Zwar ringen Israel und die Hamas in Kairo um einen dauerhaften Waffenstillstand, doch radikale Töne dominieren in beiden Gesellschaften; die nächste Eskalation scheint so eine Frage der Zeit. Dass es anders geht, zeigen Aktivisten der israelisch-palästinensischen Graswurzelbewegung Other Voice. Eine von ihnen ist Roni Keidar. Von Nemi el-Hassan.
Menschen wie Roni Keidar sind selten: Eine Dame Mitte sechzig, offenes Wesen, freundliches Gesicht. Sie hat uns zu sich nach Hause eingeladen, in das Dorf Netiv HaAsara, direkt am Gaza-Streifen. Zwischen den Reihen der Einfamilienhäuser winden sich Wege durch gepflegte Gärten und bunte Spielplätze.
Im Vorgarten knallt die pralle Sonne auf die Pflastersteine, doch in Ronis geräumigem Wohnzimmer hat die ganze Studentengruppe aus Deutschland Platz. Es gibt Saft und Gebäck, während Roni auf Englisch erklärt, wo der nächste Schutzraum zu finden ist, falls die Sirenen ertönen.
Und dann erzählt sie: von sich und ihrem Leben an diesem Ort, der jetzt so ruhig und friedlich vor uns liegt, und von der Graswurzelbewegung Other Voice, bei der sie sich engagiert.
Freunde jenseits der Mauern, Checkpoints, Wachtürme
Denn so außergewöhnlich diese Frau selbst erscheinen mag, so wenig lässt sich auch die Bewegung, der sie angehört, in den politischen Mainstream einordnen. Die Aktivisten von Other Voice wollen zeigen, dass es abseits von Scharfmachern und radikalen Meinungen auch Stimmen gibt, die sich sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite für einen gerechten Frieden in der Region und die Aufhebung der Gaza-Blockade einsetzen.
Die Sanftheit in Ronis Stimme ist bemerkenswert, wenn sie davon spricht, wie wichtig Verständnis für die Sicht des Gegenübers ist. Dass man miteinander auskommen muss, dass weder „sie noch wir“ gehen werden, wie sie es nennt.
Hinter diesem Ungetüm aus Mauern, Checkpoints und Wachtürmen am Dorfrand von Netiv HaAsara hat Roni Freunde gefunden, die versuchen, ihr Leben zu gestalten, so gut es die wirtschaftliche und politische Situation zulässt. Sie schreiben einander E-Mails, rufen an, wann immer die Leitung standhält, allen gesellschaftlichen Stigmata zum Trotz, die solche grenzüberschreitenden Freundschaften auf beiden Seiten mit sich bringen.
„Wir haben Bunker, sie haben keine“
Einmal, als ein israelischer Sänger ein Konzert in Netiv HaAsara gab, erhielt Roni eine SMS von einer palästinensischen Freundin aus Gaza. Darin stand, dass sie von einem Raketeneinschlag in der Nähe gehört habe und bat um ein Lebenszeichen von Roni. Da weinte Roni in einer Ecke des Konzertsaals. Als sich ein Journalist nach dem Grund ihrer Trauer erkundigte, erklärte sie: „Wir haben Bunker, sie haben keine“. In dem Moment hörten sie beide das dröhnende Geräusch eines Kampffliegers über dem Dorf, allzeit bereit, Vergeltung zu üben.
Auch das ist Other Voice: Eine Stimme, die unter der überwältigenden Mehrheit der Rufe nach Rache etwas anderes will. Eine Stimme, die daran glaubt, dass es für die anhaltende Spannung in der Region nur eine zivile, aber niemals eine militärische Lösung geben kann.
Ein anderes Mal, als Roni wieder einmal in ihrem Schutzraum wartete, bis die Kassamraketen irgendwo in einem der vielen Felder in der Umgebung einschlagen, fragte sie sich, wo ihre Freunde auf der anderen Seite der Mauer eigentlich Schutz finden, wenn ihr Zuhause unter Beschuss steht. „Wir gehen irgendwo hin, wo es wenig Fenster gibt, und hoffen zu überleben“, erzählte ihr eine Freundin, die nur wenige Kilometer entfernt in einer völlig anderen Welt lebt.
„Wenn zwei Familien Jahre zur Versöhnung brauchen, wie lange braucht dann eine Nation?“
Roni hat ein bewegtes Leben hinter sich. Geboren in Großbritannien und aufgewachsen in Israel, heiratete die Lehrerin einen jüdischen Ägypter und lebte mit ihrer Familie vier Jahre lang in dem arabischen Nachbarland. Anfangs hatte sie selbst Vorurteile und beschwerte sich bei den Lehrern ihrer Tochter, weil die anderen Kinder in der Klasse ihre Tochter ausgrenzten. Erst mit der Zeit entwickelte sie ein entspannteres Verhältnis zu Land und Leuten und machte neue Bekanntschaften. Selbst die Mutter der kleinen Leila, die ihrer Tochter anfangs verboten hatte, Ronis Kinder zum Geburtstag einzuladen, wurde zu einer guten Freundin.
Jahrzehnte später, Ronis Kinder sind mittlerweile selbst Eltern geworden, schaut sie uns an und fragt: „Wenn zwei Familien Jahre brauchten, um ihre Vorurteile abzulegen, wie lange braucht dann eine ganze Nation, die aus so vielen Individuen besteht, von denen jedes seine eigenen Bürden mit sich trägt?“.
Roni möchte, dass wir mit einem ihrer palästinensischen Partner sprechen, auch wenn der Empfang schlecht ist. Hassan Ziyad ist Psychologe in einem Traumazentrum in Gaza und arbeitet mit erkrankten Kindern. Er spricht von posttraumatischer Belastungsstörung bei seinen kleinen Patienten und zählt die medizinischen Folgen der psychischen Dauerbelastung im Kriegsgebiet auf: Sie reichen von Bauchschmerzen und Konzentrationsstörungen bis hin zu geringen schulischen Erfolgen und Depression. Irgendwann können wir ihn nicht mehr verstehen und müssen auflegen.
„Ich habe erst Angst, seit die Grenzen geschlossen sind“
Bevor wir aufbrechen, nimmt Roni uns noch mit auf einen Aussichtspunkt, von dem wir bis in die vom israelischen Militär angelegte Pufferzone schauen. Sie ragt anderthalb Kilometer in den ohnehin nur zehn Kilometer schmalen Gazastreifen hinein und nimmt den Bewohnern wertvollen Platz, von dem es in dem am dichtesten besiedelten Raum der Welt nie genug geben kann. Und das, obwohl der Gazastreifen seit 2005 offiziell nicht mehr besetzt ist. An das Gefühl von Freiheit können sich hier nur die Älteren erinnern.
Mit Blick auf die Bauruinen und Überreste zerstörter Gebäude erzählt Roni, dass die Menschen hier illegal und unter Lebensgefahr die sogenannte Sicherheitszone betreten, um Steine zu sammeln. Wer die Zone betritt, gilt als zum Abschuss freigegeben. Beton und alles, was man sonst für den Häuserbau benötigt, ist rar geworden, seit Israel die Blockade über den Gazastreifen verhängt hat; so sammeln die Einwohner ihr Baumaterial vom Boden auf. Es ist fast schon makaber, dass der völkerrechtswidrige, staatlich betriebene Abriss von Häusern für viele eine, wenn auch nicht sehr ergiebige, Lebensgrundlage darstellt, und gleichzeitig passt diese Geschichte nirgends besser hin als an diesen Ort, an dem uns so vieles unverständlich bleibt.
Roni zeigt auf die meterhohen Mauern: „Ich hatte nie Angst, als die Grenzen offen waren. Ich habe Angst, seit sie geschlossen sind. Unser Leben hängt davon ab, dass sie eines haben. Und ihres hängt von unserem ab“.
Die Autorin Nemi al-Hassan studiert in Deutschland. Sie beschreibt hier einen Besuch im Rahmen einer von Alsharq geleiteten Reise nach Israel und Palästina.