Position zu Israel und Palästina zu beziehen, bedeutet nicht, Solidarität mit einer Seite zu bekunden. Stattdessen müssen wir endlich lernen, Gleichzeitigkeiten auszuhalten, schreibt unsere Kolumnistin Marina Klimchuk.
Warum fällt es uns Menschen so schwer, zu akzeptieren, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren können? Viele Dinge, die wir eigentlich schon lange wussten, die uns aber seit dem 7.Oktober jeden Tag vor Augen geführt werden, sind offensichtlich. Trotzdem fühlt es sich unmöglich an, sie nebeneinander existieren zu lassen, statt sie gegeneinander auszuspielen.
Die erste Tatsache:
Die Hamas ist böse. Sie tut nicht nur nichts, um ihre eigene Bevölkerung zu schützen. Sie hat ihre eigenen Leute, die palästinensische Zivilbevölkerung, in einen furchtbaren Krieg gestürzt, den sie sich nicht ausgesucht haben. Jetzt, wo die Bevölkerung verhungert und verdurstet, horden sie Nahrung und Ressourcen in unterirdischen Tunneln. Die Hamas hat jüdische Israelis, Beduinen und thailändische Landwirtschaftsarbeiter:innen wahllos massakriert. Hamas-Kämpfer haben Frauen vergewaltigt, Kinder vor den Augen ihrer Eltern misshandelt und erschossen, Menschen bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt.
Diese Berichte sind dokumentiert und mittlerweile verifiziert. Sie waren kein spontaner Akt der Wut, sondern lange geplant, wurden mit größter Präzision durchgeführt. Leider gibt es sehr viele Menschen, die solche Verbrechen als „Dekolonialisierung“ etikettieren, sie als „israelische Propaganda“ leugnen oder Genugtuung darüber empfinden. Das erlebe ich in sozialen Medien, aber auch in Interviews oder Berichten von Freund:innen. In langen Jahrzehnten haben viele Menschen den Hass gegenüber Israel so verinnerlicht, dass sie jetzt keine Empathie für die Opfer des 7.Oktobers empfinden können.
Selbstverständlich sind die Verbrechen der Hamas in einem Kontext der Unterdrückung geschehen. Dieser Kontext entbindet aber niemanden von der Verantwortung, sich klar zu positionieren. „Opfer-Sein von systematischer, brutaler und langjähriger Entrechtung ist keine Ausrede nicht zu benennen, wie man sich seine Befreiung vorstellt und wie nicht. Mit dem Massaker wurde durch Hamas ein politisches Programm deutlich präsentiert“, schreibt der Aktivist Yossi Bartal. All die, die jetzt auf der ganzen Welt „Free Palestine“ fordern, sollten im nächsten Schritt artikulieren, wie sie sich die Befreiung Palästinas genau vorstellen.
Auch der Staat Ägypten, dessen Bürger:innen sich jetzt lautstark mit Gaza solidarisieren, hat offensichtlich kein echtes Interesse daran, die Zivilbevölkerung Gazas zu schützen. Warum sonst hätte er so schnell den einzig relevanten Grenzübergang geschlossen, an dem sich verzweifelte Menschenmengen anstellten? Auf eine Liste zu kommen, um Gaza verlassen zu können, ist in diesen Tagen eine Unmöglichkeit.
Zweite Tatsache:
Der israelische Staat und seine Armee sind böse. Einen Staat, dessen Verteidigungsminister ankündigt, der palästinensischen Zivilbevölkerung Essen, Elektrizität und Benzin zu verwehren, kann man nicht anders nennen. Als de facto Besatzungsmacht trägt Israel die Verantwortung für Gazas Bevölkerung. Ihre Warnungen an die Bevölkerung, rechtzeitig aus Gebieten zu fliehen, die bombardiert werden, ist ein minimaler Akt des Schutzes. Israelis sehen die Toten Palästinas als Kollateralschaden, sie zu retten hat gerade in der jungen Generation von Soldat:innen keine Priorität, erzählte mir ein Freund.
Wie ein Mantra wiederholen Israelis ihren von jeder Realität losgelösten Glauben, eine moralische Armee zu haben. Viele Soldat:innen wollen Rache für die Gräuel des 7.Oktobers, andere Extremist:innen wollen Gaza schlichtweg zurückerobern: vor einigen Tagen ging in israelischen Social Media ein Video viral, das am Strand von Gaza kilometerweit nur israelische Flaggen zeigte. „Dieses Jahr haben wir einen verfrühten Unabhängigkeitstag“, scherzte der filmende Soldat.
Dutzende Videos, die in den vergangenen Wochen veröffentlicht wurden, dokumentieren selbstgefilmte Erniedrigungen und Misshandlungen der Armee an Palästinenser:innen. Männer, die, nackt oder halb-nackt, mit verbundenen Augen und in Handschellen auf dem Boden liegen und vor Schmerz schreien, werden bespuckt, beschimpft und getreten.
Auf einem Video legt ein Reservist mit einer Kippa auf dem Kopf seinen Arm um einen Palästinenser mit einer schwarzen Augenbinde. Er lacht und tänzelt, auf seinem Handy spielt jüdische Musik. „Warum tanzt du nicht?“, fragt er den Mann, während dieser sein Gleichgewicht verliert.
Ob und inwieweit der israelische Krieg in Gaza tatsächlich Elemente von Genozid und Verbrechen an der Menschlichkeit beinhaltet – wovon auszugehen ist – sollten Völkerrechtler:innen prüfen. Diese Prüfungen können Jahre dauern. Influencer:innen auf Instagram, die den Begriff „Genozid“ zum Modewort erklärt haben, sollten ihre Klappe halten. Ihre Anschuldigungen führen nur zu mehr Polarisierung, mehr Hass.
Um Israel zu verstehen, ist es wichtig, zwischen der Struktur des Bösen und dem Individuum zu unterscheiden. Die politische Struktur und die Kontrolle der Armee über das Westjordanland sowie über die Grenzen Gazas war schon lange vor dem 7.Oktober eine Struktur der Unterdrückung. Aber nicht alle Menschen, die Teil des politischen Systems oder der Armee sind, sind Extremist:innen oder wollen Palästinenser:innen tot und unfrei sehen.
Nicht wenige, die innerhalb der Strukturen dieses Staates agieren, sind sich der israelischen Verbrechen in Westjordanland und in Gaza wohl bewusst. Sie entscheiden sich, innerhalb des Systems zu bleiben, um es von innen heraus ein Stückchen zu verbessern. Andere sehen israelischen und palästinensischen Schmerz einfach als Nullsummenspiel: entweder wir oder sie, dazwischen gibt es nichts, glauben sie.
Alle, die jetzt israelische Fahnen schwenken und jede Israelkritik als Antisemitismus abtun, leugnen die politische Realität des Staates, dem sie ihre Solidarität bekunden: dieser Staat ist böse, wie die Hamas auch böse ist.
All diese Gleichzeitigkeiten müssen wir aushalten können. Israelis können es im Moment nicht, Palästinenser:innen auch nicht, beide Gruppen sehen nur ihren eigenen Schmerz. Wie soll man von ihnen verlangen, all das simultan zu fühlen, wenn die Angehörigen tot oder in Geiselhaft sind? Wenn im Minutentakt Bomben fallen und man Kinder und ältere Menschen unter Trümmern begräbt? Sie können es nicht. Aber wir, die nicht unmittelbar betroffen sind, müssen es lernen. Wenn wir es nicht schaffen, weil es eben verdammt schwer ist, müssen wir üben: uns hinterfragen, reflektieren, einfach mal schweigen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.