24.07.2025
Ein Gespräch mit der Cartoonistin Safaa Odah aus Gaza
Zeichnung aus dem Cartoon „Safaa and the tent". Safaa Odah.
Zeichnung aus dem Cartoon „Safaa and the tent". Safaa Odah.

Die anhaltenden militärischen Aktionen durch Israel führen zu einer sich ausbreitenden Ohnmacht unter den Menschen in Gaza. Dennoch gibt es Potenziale der Resilienz und der Kreativität. Martin Gerner im Gespräch mit der Cartoonistin Safaa Odah.  

Zehn Tage nach dem Versuch über das Internet Kontakt mit Safaa Odah aufzunehmen, kann ich ihr endlich ins Gesicht sehen. Wenn auch nur über ein Video, das sie aus dem Gazastreifen schickt. „Hallo, ich bin Safaa Odah. Ich zeichne Karikaturen“, spricht die junge Frau in die Kamera. Für einen Moment bin ich irritiert, ich suche nach einem Zeichenblock oder einem Stift an ihrer Seite. Safaa hat gerade ihr erstes Cartoon-Buch herausgebracht. Erschienen ist es in England, ein britisches Cartoon-Festival präsentiert es auf seiner Webseite.

Das Video aus Gaza zeigt die junge Frau Mitte 20, die angesichts der aktuellen Notlage patent und zugleich angespannt wirkt. Sie sitzt auf einer gefalteten Matratze. Mit dem Finger zeigt sie auf die Plastikplanen über ihrem Kopf. Sie böten kaum Schutz vor der sengenden Sonne, dem Wind und der anhaltenden nächtlichen Kälte. Ihre Stimme spricht gegen das Röhren der Drohnen an, die am Himmel unaufhörlich brummen und alles überwachen: „Nach der Vertreibung meiner Familie aus Rafah bin ich jetzt in Al-Mawasi, einem Vorort von Khan Younis im südlichen Gaza-Streifen. Ich lebe hier in einem Zelt, einer Notunterkunft.“

Ausgehende Vorräte und ständige Angst

Die israelische Kriegsführung drängt seit 2023 immer mehr Menschen in Gaza dazu, Schutz in vermeintlich sicheren Gebieten zu suchen, so auch in Al-Mawasi. Safaa Odah hat mit ihrer Familie bereits mehrfach die Unterkunft wechseln müssen. „Ich lebe in ständiger Angst“, erzählt sie. „Manche Einschläge und Detonationen sind ganz nah. Militärfahrzeuge, die ich sehen kann, sind weniger als einen Kilometer entfernt. Die Ernährungslage ist katastrophal und verschlechtert sich mit jedem Mal, mit dem wir erneut vertreiben werden.“ Internationalen Beobachter:innen in Gaza zufolge sind die Bewohner:innen des Gaza-Streifens innerhalb des andauernden Krieges durchschnittlich fünf Mal vertrieben worden, manche sogar bis zu zehn Mal.

Dann steht Safaa auf und stützt sich kurz auf den Matratzenstapel: „Ich lebe hier mit meinen Eltern und weiteren zwanzig Personen auf engstem Raum. Unsere Essensvorräte gehen zur Neige. Wir wissen nicht, was wir essen sollen, wenn sie aufgebraucht sind.“ Hunger als Waffe? Israel steht deshalb am Pranger. Den Krieg gegen die Hamas zahlt vor allem die Zivilbevölkerung.

Der Krieg treibt Safaa vor sich her, an immer neue Orte auf der Binnenflucht: „Jedes Mal, wenn wir gezwungen sind weiterzuziehen, beginnt ein neues Leben. Man sucht eine Routine darin, soweit das möglich ist. Jeder hat seine Aufgaben: Ich muss kochen oder Handys an den Ladestationen, die oft Kilometer weit entfernt sind, aufladen. Starke Winde zerfetzen derweil die Zeltplanen, Stangen brechen. Unsere Zeltstoffe bezahlen wir selbst, das sind keine Hilfsgüter.“ Ihre Familie habe ein paar Rücklagen für solche Notfälle gebildet, erzählt sie. Über Monate sind keine Zelte in den abgeriegelten Gazastreifen gekommen. In ihrem Zelt in Al-Mawasi gibt es keinen Strom, kein Wasser. Einige bunte Kanister stehen in der Hitze im Schatten der Zeltplanen, daneben alte Gasflaschen, deren Inhalt fast unbezahlbar geworden ist.

Kostbares Zeichenpapier, fehlendes Tablet

Safaa hat einen Masterabschluss in Psychologie. Ihr Talent als Zeichnerin entdeckte sie früh – vor zehn Jahren machte sie aus ihrem Hobby eine Berufung. Sie ist Autodidaktin und hat sich das Zeichnen, wie viele palästinensische Karikaturist:innen, selbst beigebracht. Mohammad Saba’aneh, ein Karikaturist aus der Westbank, erklärt, dass es zurzeit keine Schulen oder Universitäten gebe, die Illustration, Comics oder andere Künste akademisch lehrten.

Bis heute gilt Naji Al-Ali, eine Ikone der palästinensischen Kultur und der Cartoon-Kunst, als Vorbild für aufstrebende Künstler:innen. Seine Werke werden von unzähligen Palästinenser:innen verehrt, sowohl innerhalb Palästinas, als auch in der Diaspora. Naji Al-Ali schuf in den 60er Jahren die Figur des Handala – einem kleinen Jungen, der das palästinensische Volk symbolisieren soll. Ein kahlköpfiges Kind, barfuß und in abgewetzter Kleidung, das den Leser:innen stets den Rücken zukehrt. Die Figur suggeriert für viele kontemplativen Protest. Erst wenn die Vertriebenen wieder in ihrer Heimat sind, wird meine Figur ihr Gesicht zeigen”, pflegte der Autor zu sagen. Er wurde 1987 in London ermordet.

Heute publizieren palästinensische Karikatur-Zeichner:innen in Gaza und in der Westbank, angesichts des Rückgangs gedruckter Erzeugnisse, überwiegend online und über Social Media. Safaa hat rund 45.000 Instagram-Follower:innen. Vor dem Krieg besaß sie ein Tablet: „Ohne mein Tablet zeichne ich jetzt nur noch auf Papier. Ein Fehler kostet mich jedes Mal ein ganzes kostbares Blatt. Früher konnte ich Zeichenfehler sekundenschnell digital ausradieren, Farben einsetzen und korrigieren oder alles wegwischen und neu anfangen. Jetzt geht nichts mehr davon. Das zermürbt mich und macht mich fertig."

Zeichnungen so utopisch wie menschlich

Vor wenigen Wochen ist also Safaas Cartoon-Buch „Safaa and the tent“ erschienen, bestehend aus rund 100 Zeichnungen und kurzen englischen Kommentaren. Es ist auf der Kunsthandels-Website Etsy erhältlich. Eine zweite Auflage ist bereits in Planung. Auf dem Einband heißt es: „Zeichen-Tagebuch von Oktober 2023 bis Dezember 2024“. Eine der Zeichnungen im Buch gleicht einem Selbstportrait: Ein Mädchen im Schlaf, mit Koffer in der Hand und Rucksack auf dem Rücken. Auch nachts oder gar schlafend, suggeriert die Botschaft des Cartoons, gilt es jederzeit für den Notfall gerüstet zu sein. Eine andere Zeichnung zeigt einen Engel, der auf die Erde heruntergestiegen ist, und mit Nadel und Faden versucht den Körper eines Überlebenden wieder zusammenzuflicken. Die Gesichter der Gezeichneten in ihrem Buch sind stets umgeben von Schrecken und Zerstörung. Ihre Züge tragen dabei etwas Sanftes, fast Versöhnliches. Wie ist das möglich, inmitten dieses Schlachtfeldes, das sie täglich umgibt? Und so gilt es für die Leser:innen, die Extreme zu spüren und auszuhalten, die sich in jedem Cartoon bündeln.

Zeichnung aus dem Cartoon "Safaa and the tent". Safaa Odah.

 

Wenn Zeichnen zur Gefahr wird

Wie gefährlich ist es in Gaza und im Westjordanland Karikaturen zu zeichnen? Nada Hodali, Safaas Übersetzerin, nennt das Beispiel des eingangs erwähnten Mohammad Saba’aneh, einem palästinensischen Cartoon-Zeichner aus dem Westjordanland. Er ist 47 Jahre alt und damit ungefähr eine Generation älter als Safaa. Er stammt aus der Gegend von Jenin, lehrt in Ramallah an der Arabisch-Amerikanischen Universität und ist Mitglied des International Cartoonist Rights Network. „Ich wurde inhaftiert wegen meiner Zeichnungen. Sie wurden beschlagnahmt. Erst von Israel, später auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ich wurde auch von islamischen Gruppen, wie der Hamas oder anderen, auf eine schwarze Liste gesetzt.“ Mohammad Saba’aneh geriet also schon vor dem aktuellen Krieg mehrfach in den Fokus beider Seiten.

Auch Safaa Odah in Al-Mawasi zeichnet nicht frei von dem Druck, so ihre Übersetzerin Nada Hodali: „Es ist gefährlich. Safaas Arbeiten erscheinen in palästinensischen sozialen Medien, auf ihrem Facebook- und Instagram-Account. Ihre Zeichnungen kommen an, weil sie nicht politisch sind. Sie sagte unlängst: ‚Wie immer Andere über meine Arbeit denken, ich möchte meiner Stimme Gehör verschaffen.‘“

Ihre Arbeiten erfüllen Saba’aneh mit Stolz: „Safaa zeichnet nicht einfach die Nachrichten nach. Ihre Cartoons leben von persönlichen Erlebnissen des Massakers, von Alltagserfahrungen im Gazastreifen. Sie vermag Bilder zu schaffen, die dem Grauen ein menschliches Antlitz verleihen. Mit wenigen Strichen, berührend, eindringlich.“ Noch etwas fällt auf: In Safaas Zeichnungen ist der Krieg zwar permanent spürbar, zugleich tauchen jene, die den Krieg führen, selten auf. Vielmehr zeichnet sie über die eigene Existenz und Not und über die ihrer Mitmenschen. Mild und mit einem lauten Schrei zugleich. Manchmal fügt Safaa Odah ihren Zeichnungen ein paar Sätze bei – wie am ersten März 2024: „Ich kann nicht mehr: Das zu ertragen was passiert ist, was gerade geschieht und was noch geschehen wird.“

In ihrem Zelt in Al-Mawasi scheint zurzeit alles andere wichtiger – und doch gibt Safaa Odah nicht auf: „Wir leben in einer schrecklichen Zeit. Dennoch zeichne ich weiter. Zeichnen bedeutet für mich Leben. Zeichnen heißt, dass ich noch am Leben bin. Es gibt mir Hoffnung inmitten all der endlosen Kämpfe.“

 

 

 

 

 

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent und Alsharq-Autor. Er berichtet regelmäßig aus Konflikt- und Krisengebieten, Nahen und Mittlerem Osten, der arabischen Welt und Afghanistan. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international ausgezeichnet.
Redigiert von Henriette Raddatz, Martje Abelmann