09.12.2025
Die Haaretz-Konferenz: Journalismus unter widrigen Umständen
Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa bei der Haaretz-Konferenz in Berlin. Bild: Henriette Raddatz.
Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa bei der Haaretz-Konferenz in Berlin. Bild: Henriette Raddatz.

Vor wenigen Wochen fand inmitten Berlins eine Veranstaltung statt, die in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich war: Die linke israelische Tageszeitung Haaretz lud zur ersten Konferenz in Deutschland ein. Dis:orient war für euch dabei. 

Unter dem Titel „Bruchlinien und Zukunftsperspektiven: Israel, Gaza und Deutschland in Kriegszeiten und darüber hinaus“ kamen am 6. November 2025 Journalist:innen, Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Aktivist:innen im Haus der Berliner Festspiele zusammen. Ihr Ziel: Über die tiefen Risse in der israelischen Gesellschaft, die humanitäre und politische Situation in Gaza sowie die Rolle Deutschlands sprechen. Schon die Zusammensetzung der Teilnehmenden machte deutlich: Hier geht es nicht um diplomatische Floskeln, sondern um kontroverse Debatten. Es waren palästinensische Regierungsvertreter:innen, Knessetmitglieder, israelische Menschenrechtsanwält:innen und israelisch-palästinensische Konfliktberater:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft vertreten.

Die Eröffnung durch Amos Schocken, Herausgeber von Haaretz, war ein Statement für die Pressefreiheit. Er erinnerte daran, dass seit Beginn des Krieges über 200 Journalist:innen in Gaza getötet wurden – eine Zahl, die nicht nur die Brutalität des Konflikts, sondern auch die Gefährdung unabhängiger Berichterstattung verdeutlicht. Schocken betonte außerdem, dass Haaretz trotz massiver Anfeindungen in Israel weiterhin über Hunger, Landraub und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten Palästinas berichtet. „Wir werden als ‚Zeitung der Hamas‘ diffamiert“, sagte er, „doch unsere Aufgabe ist es, Macht zu kontrollieren, nicht ihr zu dienen.“ Dieser Anspruch prägte auch die Konferenz.

Emotionen, Narrative und Selbstkritik

Der erste Beitrag war ein Gespräch mit der Soziologin Eva Illouz. Sie analysierte die Rolle von Emotionen und Ideologien in Kriegszeiten und verwies auf Narrative, welche die Hamas als „unaufhaltsame Bedrohung“ darstellen würden. Dabei kritisierte sie Teile der israelischen Linken, sich in moralischen Sackgassen zu befinden. „Es gibt nichts, was die Hamas davon abgehalten hätte, das zu tun, was sie getan haben“, sagte Illouz – eine Aussage, die im Publikum sehr unterschiedlich aufgenommen wurde. Im Laufe der Konferenz fanden viele verschiedene Positionen Raum. Neben Illouz trat der israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard als markante Gegenstimme auf.

Sfard sprach von einer „Identitätskrise“ der israelischen Gesellschaft und der israelischen Linken. „Die Zerstörung Gazas ist ein gesamtisraelisches Projekt“, sagte er. „Wir alle tragen Verantwortung für Kriegsverbrechen.“ Seine Worte lösten spürbare Betroffenheit aus – und die Frage, wie eine Gesellschaft mit kollektiver Schuld umgehen kann.

Innere Front und politische Zukunft?

Eran Etzion, ehemaliger stellvertretender Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrats und Mitarbeiter des Middle East Institute in Washington D.C., sprach über die „innere Front“ in Israel. Für ihn ist klar: Solange Benjamin Netanyahu an der Macht bleibt, gibt es keine Chance auf Transformation. Etzion forderte nicht nur Netanyahus Rücktritt, sondern dessen Inhaftierung. „Ein kluger Führer kann Geschichte verändern“, sagte er, „doch wir haben derzeit keinen.“ Gleichzeitig plädierte er für die vollständige politische Legitimation arabischer Parteien – ein Schritt, der Voraussetzung für eine echte Demokratie sei. Seine Worte spiegelten die tiefe Krise wider, in der sich Israel befindet: Zwischen Sicherheitsdiskurs und Demokratieabbau.

Hiba Qasas, Aktivistin und Expertin für Friedensprozesse, warnte vor oberflächlichen Dialogansätzen á la „hummus and hugs“. Solche symbolischen Akte seien keine Lösung, solange die Realität der israelischen Besatzung fortbestehe. „Ein gemeinsames Morgen ist nur möglich, wenn wir die andere Seite wirklich sehen“, betonte sie. 

Internationale Dimension

Immer wieder ging es um Deutschlands Rolle. Während einige Stimmen, wie der Pädagoge und Publizist Meron Mendel, Israels Krieg als „schmutzig, aber für uns alle“ bezeichneten, forderten andere eine klare Positionierung Deutschlands zugunsten der Anerkennung Palästinas. Ayman Odeh, Vorsitzender der Hadash-Ta’al-Partei, hielt eine leidenschaftliche Rede, die er auch an deutsche Politiker:innen richtete: „Wenn dies Sieg ist, was ist dann Zerstörung? Wenn wir schweigen, haben wir nichts gelernt.“

Bente Scheller, die aktuelle Leitung des Referats für Nordafrika und Nahost der Heinrich-Böll-Stiftung, lenkte den Blick auf die angrenzenden Länder in Westasien. Sie formulierte die These, dass dort neue Konflikte entstehen könnten. Als Beispiel nannte sie Syrien, wo zuletzt im Sommer dieses Jahres direkte militärische Auseinandersetzungen mit Israel stattfanden. Auch die Präsenz einer neuen US-Militärbasis in Syrien verschärfe die Lage zusätzlich.

Komödie oder bitterer Ernst?

Unter der Moderation des Haaretz-Chefredakteurs Aluf Benn trafen an diesem Abend zwei Persönlichkeiten aufeinander, die auch in Zukunft die Beziehungen zwischen Palästina und Israel gestalten könnten: Ehud Olmert, ehemaliger Premierminister Israels, und Nasser Al-Kidwa, langjähriger palästinensischer Politiker und Diplomat. Die Diskussion entwickelte sich zu einem spannenden Schlagabtausch, der zeitweise fast kabarettistische Züge annahm – geprägt von rhetorischer Schärfe und überraschender Vertrautheit zwischen den beiden Gesprächspartnern.
Olmert provozierte gleich zu Beginn mit der These, Israel habe die Hamas „erkauft“, da diese nie ernsthaft an Verhandlungen interessiert gewesen sei. Diese Aussage verdeutlichte die komplexe Gemengelage aus politischem Kalkül und militärischer Eskalation, die den Konflikt seit Jahrzehnten prägt.

Al-Kidwa thematisierte daraufhin die Rolle palästinensischer Gefangener. Insbesondere ging er auf den von Israel inhaftierten Marwan Barghouti ein, dem viele Palästinenser:innen politische Führungskompetenzen zusprechen. Er forderte seine Freilassung und erwähnte in diesem Kontext auch die aktuell 9.250 inhaftierten Palästinenser:innen

Olmert konterte mit rhetorischer Raffinesse: Al-Kidwa könne doch selbst eine leitende Rolle übernehmen – ganz ohne Barghouti. Diese Bemerkung sorgte für spürbare Spannung, aber auch für humorvolle Momente. Al-Kidwa hingegen antwortete weniger kunstvoll, dafür prägnant. Er sprach sich klar für eine Zweistaatenlösung aus, wirkte angesichts der tief verankerten Unterdrückungs- und Besatzungsstrukturen jedoch stellenweise resigniert.

Die Atmosphäre erinnerte an ein Treffen alter Bekannter, bei dem trotz aller Differenzen ein gewisser Respekt spürbar blieb. Die Diskussion bot nicht nur Einblicke in strategische Überlegungen, sondern auch in die persönlichen Dynamiken zweier politischer Schwergewichte.

Journalismus unter Beschuss

Als journalistisches Forum angesetzt, kam auch der Austausch zwischen Journalist:innen nicht zu kurz. In einem ganzen Panel berichteten deutsche und israelische Journalist:innen über die Schwierigkeiten der Berichterstattung über Gaza und das Westjordanland. Da ausländischen Journalist:innen die Einreise in den Gazastreifen weiterhin untersagt ist, bleibt die Überprüfung von Informationen schwierig. Die Beschränkung der Pressefreiheit illustrierte Christian Meier (FAZ) mit einem persönlichen Beispiel: Er erzählte von seiner Festnahme durch israelische Streitkräfte, als er im Westjordanland Aktivist:innen begleitete. Solche Vorfälle seien selten, aber keine Einzelfälle, betonte er, und verwies auf die „Verwischung der Grenzen zwischen Siedlern, Polizei und Armee“. Hagar Shezaf (Haaretz) ergänzte, dass diese Praxis Teil einer Strategie sei, um Aktivismus zu kriminalisieren. Er sprach zudem über die geringe Aufmerksamkeit für das Westjordanland in der israelischen Gesellschaft und die zunehmende Komplexität der Besatzung seit dem 7. Oktober. Dennoch: Trotz repressiver Maßnahmen konnten Menschenrechtsverletzungen durch israelische Soldaten, wie im Gefangenenlager Sde Teiman, publik gemacht werden – ein Hinweis darauf, dass selbst in Zeiten extremer Polarisierung und Repressionen moralische Grenzen wahrgenommen und verteidigt werden.

Zwischen Hoffnung und Abgrund

Die Haaretz-Konferenz war mehr als ein akademischer Austausch. Sie war ein Spiegel der tiefen Brüche in Israel und Palästina – und der moralischen Dilemmata Deutschlands. Zwischen Forderungen nach Gerechtigkeit, Warnungen vor Ideologisierung und Appellen an den Dialog blieb eine zentrale Frage offen: Wie kann Frieden entstehen, wenn Schweigen und Angst dominieren? Die Antworten darauf werden nicht in einem Konferenzsaal gefunden, sondern in der Bereitschaft, Machtstrukturen zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln.

 

 

 

 

Henriette studierte Vorderasiatische Archäologie und Islamwissenschaft im Master in Berlin, London und Amman und arbeitete und lebte im Sudan, Tunesien, Syrien, Tadschikistan, Aserbaidschan und Russland. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich Migration und promoviert in der Iranistik zu Kurd*innen in Russland.
Redigiert von Sören Lembke, Hannah Jagemast