09.08.2024
Journalismus in Gaza: alleingelassen, diffamiert, bedroht
Seit Monaten werden Journalist:innen in Gaza diffamiert, an ihrer Arbeit gehindert und Opfer tötlicher Angriffe. Zeit, dass die Welt hinsieht. Grafik: Zaide Kutay
Seit Monaten werden Journalist:innen in Gaza diffamiert, an ihrer Arbeit gehindert und Opfer tötlicher Angriffe. Zeit, dass die Welt hinsieht. Grafik: Zaide Kutay

Dutzende Journalist:innen wurden in Gaza getötet, ausländische Medien lässt Israel nach wie vor nicht hinein. Wo bleibt der Aufschrei der deutschen Kolleg:innen? Zeit für einen offenen Brief, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Letzte Woche ist es schon wieder passiert: eine israelische Rakete tötete zwei palästinensische Journalisten in Gaza, die durch Aufschriften an Westen und Helmen eindeutig als Presse gekennzeichnet waren. Der 27-jährige Al-Jazeera-Journalist Ismail al-Ghoul und sein Kameramann Rami al-Refee wurden gezielt beschossen, obwohl Angriffe auf Pressevertreter:innen Kriegsverbrechen sind.

In den gut 300 Tagen seit Beginn der israelischen Militäroffensive in Gaza ist die Lage für Journalist:innen dort gefährlicher geworden als je zuvor – ja, sogar gefährlicher als für ihre Kolleg:innen irgendwo sonst auf der Welt.

Mindestens 113 Journalist:innen wurden seit dem 7. Oktober in Gaza getötet, wie die US-amerikanische Organisation Committee to Protect Journalists (CPJ) dokumentiert. In 350 weiteren Fällen gebe es Hinweise, aber noch nicht ausreichend Informationen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stellt fest, dass mindestens 26 Journalist:innen in Gaza in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet wurden.

Parallel dazu verhindert Israel nach wie vor die Einreise internationaler Medienvertreter:innen. Während Reporter:innen in Gaza also nach und nach dezimiert werden, wird auch die Anzahl derer, die darüber berichten könnten, immer geringer. Dadurch entsteht eine Situation, die nicht nur aus menschlicher Sicht unerträglich ist, sondern auch zutiefst feindselig gegenüber der Pressefreiheit.

Solidarität mit Journalist:innen in Gaza

Wie kann es also sein, dass deutsche Journalist:innen zu diesem Missstand noch immer schweigen? Sicher gibt es Einzelne, die ihr Bestes tun, um zu dokumentieren, zu berichten, sichtbar zu machen – trotz des Drucks, den das aktuell mit sich bringt. Aber ich sehe keine gemeinsamen Statements, Solidaritätsbekundungen oder Proteste.

An dem offenen Brief von über 70 internationalen Medienorganisationen, der fordert, internationalen Journalist:innen Zugang zu Gaza zu geben, war kein deutsches Medium beteiligt. Eine gemeinsame Kritik an der einseitigen Berichterstattung über Gaza wie die von 1500 US-amerikanischen Journalist:innen gab es in Deutschland nicht. Während Lehrkräfte an Berliner Universitäten sich in einem Schreiben für die Versammlungsfreiheit ihrer Studierenden einsetzen, machte die deutsche Journalismusbranche sich nicht öffentlich für die Pressefreiheit stark.

Ganz im Gegenteil: Deutsche Medien wie die Tagesschau gaben unhinterfragt die israelische Behauptung wider, der vergangene Woche getötete Journalist sei ein Hamas-Mitglied gewesen. In einer kompletten Aufgabe aller journalistischen Prinzipien schrieb die WELT zu dem Vorfall sogar: „Israel hat im Gaza-Streifen Hamas-Kämpfer ‚eliminiert‘“. Zum Vergleich: Die Nachrichtenagentur Reuters titelte „Israel tötet einen Al Jazeera Journalisten und behauptet, ohne Beweise, dass er ein Hamas-Agent war“.

Als deutsche Journalist:innen können wir unsere Kolleg:innen vor Ort nicht weiter im Stich lassen. Wir können erst recht nicht akzeptieren, dass sie mit Unterstützung deutscher Medienschaffender als Terrorist:innen diffamiert werden. Es wird Zeit, dass wir uns gemeinsam öffentlich solidarisch mit den Journalist:innen in Gaza zeigen. Diese Kolumne soll nicht nur die massive Bedrohung palästinensischer Journalist:innen durch das israelische Militär kritisieren, sondern ist auch ein Aufruf an gleichgesinnte Kolleg:innen, das nicht weiter unkommentiert geschehen zu lassen.

Worauf wir uns einigen können

Ende Oktober letzten Jahres habe ich darüber geschrieben, wie absurd mir die öffentliche Debatte zum Gaza-Krieg erscheint. Dass es unterschiedliche Wissensstände, Erfahrungen und Sympathien gibt, und dass Menschen daraus ganz unterschiedliche Meinungen generieren, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Aber dass in der Debatte darüber sämtliche Regeln über Bord geworfen werden, die sonst als demokratische Grundlagen gelten, beobachte ich nach wie vor.

Egal, wo man in dieser Debatte politisch steht, so sollte die Freiheit der Presse in Deutschland doch eigentlich unumstritten sein. Wer würde ernsthaft in Frage stellen, dass Journalist:innen, die aus einem Kriegsgebiet berichten, geschützt werden müssen? Dass sie unter keinen Umständen gezielt angegriffen und getötet werden dürfen wie unter anderem der libanesische Reuters-Journalist Issam Abdallah im Dezember? Dass unabhängige Berichterstatter:innen von außen in Konfliktgebiete hineingelassen werden müssen, damit die Weltöffentlichkeit über die Lage vor Ort informiert werden kann? Dass wir alle Zugang zu Informationen brauchen, um uns eine Meinung zu bilden und politisch aktiv zu werden? Dass dafür nicht nur Menschen verantwortlich sein sollten, deren ganze Familie getötet wurde, wie im Falle des palästinensischen Journalisten Wael Dahdouh? Dass ein Staat einen kritischen Journalisten nicht bestrafen darf, indem er seine ganze Familie tötet?

Also, zumindest in journalistischen Kreisen sollte das unumstritten sein, oder?

Damit will ich übrigens nicht sagen, dass die Tötung von Journalist:innen in Gaza das einzige oder größte Problem ist. Vielmehr ist sie ein starkes Indiz dafür, dass dort gerade etwas gewaltig schiefläuft. Weitere Indizien sind die Tötung von medizinischem Personal und Mitarbeiter:innen internationaler Hilfsorganisationen, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser oder auch die schiere Masse ziviler Opfer.

Journalismus bedeutet Herrschaftskritik

Objektivität ist eine der wichtigsten Grundlagen des Journalismus. Für mich bedeutet das, dass ich versuche, ausgewogen über Themen zu berichten, indem ich alle Beteiligten zu Wort kommen lasse und keine Tatsachen unterschlage, nur weil sie mir nicht gefallen. Es bedeutet nicht, keine Haltung zu haben. Ich glaube, die Haltung im Journalismus muss immer machtkritisch sein. Ich glaube sogar, dass das im Kern der Auftrag meines Berufs ist.

Von Journalist:innen, die in Unrechtssystemen arbeiten, können wir also jede Menge lernen. Viele stehen automatisch auf der Seite der politischen Opposition – nicht, weil sie parteiisch sind, sondern weil sie ihren Auftrag darin sehen, die Macht des Staates, der Polizei, der Militärs und Milizen und der Großkonzerne in Frage zu stellen. Dafür riskieren sie inhaftiert, bedroht oder sogar getötet zu werden.

Im Gegensatz dazu beschäftigen sich einige deutsche Journalist:innen aktuell damit, gegen Minderheiten zu hetzen, Privatpersonen zu diffamieren,  staatliche oder militärische Informationen unhinterfragt zu reproduzieren und Angst vor zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen zu schüren, die sie pauschal zu Hamas-Befürwortern erklären. Ich setze hier bewusst keine Links, um diesen Artikeln nicht zu mehr Klicks zu verhelfen.

Diese Journalist:innen haben jeden Bezug zu herrschaftskritischer Berichterstattung verloren. Oder sie hatten nie einen. Worin stattdessen ihr Auftrag liegt, weiß ich nicht.

Mitschreiber:innen gesucht!

Aber zum Glück gibt es in Deutschland ja auch jede Menge Journalist:innen, die allen Schwierigkeiten zum Trotz kritisch zu Gaza recherchieren und berichten. Viele, die keine Expertise zur Region hatten, haben sich in den letzten Monaten informiert und historische Zusammenhänge verstanden. Andere pochen unabhängig von ihren eigenen Ansichten zumindest auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland, und auf die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung. Wieder andere haben mit dem Thema beruflich nichts zu tun, aber horchen auf, wenn in Gaza ein Journalist nach dem anderen getötet wird und die Pressefreiheit auf beispiellose Weise eingeschränkt wird.

Kriegen wir es endlich hin, einen offenen Brief zu schreiben? Ich freue mich über alle, die mitformulieren oder auch unterzeichnen wollen!

Natürlich hilft das niemandem direkt, aber ich glaube, dass es einen Unterschied macht. Erstens ist es immer richtig, Solidarität mit Menschen zu zeigen, die unvorstellbaren Schmerz und Verlust durchleben. Wenn sie es mitbekommen, gibt es ihnen vielleicht einen Funken Hoffnung – jedenfalls mehr, als wenn sie hören, dass Menschen in anderen Ländern nach Gründen suchen, warum ihr Leid und ihr Tod gerechtfertigt sind.

Zweitens ist die Debatte in Deutschland gerade extrem polarisiert und hasserfüllt. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir uns zumindest an ein paar Standpunkte erinnern, auf die die meisten von uns sich einigen können. Wir Journalist:innen haben einen großen Anteil an der öffentlichen Debatte. Wenn wir das tun, was unser Job ist, nämlich Mächtige hinterfragen, verschiedene Perspektiven zu Wort kommen lassen, Missstände klar benennen, dann kann das viele erreichen.

Ich weiß von vielen Journalist:innen, dass sie aktuell sehr verunsichert sind. Sie wollen sich zum Thema Gaza am liebsten gar nicht äußern, weil sie befürchten, als Terror- oder Antisemitismus-Befürworter:innen zu gelten. Ihnen kann so ein offener Brief einen gewissen Anhaltspunkt geben: Andere sehen das ähnlich! Natürlich müssen wir aktuell besonders darauf achten, dass Debatten zu Israel und Palästina keine antisemitische oder antimuslimische Richtung einschlagen. Wir dürfen uns davon aber nicht lähmen lassen, sondern müssen präzise unterscheiden zwischen solchen problematischen Tendenzen und der immer drängenderen Notwendigkeit, das Eskalieren einer humanitären und politischen Katastrophe zu stoppen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich