem Mural „Vaterland“ von Günther Schäfer (s. Bild) an der East Side Gallery, das auch Marweckis englische Buchausgabe zierte. Foto: Mark Turner.

Daniel Marwecki hat die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen untersucht. Mit dis:orient spricht er über erkaufte Identitätspolitik, linken Antisemitismus und den Preis der deutschen Israelpolitik.

Ebenfalls erschienen ist bei dis:orient eine Rezension des Buches „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“, das Daniel Marwecki im Februar 2024 auf Deutsch veröffentlichte.

Daniel, du schreibst in deinem Buch, dass viele Israelis verständlicherweise den Kontakt mit Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg fundamental ablehnten. Im Gegensatz dazu steht die von dir aufgestellte These, dass Westdeutschland dennoch für gut zwei Jahrzehnte nach der Staatsgründung Israels wichtigste Schutzmacht war. Wie lässt sich das erklären?

Der zentrale Widerspruch lag zwischen der Wahrnehmung und Haltung der meisten jüdischen Israelis – den Überlebenden – und dem staatlichen Interesse. Im Buch definiere ich das auch als Sieg des Zionismus über das Empfinden seiner Bürger:innen: Auf der einen Seite wollte man mit Deutschen nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite aber war das westliche Deutschland nach 1948 der einzige Staat, der bereit war, Israel Industriehilfe, Waffenhilfe und einen großen Finanzkredit zu geben. Das heißt, Westdeutschland und Israel waren zu diesem Zeitpunkt zwei Staaten, die konträrer nicht hätten sein können, aber einander brauchten. Deutschland brauchte die Absolution, die nur Israel geben konnte – und Israel brauchte die Mittel, um einen Staat aufzubauen, die nur Westdeutschland geben wollte. Das ist der zentrale Deal, von dem das Buch ausgeht.

Eine bisher wenig diskutierte These...

Ich habe im Buch viele Seiten darauf verwandt, diese Grundthese zu erklären: Was ist das eigentlich für eine Beziehung, die heute moralisch verklärt wird? Das Gerede einer Versöhnung dieser beiden Staaten ist letztlich nur Selbstbeweihräucherung von deutscher Seite. Dem wollte ich ein realistisches Bild entgegenstellen. In Israel ist diese Realität der Geschichte auch gar nicht so neu oder kontrovers. Das ist sie eher in Deutschland.

Das Luxemburger Abkommen[1], das 1952 ja den Beginn der deutschen Unterstützung Israels markierte, war in Israel höchst umstritten. Wie sah die Debatte in Israel aus?

Es wurde sowohl von linker als auch von rechter Seite, unter dem damaligen Oppositionsführer Menachem Begin, gegen das Luxemburger Abkommen opponiert. Aber David Ben Gurion, der damalige Ministerpräsident, war ein extrem prägender Premierminister: Ohne seine Autorität hätte der Deal so vermutlich nicht stattgefunden. Tom Segev hat über Ben Gurion eine Biografie geschrieben mit dem Titel: „A State at Any Cost“. Eine dieser Kosten war für ihn die deutsche Unterstützung. Für die Israelis war das eine riesige Konzession, aber sie bekamen, was sie brauchten, um diesen Staat aufzubauen. Im zionistischen Sinne war das Reparationsabkommen absolut notwendig.

Durch diesen Deal konnte Westdeutschland international rehabilitiert werden. Wie entwickelten sich die Beziehungen?

In Westdeutschland warben Politiker:innen ab Mitte der 1960er-Jahre für eine Abkehr der besonderen Unterstützung Israels hin zu einer „Normalisierung“ der Beziehungen. Gegenüber westlichen Verbündeten hatte Westdeutschland sich einigermaßen erfolgreich rehabilitiert und versuchte, nun auch gegenüber Israel einen Schlussstrich zu ziehen. Ein prägnantes Beispiel ist, dass mit der westdeutschen Einsetzung von Rolf Pauls, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier erster deutscher Botschafter in Israel wurde.
Diese Normalisierungsversuche von deutscher Seite scheiterten jedoch in den darauffolgenden Jahrzehnten. Die israelischen Ministerpräsidenten zu dieser Zeit, beispielsweise Begin oder Jitzak Schamir, problematisierten das deutsche Vorgehen immer wieder.

Wie entwickelten sich die Beziehungen weiter?

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands stellte sich eine neue Situation ein. Die Bundesrepublik war nun die potentiell stärkste Macht in Europa und musste nach außen hin wieder seine demokratische Zugehörigkeit signalisieren. Die Erinnerungspolitik wandelte sich, der Holocaust wurde zu dem zentralen Bezugspunkt. Israelpolitik wurde Teil der Erinnerungspolitik.

Welche Auswirkungen hatte dieser Wandel für den deutschen Blick auf Israel?

Die deutsche Identität änderte sich von einer, die die NS-Verbrechen vergessen wollte, hin zu einer, die sich mit den zentralen Opfern identifiziert. Das Gesamtverbrechen des Nationalsozialismus wurde in diesem Prozess stärker auf sein Kernverbrechen des Holocaust reduziert. Und der Holocaust wird dann mehr und mehr auf das Verhältnis zu Israel reduziert. Dann bedeutet „Nie wieder!“ plötzlich: „Nie wieder Israel schaden“ – wenn man das so stark herunterbrechen möchte. Wir bewegen uns also wieder weg von der Normalisierung, hin zur Rehabilitation. Aber diese ist auch identitätspolitisch aufgeladen. Es drückt sich eine Entlastungshoffnung, vielleicht sogar eine Erlösungshoffnung darin aus. Deswegen lautet der Titel meines Buches auch „Absolution?“.

Wie zeigt sich diese identitätspolitische Aufladung?

Ich finde beispielsweise die Bundestagsdebatten anlässlich der Jahrestage der Gründung Israels erstaunlich. Die Einlassungen der unterschiedlichen Parteien im Bundestag sind sich sehr ähnlich. Im Kern sagen alle Politiker:innen: „Israel sind wir“. Eine Politikerin der Grünen spricht 2018 davon, dass das Existenzrecht Israels unser eigenes sei, und bei dem Vorsitzenden der CDU bildet Israel quasi das Happy End zum Holocaust in seiner Rede zum selben Anlass im letzten Jahr. Da steckt ein Entlastungsbedürfnis drin und auch eine Opfer-Identifikation. Das birgt natürlich immer die Gefahr, dass man vergisst, wer die Täter:innen waren.

Du schreibst, die heutige deutsche Israelpolitik sei im Kern erkaufte Identitätspolitik.

Heute ist es genau das. Dabei wird diese Identitätspolitik kaum bis gar nicht von der gesamten Gesellschaft geteilt, sondern nur von gewissen Medien und Teilen der politischen Klasse. Es ist bemerkenswert, dass es hinsichtlich der sogenannten Staatsräson so einen riesigen Graben zwischen der Politik und der Gesellschaft gibt. Eine große Mehrheit der Deutschen verlangt in der aktuellen Situation politischen Druck auf Israel und die Stärkung humanitärer Hilfe im Gazastreifen und eine Mehrheit befürwortet ein Kriegsende. Aber die deutsche Regierung setzt sich bisher souverän drüber hinweg.

Wie blickt man heute in Israel auf deutsche Unterstützung?

Der materielle Ausdruck der „Staatsräson“ ist die militärische Zusammenarbeit. Sehr wichtig dabei sind zum Beispiel die von Deutschland gelieferten U-Boote, die das Kernstück der israelischen Marine bilden. Letztes Jahr wurde die Beschaffung des Arrow-3-Raketenabwehrsystems beschlossen, der größte militärische Deal in Israels Geschichte. Diese Zusammenarbeit wird in Israel ausdrücklich vor dem Hintergrund des Holocaust gesehen und als historische deutsche Verantwortung. Das ist auch in der aktuellen Situation so: Würde man in Berlin von „Kriegsverbrechen“ sprechen und Waffenlieferungen nach Israel aussetzen, würde das Fundament der Beziehungen untergraben. Das würde in Israel massiv kritisiert werden – und im Übrigen auch dem deutschen Rüstungsinteresse widersprechen, aber das ist ein anderer Punkt.

Du argumentierst, dass die palästinensische Zivilbevölkerung den Preis für die deutsche Staatsräson zahle. Was meinst du damit?

Es gibt die These, dass es zwischen Holocaust und Nakba einen Zusammenhang gibt, weil es ohne den Holocaust vielleicht kein Israel gegeben hätte. Dazu positioniere ich mich aber nicht. Mir geht es um die konkrete Unterstützung. Wenn es einen Konflikt zwischen zwei Seiten gibt, und ich unterstütze die eine Seite, benachteilige ich die andere, so einfach ist es eben. Ein Beispiel: Für Israels frühe Konsolidierung, aber auch seine Gebietsgewinne im Krieg von 1967, war westdeutsche Hilfe sehr wichtig. Deswegen steht Deutschland in der Mitverantwortung, diesen Konflikt im Sinne von „Land für Frieden“ zu lösen.

Was ist das Problem an der deutschen Perspektive?

In den Debatten hierzulande zeigt sich, wie wenig Wissen es gibt über den Israel-Palästina-Konflikt und noch weniger Wissen über die deutsche Rolle in diesem Konflikt. Die meisten Debatten, auch jetzt über Gaza, finden in Form von Antisemitismusdebatten statt. Es ist Konsens in der Antisemitismusforschung, dass Antisemitismus eine Fantasie des Antisemiten ist und damit unabhängig davon, was jüdische Menschen tun oder eben nicht. Aber ob die Verwendung gewisser Begriffe für die Lage in Israel und den palästinensischen Gebieten antisemitisch ist — siehe zum Beispiel den Apartheidsbegriff — dafür muss ich schon wissen, was im Westjordanland eigentlich passiert. Sonst kann man nicht vernünftig diskutieren. Vielleicht wäre es auch wichtig, sich darüber zu unterhalten, was gerade in Gaza passiert und was die Bundesregierung damit zu tun hat — und nicht nur darüber, wer welche Tweets auf X geliked hat. Aber die deutsche Debatte ist mittlerweile verroht, ignorant und nach außen hin nicht zu vermitteln.

Auf kritische Analyse folge selten policy advice, schreibst du. Dennoch: Was wäre dein Rat hinsichtlich der Nahostpolitik?

Das Buch will distanzierte Geschichtsschreibung leisten, es verfolgt keine Politik. Persönlich aber finde ich, dass die Bundesregierung es lange vor dem 7. Oktober 2023 verpasst hat, friedensbereite Kräfte auf beiden Seiten zu stärken und auch ihre Hilfen dementsprechend zu konditionieren. Das gilt übrigens für beide Seiten: die Palästinensische Autonomiebehörde ist wahnsinnig korrupt und undemokratisch, da wurde viel Steuergeld versenkt. Das ist nicht zuletzt deshalb so schade, weil sie derzeit die einzige Alternative zur Hamas ist.

Jetzt ist es eigentlich zu spät. Wir haben es mit einem existenziellen Krieg zu tun. Es gibt in solch einer Lage keine „guten“ Optionen, aber die einzig richtige Forderung ist immer noch: Waffenstillstand und Freilassung der Geiseln.

Im Buch schreibst du, „in der Erinnerungsdebatte zwischen Staatsräson und Postkolonialismus hat die Hamas der Staatsräson zum Sieg verholfen“, ihr Angriff habe performativer Israelsolidarität neue Legitimation verschafft. Du übst in diesem Zuge auch Kritik an der postkolonialen Linken. Was ist dein Vorwurf?

Ich habe diesen Satz in einem Nachwort direkt nach dem 7. Oktober formuliert und auf die deutsche Debatte bezogen. Für die Solidaritätsbewegung mit Palästina gilt der recht einfache Punkt, dass sie keine Chance hat, gehört zu werden, wenn sie sich nicht klar gegen die Ermordung von israelischen Zivilist:innen stellt. Und das zurecht! Denn selbst, wer den 7. Oktober nur durch die Brille von Besatzung, Blockade und historischer Entrechtung analysieren will, muss verstehen, dass dieses Massaker die israelische Gesellschaft traumatisiert und damit grundlegend verändert hat. Auch die grundsätzlich Kompromissbereiten sagen jetzt: Wir reden erst wieder über irgendeine Art von Frieden, wenn die Hamas vernichtet ist. Die israelische Linke, oder was davon übrig war, fiel dem Attentat ja nicht nur politisch, sondern auch buchstäblich zum Opfer. Viele Bewohner:innen der attackierten Kibbuzim gehörten politisch zur Linken.

Das israelische Leid nach dem 7. Oktober wurde gerade auch in linken Kreisen vielfach und schnell relativiert. Von manchen wurden Fotos der gleitschirmfliegenden Angreifer am 7. Oktober in den Sozialen Medien mit dem Kommentar geteilt, so sehe eben Dekolonialisierung aus. Wie kann man umgehen mit einer solchen menschenfeindlichen Unterkomplexität und gleichzeitig fundiert postkolonial Stellung beziehen?

Es sind tatsächlich einige Masken gefallen. In Teilen der postkolonialen Palästinasolidarität findet sich ein Blut-und-Boden-Nationalismus und teilweise auch Antisemitismus, das muss man so benennen. Wie man sich als Linke:r mit der Hamas solidarisieren kann, ist mir schleierhaft. Dekolonialisierung muss eben nicht so aussehen. Gegenmittel gegen brutalen Nationalismus und religiösen Fundamentalismus ist für mich immer das Eintreten für universelle Menschenrechte.

Aber nur, weil es unter Linken auch Antisemitismus gibt, bedeutet das doch im Umkehrschluss nicht, dass man die Zerstörung Gazas und seiner Gesellschaft unterstützen sollte. Die Bundesregierung hat genau das getan: Sie hat ihre Waffenlieferungen an Israel nach dem 7. Oktober verzehnfacht, für das Vorgehen moralische und diplomatische Rückendeckung gegeben. In meinen Augen ist Deutschland damit nicht nur indirekt an diesem Krieg und seinen Kriegsverbrechen beteiligt. In der deutschen Politik, auch in der Medienlandschaft, gibt es viel zu wenig reale Anerkennung für das Leid in Gaza. Das ist scheinbar auch Teil der „Staatsräson“. Die einseitige Solidarität und Menschlichkeit lässt sich auch hier nur dadurch erklären, dass man die Palästinenser:innen als Menschen zweiter Klasse sieht.

 

 

 


[1] Das Luxemburger Abkommen, oft auch Reparationsabkommen genannt, wurde am 10. September 1952 beschlossen und war der erste größere Vertrag über Reparationen Deutschlands nach dem deutschen Genozid an Jüdinnen und Juden. Mit dem Vertrag verpflichtete sich die BRD zur Zahlung von Reparationen im Gesamtwert von 3,5 Milliarden Mark an den noch jungen israelischen Staat, die größtenteils in Waren erfolgte, sowie 450 Millionen Mark an die Conference on Jewish Material Claims against Germany. Letzteres war ein eigens gegründeter Zusammenschluss jüdisch-amerikanischer Organisationen.

 

 

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Claire DT, Rebecca Spittel