Das MENA Prison Forum bringt ehemalige Gefangene, Kunst, Wissenschaft und Aktivismus zusammen. Am 27. November 2024 zieht das Forum von Beirut nach Berlin um. Leiterin Monika Borgmann stellt dis:orient das Prison Forum vor.
Über Gefängnisse zu sprechen ist ein unbequemes Thema. Dennoch - oder gerade deswegen - widmeten sich die Journalistin Monika Borgmann und der 2021 im Libanon aus politischen Gründen ermordete Publizist und Verleger Lokman Slim der Thematik, indem sie das MENA Prison Forum (MPF) gründeten. Ihr Ziel war es, den vielfältigen Problematiken von Gefängnissen mehr Sichtbarkeit zu geben und Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen. Das MPF, aus dem mittlerweile ein breites und überregionales Netzwerk gewachsen ist, ist in der WANA-Region das einzige seiner Art.
Das Interview mit Monika führte dis:orient bereits im Juni 2023 in Beirut, war der Umzug nach Berlin doch ursprünglich für November 2023 geplant. Mit dem 7. Oktober und dem Krieg in Gaza, der im weiteren Verlauf auch den Libanon selbst erreicht hat, wurde der Launch zunächst abgesagt. Nun ist es endlich soweit und das MENA Prison Forum wird am 27. November 2024 im „Hebbel am Ufer“ (HAU) in Berlin eröffnet.
Die Arbeit zu Gefängnissen vor der Gründung des MPF
Angefangen hatte alles mit der Ausstellung „Missing“, die sich mit Verschwundenen des libanesischen Bürgerkrieges im Jahr 2008 beschäftigte, damals noch unter der Schirmherrschaft des ebenfalls von Lokman und Monika gegründeten Archives UMAM – Documentation & Research. Im Zuge der Ausstellung kam UMAM in Kontakt mit der NGO Lebanese Political Detainees in Syria, die von ehemaligen libanesischen Gefangenen in Syrien gegründet wurde. Im Oktober 2012 eröffnete UMAM gemeinsam mit der NGO eine Ausstellung, bei der die ehemaligen Häftlinge das Erlebte unter anderem in Form einer Tanzperformance darstellten. „Das war vielleicht das erste Mal, dass diese Männer kollektiv Zeugnis ablegten“, sagt Monika über diese erste Ausstellung. Von 2012 bis 2015 interviewte sie einige dieser ehemaligen Häftlinge; daraus entstand der Film „Tadmor“ (zu deutsch: Palmyra, der Name des Gefängnisses, das unweit der gleichnamigen antiken Oasenstadt liegt). „In diesem Prozess haben die Männer ihre eigene Sprache gefunden, mit der sie sich ausdrücken konnten, auch wenn es sich dabei nicht immer um Worte handelte“, so Monika über den Film, der zahlreiche Dokumentar-Filmpreise erhielt.
2018 fand ein Netzwerktreffen verschiedener Organisationen aus der WANA-Region, die zum Thema Gefängnisse arbeiten, in Berlin statt. Auch internationale Partnerorganisationen wie Sites of Conscience und Safe Havens for Archives waren vertreten. Einige Monate später wurde das MENA Prison Forum als Initiative und unter der Schirmherrschaft von UMAM in Beirut gegründet und musste sich sogleich während der Covid-19-Pandemie beweisen.
„Gefängnisse sind der Schlüssel, um diese Region zu verstehen.“
„Folter und Traumata sind omnipräsent. Gefängnisse können aber auch zu Schulen oder Universitäten werden. Gefängnisse sind ein politischer Ort, wo sich politische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft bildeten,“ erläutert Monika. Damit betont sie die Relevanz der Auseinandersetzung mit Gefängnissen, insbesondere in der WANA-Region. „Gefängnisse werden in den Diskursen nicht mitgedacht, dabei spielen sie eine zentrale Rolle. Wenn Leute versuchen übers Mittelmeer zu flüchten und wieder abgeschoben werden oder in einen Pushback geraten, was passiert dann mit ihnen? Sie landen in Gefängnissen.“
Das Befolgen einer politischen Agenda oder die Institutionalisierung der Projekte des MPF lehnten Monika und Lokman immer ab. „Wir haben einfach das gemacht, was wir machen wollten. Und wir wollten etwas bewegen. Wir haben uns nie wirklich an Förderlinien ausgerichtet“, erklärt Monika. Politische Unabhängigkeit gegenüber europäischen Förderlogiken sowie politischen Parteien im Libanon, der Einsatz für Demokratie und gegen eine Kultur der Straflosigkeit standen immer an oberster Stelle. Viele Projekte entstanden aus politischen Diskussionen und dem Austausch mit Gleichgesinnten, andere wurden von außen an das MPF herangetragen.
Die inhaltliche Arbeit des MPF
„Die Idee war von Anfang an ein interdisziplinäres Projekt. Es sollte Überlebende mit Künstlern, Schriftstellern, Richtern und Wissenschaftlern zusammenbringen, um die Themen Gefängnis, Folter und Trauma neu oder zusammen zu denken und neue Ausdrucksformen zu finden“, beschreibt Monika den Gründungsanspruch des MPF. Die Inhalte und Ausdrucksformen lassen sich folgendermaßen gliedern: Tracking und Zusammenstellen relevanter Materialien, Archivierung von Erfahrungsberichten ehemaliger Gefangener und Forschung, Öffentlichkeitsarbeit und Aktivismus. Seit 2018 wurden zahlreiche Publikationen und Filme veröffentlicht, die auf der Website des MPF zu finden sind. Gemeinsam mit dem Anwalt Fritz Streiff produzierte das MPF einen Podcast über den Koblenzer Gerichtsprozess, der in Syrien verübte Kriegsverbrechen verhandelte. Projektkoordinator Mina Ibrahim gab außerdem Seminare für das MPF an der Philipps-Universität Marburg und der Saint-Joseph-University in Beirut.
Oft sind es traumatische Erlebnisse und Geschichten von unmenschlicher Gewalt, denen das MPF mit seinen Projekten auf verschiedenste Art und Weise Raum gibt. Dennoch gibt es auch Happy Ends wie jenes von Ali, den Monika und Lokman für den Film „Tadmor“ interviewten. Ali war ein libanesisches Mitglied der palästinensischen Palestine Liberation Organzation (PLO), der von der syrischen Armee gekidnappt wurde und daraufhin für 14 Jahre in syrischen Gefängnissen verschwand. Kurz bevor er verschleppt worden war, hatte er sich mit Suzanne verlobt. Während seiner Gefangenschaft im Gefängnis Saidnaya schnitzte Ali aus Hühnerknochen oder Olivenkernen Stifte, Dosen und Schmuckobjekte für Suzanne. Heute sind die beiden verheiratet und haben gemeinsam vier Kinder.
Ein neuer Aufbruch für das MPF in Berlin – den Repressionen zum Trotz
Eine Zusammenarbeit in der WANA-Region vor Ort gestaltet sich aus Sicherheitsgründen und wegen logistischen Hindernissen zunehmend schwierig, zu kompliziert sind die Visumsverfahren und zu groß die Gefahr staatlicher Verfolgung oder Überwachung. Dass Monika, Lokman und ihre Mitarbeitenden sich mit ihrer politisch-aktivistischen Arbeit schon immer in gefährlichen Gefilden bewegten, zeigt die bis heute nicht juristisch aufgearbeitete Ermordung Lokmans im Jahr 2021. Monika leitet das MPF seit seinem Tod, auch zum Andenken an sein Vermächtnis. Gleichzeitig kämpft sie mit UMAM und der Lokman Slim Foundation für die Aufarbeitung seiner Ermordung und somit für ein Stück Gerechtigkeit für Lokman. Zudem zeigt der aktuelle Krieg im Libanon erneut die Risken des Arbeitens in der Region selbst.
„Berlin ist die Hauptstadt des Arabischen Frühlings. Alle unsere Partnerorganisationen sind hier vertreten“, erklärt Monika Borgmann den lange geplanten und nun endlich wahr werdenden Umzug des Forums von Beirut nach Berlin. Der Launch des MENA Prison Forums findet am 27. November 2024 im HAU in Berlin statt. Die Besuchenden erwartet ein Konzert von sechs syrischen ehemaligen politischen Gefangenen, die während ihrer Gefangenschaft im Gefängnis Sednaya heimlich auf Instrumenten aus Essensresten, Kleidung und anderen verfügbaren Gegenständen Musik machten. Somit rebellierten sie auf ihre Weise gegen den Horror des Gefängnisses. Das Konzert wird die erste Aufführung vor Publikum seit ihrer Gefangenschaft sein. Im Anschluss findet eine Podiumsdiskussion zum Thema „Syria between Prison, Exile and Accountability“ statt, die simultan auf Arabisch und Englisch übersetzt wird. Karten für den Launch des MPF können hier reserviert werden.
Mit dem neuen Standort in Berlin setzt das MENA Prison Forum ein starkes Zeichen für den Kampf gegen das Vergessen und die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen – und schafft einen Raum, in dem Überlebende, Künstler:innen und Aktivist:innen gemeinsam der Repression eine Stimme geben können.