15.10.2023
Gaza, Deutschland und die ganze Bandbreite an Fragen
Innehalten und nachdenken. Grafik: Regina G/KI
Innehalten und nachdenken. Grafik: Regina G/KI

Im Strudel der Bilder, Nachrichten und Social Media-Posts voller Verzweiflung, Schmerz, Verurteilung und Aufrufen zur Solidarität tauchen Fragen auf – Fragen nach der Menschlichkeit, dem Wert des einzelnen Lebens und dem Recht, Rechte zu haben.

Eine Flut von Bildern, die wir vergessen zu haben glaubten, schlägt zurück. Sie öffnet die Pforten der Hölle auf Erden wieder. Eine Million Menschen werden aufgefordert, ihre Häuser im Norden von Gaza zu verlassen. Weder das „Wie“ noch das „Wohin genau“ sind von Interesse. Sogar die sogenannten „sicheren Wege“ werden bombardiert.  Es ist wahrscheinlich, dass eine Bodenoffensive folgen wird. Die große Fluchtbewegung soll, inmitten von Ruinen, in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, das seit Jahrzehnten belagert und tyrannisiert wird und in dem es seit Ausbruch des Krieges kein Wasser, keine Nahrungsmittel und keine medizinische Versorgung mehr gibt, erfolgen.

Einige Stimmen in Israel schlugen ihre Vertreibung nach Ägypten vor; ein biblischer Exodus in umgekehrter Richtung ohne Heilsversprechen. Oder es ist eher eine umgekehrte Erlösung, die sich darauf beschränkt, einen der am längsten andauernden politischen Konflikte durch die Entwurzelung oder Auslöschung einer ganzen Bevölkerung zu lösen. Es ist immer noch unklar, ob die ägyptischen Behörden bereit sind, die Grenzübergänge zu öffnen. Und wenn ja, wer wird berechtigt sein einzureisen oder zu bleiben? Und wie lange?

Ich habe Fragen, viele Fragen. Gehören dieser Belagerungszustand, das Aushungern und die Vertreibung zur „uneingeschränkten Solidarität mit Israel“ und zum Recht der Nationalstaaten, sich zu verteidigen? Wenn diese Handlungen Teil der „international anerkannten“ Rechte sind, wie können wir uns dann den Begriff „Rechte“ unter diesen Umständen vorstellen? Wie kann das Recht zur Selbstverteidigung mit Handlungen in Einklang gebracht werden, die offensichtlich gegen das Völkerrecht verstoßen?

Sind diese Rechte auf diejenigen beschränkt, die Bürger:innen eines souveränen Staates sind? Sind die Palästinenser:innen in Gaza eine Gruppe von Menschen, die nicht „das Recht haben, Rechte zu haben“ wie Hannah Arendt es treffend formulierte, weil sie nicht in erster Linie Bürger:innen eines souveränen Staates sind? Wie kommt es, dass wir aufgefordert werden, Gewalttaten feindlicher militanter Eindringline, die sich außerhalb des Rahmens der Rechtmäßigkeit bewegen, zu verurteilen – was hier moralisch richtig ist – und gleichzeitig schreckliche Taten staatlicher Gewalt als wiederum rechtmäßig zu bezeichnen – obwohl eine Verurteilung auch hier moralisch richtig wäre?

Wie können wir in einer Welt überleben, in der die Kluft zwischen Rechtmäßigkeit und Moralität unüberwindbar wird? Wie können Aushungern und Vertreibung rechtens sein, während Aufrufe zur Unterstützung einer belagerten und bombardierten Bevölkerung unrechtmäßig sind? Wie kann rechtmäßiges Handeln gleichbedeutend mit moralischem Versagen sein und moralisches Handeln der gesetzlichen Kontrolle und Zensur unterliegen?

Solidaritätsaufrufe werfen neue Fragen auf

Solidarität mit den Menschen in Gaza artikulieren; im selben Moment, in dem das Grundrecht der Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt wird, um Proteste zur Unterstützung des Gazastreifens in Berlin zu delegitimieren; im selben Moment, in dem meine arabischen Freunde von racial profiling, zufälligen Durchsuchungen und Verhaftungen in Neukölln durch die Polizei berichten, fordert die „Freie“ Universität Berlin von „allen Universitätsangehörigen, sich in dieser schwierigen Situation mit unseren israelischen Freunden und allen, die Opfer der durch die Hamas entfachten Gewalt werden, solidarisch zu verhalten.“

Schließt die Solidarität mit den Freund:innen die Bestätigung der oben genannten Formen staatlicher Gewalt und Vertreibung ein? Gehören die Palästinenser:innen zu „allen“, die „Opfer werden“? Und wenn ja, warum ist das so; was bedeutet es, sie als Teil von „allen“ zu bezeichnen, die nach den „Freunden“ kommen? Bedeutet es, ihre Verluste als Kollateralschäden der Gewalt, die rechtlich gesehen Solidarität verdient, zu bezeichnen? Was bedeutet es, wenn eine akademische Einrichtung eines freiheitlich-demokratischen Staates, deren Aufgabe es ist, Wissen frei zu schaffen, alle ihre Mitglieder zur Solidarität verpflichtet?

Heißt das nicht auch, alle zu verpflichten, auf eine bestimmte Art und Weise Zuneigung zu empfinden und zu zeigen? Ist es dann rechtens, wenn sich die Mitglieder der Universität neutral fühlen? Ist es rechtens, wenn sie Schmerz für diejenigen empfinden, die nicht als Freund:innen anerkannt werden, Trauer über Verluste, die als Kollateralschäden gelten, Wut gegen Formen der Gewalt, die als rechtens gelten?

Innehalten und nachdenken

Verschiedene Aufrufe zur Solidarität und Verurteilung von beiden Seiten, auf die ich gestoßen bin, wurden mit Phrasen des „ohne ‚wenn‘ und ‚aber‘“ ausgeschmückt, die sich über den Kontext und die historische Einordnung hinwegsetzen. Es ist, als ob das Verstehen von Gewalt gleichbedeutend mit ihrer Rechtfertigung wäre, als ob politische Antworten von der Auslöschung bestimmter Geschichten abhängig wären, als ob die Tugend im Angesicht des Bösen darin bestünde, mit dem Denken aufzuhören. Für Arendt ist das Gegenteil davon richtig. Moralisch zu handeln bedeutet, „innezuhalten und nachzudenken“, und das Böse ist genau das: ein Versagen des reflektierenden Denkens, die Unfähigkeit, einen Dialog mit sich selbst zu führen.

Ich trauere aufrichtig um die Verluste auf beiden Seiten. Jeder Verlust ist auf seine Weise gleichwertig zu betrauern. Ich trauere um die trauernden Mütter und Väter, um die verängstigten Kinder, um die Obdachlosen, die Verwundeten, die Menschen mit Behinderung, um die Ängstlichen und Ungleichen. Ich trauere und kann nicht aufhören zu denken. Ich kann nicht aufhören, über die „Wenn“ und „Abers“ nachzudenken. Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, wessen Schmerz zählt und wessen Schmerz nicht zählt. Ich kann nicht aufhören zu fragen: Wie unmenschlich müssen wir sein, um rechtmäßig Menschen zu sein?

 

 

 

Redigiert von Regina Gennrich
Übersetzt von Magdalena Süß, Clara Taxis