Die Brutalität in Huwara könnte ein Kipppunkt sein. Erst wenn Israelis aufhören, sich über ihre eigene Identität zu belügen, gibt es Hoffnung auf eine Rettung, sagt Marina Klimchuk.
Die Wahrheit ist draußen. Viele Jahre konnten wir sie ignorieren, verschleiern, so tun als gäbe es sie nicht. Sie schönreden, rechtfertigen, mit einem Joint am Strand bei Sonnenuntergang weghalluzinieren. Der Israelis Last ist die Selbsttäuschung. Der Philosoph Thomas Metzinger schreibt, kollektive Selbsttäuschung entstehe, „wenn wir falsche Bilder der Wirklichkeit immer wieder gegenseitig in uns hineinspiegeln.“ So spiegeln die Israelis sich, eine liberale Demokratie zu sein, eine Insel der Zivilisation inmitten eines Dschungels von arabischen Barbaren. Damit ist jetzt Schluss. Das Monster hat seinen Käfig verlassen.
Am Sonntag drangen 400 Siedler:innen in das palästinensische Städtchen Huwara unweit der Stadt Nablus ein und setzten es in Flammen. Sie zündeten Gebäude und Autos an. Ein Mensch starb, Hunderte wurden verletzt. Berichten zufolge wurden palästinensische Löschfahrzeuge an der Einfahrt nach Huwara gehindert.
Einige Tage später sagte der Finanzminister Betsalel Smotrich, der jetzt auch die zivile Infrastruktur im Westjordanland kontrolliert, im Fernsehinterview: „Huwara muss von der Landkarte verschwinden!“ Sein rechtsextremer Knesset-Kollege Zvika Fogel zeigte sich zufrieden mit dem Angriff, einem Radiosender sagte er, er wolle ein „abgeriegeltes und abgebranntes Huwara“ sehen - als Abschreckungseffekt. Wenn die Armee nicht dafür sorge, dann eben die Bürger:innen selbst. Linke israelische Medien sprachen von einem Pogrom.
Deutliche Wortwahl
Das sind, direkt oder indirekt, Aufrufe zur ethnischen Säuberung, vielleicht sogar zum Genozid. Wer mit der öffentlichen israelischen Rhetorik vertraut ist, den mag diese Wortwahl nicht überraschen. Dennoch schockiert sie in ihrer Direktheit, ihrer Grausamkeit. Diese Ehrlichkeit ist richtig. In ihr nistet Israels Chance auf eine Rettung.
Denn sie setzt den jahrelangen Lügen und Mantras ein Ende, denen viele internationale Unterstützer:innen Israels und auch viele Israelis aufsitzen. Dass sie rechtschaffene, gute Bürger:innen sind, die nur in Frieden leben wollen, aber eben einfach keine Partner zum Verhandeln haben, sondern nur Terrorist:innen, die sie tot sehen wollen. Dass es nur wenige gewaltbereite Siedler:innen und noch weniger gewaltbereite Soldat:innen in der moralischsten Armee der Welt gibt, ein paar saure Äpfel, aber doch im Grunde Söhne und Töchter, die ihr Land lieben und schützen. Dass Gott uns dieses Land gegeben hat und wir es um jeden, wirklich um jeden Preis verteidigen müssen.
Die Angriffe auf Huwara haben eine laute und brutale Wende eingeläutet. Sie rütteln die Menschen, die sich so lange mit Selbsttäuschung betäubt haben, aus ihrem Dornröschenschlaf der Gleichgültigkeit wach. Das schmerzt, ist aber eine gute Sache. Nur wenn es einen Kipppunkt gibt, kann jemals etwas anders werden. Das kann erst passieren, wenn Israelis bereit sind, die hässliche, verrohte Realität in ihrem Land in vollem Ausmaß zu erkennen. Deutsche Politik darf sich mit dieser Realität keinen Tag länger gemein machen. Hört endlich auf, „tief beunruhigt über neuen Siedlungsbau“ zu sein, wie ihr in jeder zweiten Pressemeldung verkündet. Fällt euch nichts Neues ein?
Alte Muster brechen
Vor etwa anderthalb Jahren telefonierte ich mit dem Redakteur einer Tageszeitung. Ich sagte, die Gewalt der Siedler:innen auf palästinensische Dörfer habe massiv zugenommen, man müsste darüber berichten. Er ermutigte mich, etwas zu schreiben. Wie für meinen Text bestellt, attackierten kurze Zeit später dutzende Siedler:innen ein Dorf und kesselten es ein. Sie griffen die Dorfbewohner:innen mit Steinschleudern an, zerschlugen Fensterscheiben und Autos, töteten Tiere. Ein Kind kam mit Schädelbruch und Blutungen ins Krankenhaus. Ich fuhr zum Tatort. Stundenlang warteten wir am nächsten Tag mit einem der Opfer aus dem Dorf, einem alten Mann, der verletzt worden war, vor der Polizeistation. Er wollte Anzeige erstatten: er wusste, wer die Drahtzieher der Attacke waren. Die Polizei nahm alle seine Angaben auf, nur um die Verdächtigen innerhalb weniger Tage wieder freizulassen.
Israelische Medien berichteten damals, man war ein bisschen betroffen und lebte weiter vor sich hin, alles wie immer. Deutsche Medien berichteten bis auf meinen Artikel nicht. Ich beschrieb im Detail, warum solche Angriffe Teil einer größeren, von der Regierung gewollten Struktur sind, die der schleichenden Annektierung des Westjordanlandes dienen. Warum die israelische Armee diese Attacken nicht nur bewusst nicht verhindert, sondern oft befeuert. All diese Passagen wurden damals von der Redaktion mit der Begründung herausgestrichen, ich hätte zu wenig Beweise für meine Aussagen angeführt. Betäubt mit der Droge der Selbsttäuschung sollten Siedlerattacken auch hier als etwas verkauft werden, was sie nicht sind: Verrückte Einzeltäter:innen, die am Schabbat ein bisschen zu viel getrunken haben.
Die Wahrheit war schon damals nicht weniger wahr und doch war man noch nicht bereit für sie. Heute ist man es. Vielleicht, hoffentlich, jetzt wo homophobe Rechtsextreme in der Regierung sitzen, die das Gericht entmachten und die Todesstrafe wieder eingeführt wollen. All diese Gräuel sind real. Aber sie könnten auch eine Gelegenheit sein, das Monster zu bekämpfen. Politische Dunkelheit öffnet ein Fenster der Formbarkeit. Eine Chance, wirkliche Veränderung herbeizuführen. Als ersten Schritt dafür haben sie am Mittwoch einen „National Day of Disruption“ ausgerufen. Israelis müssen zivilen Ungehorsam dringend jenseits von links und rechts radikal neu denken. Die alten, langweiligen Formen des Widerstandes hinter sich lassen – denn diese sind gescheitert.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.