27.10.2024
“Ich musste ein Buch schreiben, das die Menschen zum Weinen bringt“
Der Autor Nathan Thrall ist in Kalifornien geboren, lebt aber seit einigen Jahren in Jerusalem. Foto: Guillem Trius
Der Autor Nathan Thrall ist in Kalifornien geboren, lebt aber seit einigen Jahren in Jerusalem. Foto: Guillem Trius

Der Autor Nathan Thrall sorgt mit seinem preisgekrönten Buch über den Besatzungsalltag von Palästinenser:innen im Westjordanland für Aufsehen. Im Mai noch gecancelt, äußert er nun auf seiner Lesereise durch Deutschland scharfe Kritik an Israel.

Ein Montagabend in München. Reges Gemurmel füllt den Hörsaal in den letzten zehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn, die Stimmung wirkt gelöst. In ein Wirrwarr aus zugeklappten Regenschirmen, den ersten Wintermänteln und erstaunlich vielen ergrauten Köpfen mischen sich junge Gesichter und Kufiyas – ein buntes Publikum. Trotz Unwetter haben sich über 100 Menschen auf den Weg gemacht, um zu hören, was zwei der weltweit bekanntesten jüdischen, linken Stimmen, Nathan Thrall und Deborah Feldman, heute zu sagen haben.

Am 3. Oktober 2023 veröffentlichte der aus Kalifornien stammende Nathan Thrall sein erzählendes Sachbuch „Ein Tag im Leben von Abed Salama“. Anhand eines realen Busunfalls 2012 vor den Toren Jerusalems mit mehreren toten, palästinensischen Kindern, werden tiefe Einblicke in den Alltag der Palästinenser:innen im Westjordanland unter israelischer Besatzung und die direkten Auswirkungen der Siedlungspolitik gegeben. Im August erschien das Buch nun auch auf Deutsch im Pendragon Verlag. Letzter Stopp der von Bestsellerautorin Deborah Feldman moderierten Lesereise ist die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Prof. Dr. Erika Thomalla, die den Abend zusammen mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Frieder von Ammon organisiert hat, freut sich sichtlich über das große Interesse an der Lesung.

Schwierige Startbedingungen in Deutschland für den Pulitzerpreisträger

„Wir sind uns beide sehr bewusst, dass wir als Juden, hier in Deutschland, jetzt über dieses Thema sprechen“, beginnt Feldman mit einer klaren Ansage. Sie erklärt, dass dieser Abend am schwierigsten zu realisieren war. Die Stadt München sowie die LMU standen den vergangenen Monaten aufgrund ihrer Haltung zum Gaza-Krieg und mangelnder Gesprächsbereitschaft mit Studierenden bereits in der Kritik. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Feldman den beiden Organisator:innen vielmals dafür dankt, die Lesung trotz aller Schwierigkeiten ermöglicht zu haben.

Pulitzer-Preisträger Nathan Thrall und Bestsellerautorin Deborah Feldman im Hörsaal der Universität München. Foto: Jasmin Scholl

 

Während das Buch bereits weltweit in 25 Sprachen erschien und 2024 mit dem Pulitzer Preis in der Kategorie „Nonfiction“ ausgezeichnet wurde, sei die Übersetzung in Deutschland herausfordernd gewesen. Alle bekannten Verlage hätten geantwortet, dass die Story großartig sei, aber man das Thema „politisch leider nicht anfassen“ könne. Die Absagen beschreibt Thrall als „sehr schmeichelhaft“ und kassiert damit seinen ersten Lacher des Abends. Wegen dieser Schwierigkeiten war die Veröffentlichung hier für ihn neben der englischen Version am wichtigsten, so Thrall: „Der Diskurs über Israel und Palästina in Deutschland ist am stärksten eingeschränkt und am weitesten von der Realität entfernt“. 

Pro-palästinensische Stimmen werden seit dem 7. Oktober vermehrt eingeschränkt. So wurde beispielsweise die palästinensische Autorin Adania Shibli im November 2023 von der Frankfurter Buchmesse ausgeladen. Eigentlich sollte sie dort einen Preis für ihren Roman „Eine Nebensache“ erhalten. Ein ähnliches Schicksal ereilte Thrall selbst noch im Mai: Sein Event zur aktuellen Lage in Gaza wurde ohne Begründung gecancelt. Auf X schrieb er damals, darüber nicht überrascht zu sein. 

Trotz der Hindernisse reist Thrall mit seinem Roman durch ganz Deutschland. Dabei erhalten seine Lesungen die Aufmerksamkeit zahlreicher großer Zeitungen. Um Shibli hingegen ist es stiller geworden. „Ich erkenne mein Privileg als Jude, in Deutschland gehört zu werden“, resümiert der in Jerusalem lebende Autor. Für diese Ungerechtigkeit empfinde er großen Groll und fühle sich umso mehr verpflichtet, sich als Jude zu Palästina zu äußern. Dabei weiß er, dass seine Meinung in Deutschland als kontrovers gilt. Trotz anfänglicher Nervosität sei die Tour lohnenswert gewesen. Viele würden ihm danken, dass er ausspricht, was sich hier kaum jemand traut. Das Münchner Publikum reagiert mit zustimmendem Gemurmel.

„It’s complicated“ – No, it’s not.

Selbstkritisch teilt Thrall, dass er bis er 24 Jahre alt war, fast nichts über die israelische Besatzung wusste. Auch sein „Birthright Trip“ nach Israel änderte nichts daran. „Als ich dort war, habe ich die Besatzung, die Palästinenser, nicht gesehen. Ich war blind.“ Und trotzdem: „Ich habe die Widersprüche gespürt, auch als ich noch nichts wusste.“ Erst als er Palästinenser:innen persönlich kennenlernte, wurde ihm das Unrecht, das ihnen seit über 75 Jahren wiederfährt, bewusst. Allein den Namen „Birthright Trip“ und den Umstand, dass er nur jüdischen Menschen zusteht, während viele palästinensische Menschen trotz Rückkehrrecht nicht einmal heimkehren dürften, empfindet er aus heutiger Sicht als Beleidigung. 

Mittlerweile hat der in Jerusalem lebende Autor tiefe Einsichten in den Konflikt. „Das Ziel des Buches ist es, alle Wege aufzuzeigen, über die die Besatzung wirkt“. Dabei will er mit einer weitverbreiteten Fehlannahme brechen, die er selbst lange verinnerlicht hatte: Der Konflikt sei „zu kompliziert“. Er räumt ein, dass die Besatzung im Westjordanland auf einer Mikroebene kompliziert gestaltet sei. Das äußere sich in ausgeklügelten Straßensperrungen, Check Points, zahlreichen Genehmigungen und die Umsetzung von israelischem Landraub. Israel profitiere davon und habe kein Interesse daran, dieses System zu vereinfachen. Betrachte man die Besatzung jedoch auf einer Makroebene sei es einfach. Um die „ethnische Dominanz“ zu bemerken, müsse man bloß an einer Tour im Westjordanland teilnehmen. Seinen Erfahrungen nach würden insbesondere Gäste aus Südafrika automatisch Vergleiche zur südafrikanischen Apartheid-Politik ziehen – das sei einfach ein „Bauchgefühl“. 

Das Unrecht am eigenen Körper spüren

Genau dieses körperliche Gefühl will Thrall mit seinem Buch bei den Lesenden auslösen. Sie sollen berührt werden, intuitiv die Ungerechtigkeit spüren – und verstehen, wie es sich anfühlt unter den unmenschlichen Umständen der Apartheid zu leben. So viel sei verraten: Das gelingt ihm. Während Prof. Thomalla aus dem Buch vorliest, ist es im Saal mucksmäuschenstill. Vereinzelt hört man Menschen weinen. Man kann sich den realen Alltag dieser Personen im Westjordanland bildlich vorstellen und fühlt mit.

Die tägliche Angst der Eltern um ihre Kinder. Oder die Wut der Helfenden des Busunglücks, dass sie nicht mehr Kinder retten konnten, weil Feuerwehr und Krankenwagen viel zu spät kamen. Oder die Fassungslosigkeit darüber, dass Israelis in den sozialen Medien den Tod der Kinder feierten. Oder die Ohnmacht einer Mutter, wenn ihr Sohn gefangen genommen und gefoltert wird, weil er Steine auf Besatzungssoldaten geworfen hat. Aber man spürt auch die Kraft der Menschen – und ihren Willen, Widerstand zu leisten. 

Thralls Buch "Ein Tag im Leben von Abed Salama" wurde 2024 mit dem Pulitzer-Preis in der Kategorie General Nonfiction ausgezeichnet. Foto: Pendragon Verlag

 

Für Nathan Thrall war das Buch „ein großer Karrierewandel“. Zuvor arbeitete er für die renommierte NGO “International Crisis Group“, verfasste Berichte über die Lage vor Ort, die bei den Vereinten Nationen zitiert wurden, erkannte jedoch, dass er damit die Politik nicht bewegen kann. Zwar könne er die Besatzung mit seinem Buch nicht beenden. Doch möchte Thrall mit der persönlichen, realen Geschichte alle jene Menschen erreichen, die dem Konflikt bisher gleichgültig begegneten. Er wünscht sich, dass das Buch in Familien weitergereicht wird, Gespräche anstößt und Perspektiven verändert.

Es geht nur mit internationalem Druck

Der internationale Diskurs über die Ungerechtigkeit, die den Palästinenser:innen widerfährt, und die öffentliche Wahrnehmung dessen hätten sich bereits gewandelt, so Thrall, aber realpolitisch ändere sich nichts – oder nur sehr langsam. „In den letzten zehn Monaten haben wir mehr Landraub gesehen als in den vorherigen zehn Jahren zusammen“. Eine Lösung des Konfliktes sieht der Autor daher zu seinen Lebzeiten nicht. Natürlich könne man immer überrascht werden, doch anders als damals in Südafrika habe die israelische Regierung noch keinen „boot on their neck“.

Zum Schluss diskutieren Thrall und Feldman die große Frage: Was nun? Thrall sehe langfristig nur zwei mögliche Szenarien: Israel müsse sich zwischen der Gewährung von Souveränität für die Palästinenser:innen über 22 Prozent ihres Heimatlandes oder der Gewährung von Staatsbürgerschaft und Gleichheit entscheiden, da die aktuelle Situation nicht nachhaltig sei. Stattdessen halte Israel den Status quo aufrecht, wobei der Übergang zwischen dem Staat und den besetzten Gebieten „nahtlos“ sei – Israel selbst übe Apartheid aus, nicht nur Siedler:innen oder die extreme Rechte. Daher müsse der internationale Druck auf Israel so lange steigen, bis der Status quo keine rationale Option mehr sei. Leichter gesagt als getan. Auch das Publikum zeigt sich am Ende der Fragerunde sichtlich frustriert. 

Für Thrall ist entscheidend, wen wir wählen, und wie wir uns verhalten. Der Internationale Gerichtshof verpflichtet beispielsweise alle Staaten dazu, die Besatzung nicht zu erleichtern. Auf Basis der IGH-Empfehlung bedeutet das für ihn konkret: „Divest in companies“, die vom Genozid oder der Besatzung profitieren. Feldman ergänzt: „Protest ist nur ein kleiner Teil einer sozialen Bewegung“. Wichtiger sei es, „Safe Spaces“ zu schaffen, in denen sich Menschen mit Transformation wohlfühlen, diskutieren und Gefühle ausdrücken – unabhängig davon, welchen Standpunkt sie vertreten. 

Ein Blick über den deutschen Diskurs und den 7. Oktober hinaus

Dieser Abend war keine gewöhnliche Lesung, eher ein aufrüttelndes Lehrstück über den gesamten Israel-Palästina-Konflikt – und einer dieser Safe Spaces, von denen Feldman sich so viel verspricht. Fast drei Stunden lang hält es die Zuhörenden auf ihren Plätzen. Thrall trifft auf offene Ohren: Alle Anwesenden scheinen das Bedürfnis zu haben, endlich aus dem eingefahrenen deutschen Diskurs auszubrechen, der sich allzu oft um die eigenen Befindlichkeiten dreht.

Auch wenn Thralls Aussagen angesichts eben jenes kritisierten deutschen Diskurses provokant wirken können, weiß er, wovon er spricht. Er untermauert seine Argumente mit großer historischer und politischer Fachexpertise, dem Völkerrecht, Gesprächen mit den Menschen vor Ort und eigenen Erfahrungen aus seinem Leben in Jerusalem. 

Der 7. Oktober oder die aktuelle Situation in Gaza wurden, anders als in allen aktuellen Formaten zur Region, nur am Rand thematisiert. Die Hamas wurde mit keinem Wort erwähnt, was an anderer Stelle kritisiert wurde. Allerdings wurde deutlich: Es geht eben um ein Buch, das nicht nur vor dem 7. Oktober geschrieben wurde, sondern auch die Zustände in den von Israel besetzten Gebieten beleuchtet, unter denen die Menschen seit deutlich längerer Zeit leiden. Die Geschichte von Abed Salama ist eine, die exemplarisch für das völkerrechtswidrige Schicksal steht, das 2,3 Millionen Palästinenser:innen im Westjordanland mit ihm teilen. Extremisten auf beiden Seiten, so Thrall, spielen in seinem Buch keine Rolle. Die Lebensrealität vor Ort werde auch ohne deutlich. Was von diesem Abend hängen bleibt: Der Fehler liegt im System. Ohne ein Ende der israelischen Besatzung wird sich das Leben von Thralls Protagonisten nicht verbessern und ein anhaltender Frieden für die Region in weitere Ferne rücken. 

 

 

 

Jasmin hat PR und Medien- und Kommunikationswissenschaft studiert und interessiert sich sehr für die WANA-Region. Sie setzt sich kritisch mit Stereotypen und Frames in der medialen Berichterstattung, insbesondere über WANA, auseinander und schätzt die vielfältigen Perspektiven bei dis:orient. In ihrer Masterarbeit hat sie empirisch erforscht, wie...
Redigiert von Dorian Jimch, Sören Lembke