Wie kämpft man unter Besatzung für Menschenrechte? Ein Gespräch mit Wesam Ahmad über seine Arbeit bei Al Haq, internationales Recht als soziales Konstrukt und den Kampf um Menschenrechte für alle.
Al Haq dokumentiert seit 1979 Menschenrechtsverletzungen im besetzten palästinensischen Gebiet und setzt sich für die Gerechtigkeit der Opfer ein, unabhängig davon, wer die Täter:innen sind. Die Nichtregierungsorganisation ist zusammen mit anderen palästinensischen Organisationen für den Friedensnobelpreis 2024 nominiert. Wir haben den Leiter des Al Haq-Zentrums, Wesam Ahmad, zum Interview getroffen.
Hallo Wesam, kannst du etwas über dich und deine Arbeit erzählen?
Ich arbeite seit 2006 bei Al Haq und bin Leiter des Al Haq-Zentrums für angewandtes internationales Recht. Al Haq fokussiert sich auf Advocacy und Accountability, also die Interessensvertretung und Pflicht zur Rechenschaft. Unsere Arbeit besteht darin, Völkerrecht in die Praxis umzusetzen und Staaten dazu zu zwingen, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wenn internationales Recht nicht eingehalten wird, fordern wir über verschiedene Mechanismen wie den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), den Internationalen Gerichtshof (IGH) oder nationale Gerichte Rechenschaft ein. Das richtet sich sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen Finanzinstitutionen und multinationale Unternehmen, da sie eine wichtige Rolle in der wirtschaftlichen Anreizstruktur spielen, die die fortgesetzte Kolonisierung Palästinas aufrechterhält. Wo immer sich eine Gelegenheit bietet, die Straflosigkeit Israels anzufechten, ergreifen wir sie.
Derzeit sind zwei Fälle vor dem IGH anhängig: die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel und das IGH-Gutachten auf Basis einer Resolution der UN-Generalversammlung zur andauernden Besatzung. Was denkst du über diese Urteile?
Ich denke, dass die Urteile positiv bewertet werden können. Ich bleibe aber vorsichtig, weil es sich um einen relativen Erfolg handelt. Die Mühlen der Justiz haben sich zu unseren Gunsten gedreht, aber es gibt keine spürbaren Veränderungen vor Ort. Selbst wenn internationale Gerichte Staaten zu bestimmten Maßnahmen auffordern, kann das Gericht selbst die Umsetzung nicht erzwingen. Es bedarf des politischen Willens der Staaten, die Aussagen des Gerichtshofs ernst zu nehmen und die geforderten Maßnahmen umzusetzen. Die Frage ist nun: Inwieweit funktioniert das tatsächlich? Sind diese Mechanismen lediglich Mittel und Wege, ein fehlerhaftes System zu verwalten?
Was genau meinst du mit „fehlerhaftem System“?
Auch im internationalen System ist Recht ein soziales Konstrukt. Als Spiegelbild der globalen Gesellschaft spielen geopolitische Machtdynamiken und staatliche Interessen eine Rolle bei der Entwicklung und Durchsetzung von internationalem Recht. Die Vorstellung, das Recht sei universell und gelte für alle gleichermaßen, wird als Trugschluss entlarvt, wenn man es auf den palästinensischen Kontext anwendet. Es liegt also in unserer Verantwortung, die Mühlen der Justiz zum Mahlen zu bringen. Wenn es nicht funktioniert, decken wir die Probleme im System auf, was schließlich hoffentlich zu einer endgültigen Änderung des Systems oder zur Entwicklung eines alternativen Systems führt.
Mit welchen Herausforderungen sehen sich die Mitarbeitenden von Al Haq konfrontiert?
Es gibt täglich Herausforderungen, mit denen wir zu kämpfen haben: ständige Bedrohungen, Militärpräsenz und Siedlerangriffe. Wir stehen auch vor der Herausforderung, die Informationen von Opfern und Augenzeug:innen zu sichern. Zudem müssen wir den Zeug:innen versichern können, dass sie nicht in Gefahr geraten, wenn sie Informationen an uns weitergeben. Die Menschen vertrauen darauf, dass Al Haq die Informationen richtig einsetzt und alles in seiner Macht Stehende tut, das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung voranzubringen.
Kannst Du einen konkreten Fall beschreiben, an dem du gearbeitet hast?
Der Fall Riwal. In Zusammenarbeit mit einem niederländischen Anwalt und der niederländischen Zivilgesellschaft versuchten wir, gegen ein dort ansässiges Unternehmen, das am Bau der Mauer und der Siedlungen beteiligt war, vorzugehen. Unsere Feldforscher:innen sammelten Informationen über die genauen Einsatzorte der Materialien dieses Unternehmens sowie Zeugenaussagen von Personen, deren Land enteignet oder zerstört wurde. Nachdem die Anzeige eingereicht wurde, gab es tatsächlich eine Razzia in den Büros des Unternehmens in den Niederlanden, um weitere Informationen zu sichern. Das ist ein Teil der strategischen Prozessführung: die Mühlen der Justiz zum Mahlen zu bringen, auch wenn sie am Ende vielleicht nicht zu dem von uns gewünschten Ergebnis führen. In diesem Fall entschied die Staatsanwaltschaft nach einer Wartezeit von etwa drei Jahren, kein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten.
Al Haq wurde 2021 von Israel als „Terrororganisation“ eingestuft. In Folge dessen wurden im Jahr 2022 eure Büroräume durchsucht. Mehrere Mitarbeitende wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verhaftet und inhaftiert. Wie hat sich das auf eure Arbeit ausgewirkt?
Historisch gesehen sind Diffamierungen und der Vorwurf des Terrorismus Instrumente, mit denen Kolonialmächte versuchen, Widerstand zu unterdrücken. Das gibt es nicht nur im palästinensischen Kontext. Es begann mit einer Verleumdungskampagne und falschen Anschuldigungen, die Israel weiterhin versucht, der internationalen Gemeinschaft aufzudrängen. Als das nicht ausreichte, um die Menschen von uns abzuwenden, versuchten sie uns als Terrorist:innen zu verunglimpfen. Das hat viel mit unserer Arbeit beim IStGH und der Verfolgung der Rechenschaftspflicht vor internationalen Rechtssystemen zu tun. Unsere Arbeit stellt somit ein Risiko für ihre kolonialen Bestrebungen dar. Aufgrund der anerkannten und von Glaubwürdigkeit geprägten Arbeit Al Haqs in den letzten 45 Jahren und der tragenden Rolle der palästinensischen Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen hat die gesamte internationale Gemeinschaft den Anschuldigungen Israels keinen Glauben geschenkt.
Die von Israel selbst durchgeführten Untersuchungen genügen nicht, um die Terrorismusvorwürfe zu bestätigen. Selbst die Razzien in unseren Büros haben uns nicht davon abgehalten, unsere Arbeit fortzusetzen. Wir sind uns bewusst, dass die Bedrohung durch israelische Repressionen immer bestehen wird, aber das liegt in der Natur unserer Arbeit.
Wie hat die Situation seit dem 7. Oktober eure Arbeit bei Al Haq verändert?
Sowohl vor als auch nach dem 7. Oktober: Das israelische Kolonialprojekt ist ein anhaltendes. Israel hat die Ereignisse des 7. Oktober dazu genutzt, die Ausweitung dieses Projekt zu beschleunigen. Mit dem Völkermord in Gaza, auf dem zurecht der Fokus liegt, treibt Israel sein koloniales Projekt im Westjordanland weiter voran und konfisziert mehr Land. Dieses Vorgehen ermutigt Siedler:innen zu verstärkten Gewaltaktionen gegen die Bewohner:innen. All das ist Teil des umfassenderen kolonialen Ziels der Auslöschung des palästinensischen Volkes und der Ausbeutung des Landes.
Was treibt euch bei eurer Arbeit an?
Wie schwierig die Dinge auch erscheinen mögen, wir bleiben optimistisch, denn es ist nur die Verschleierung der Wahrheit und die ausbleibende Gerechtigkeit, die Israel dazu verleitet, auf diese barbarische Weise handeln zu können. In der Geschichte gab es immer wieder Hinweise darauf, dass der Zerfall eines Imperiums mit seinem eigenen moralischen Verfall beginnt. Israels Vorgehen in Gaza offenbart diesen Verfall vor der Weltöffentlichkeit. Wir sind daher zuversichtlich, dass es einen Wendepunkt geben wird. Die Gerechtigkeit wird siegen, denn das palästinensische Volk ist aus Überzeugung hier. Die zugrunde liegende Wahrhaftigkeit dieser Überzeugung gibt den Palästinenser:innen die Kraft an ihrem Land festzuhalten.