05.05.2023
15 Kilometer zu Fuß durch die Wüste
Immer mehr Menschen am sogenannten Point Zero an der algerisch-nigrischen Grenze mitten in der Wüste abgeladen. Von dort aus müssen sie sich irgendwie ins nächste Dorf durchschlagen. Die, die ankommen sind meist dehydriert, müde und traumatisiert. Foto: Vincent van Zeijst/wikimedia
Immer mehr Menschen am sogenannten Point Zero an der algerisch-nigrischen Grenze mitten in der Wüste abgeladen. Von dort aus müssen sie sich irgendwie ins nächste Dorf durchschlagen. Die, die ankommen sind meist dehydriert, müde und traumatisiert. Foto: Vincent van Zeijst/wikimedia

Seit einigen Monaten werden wieder verstärkt West- und Zentralafriker:innen aus Algerien abgeschoben und inmitten der nigrischen Wüste ausgesetzt. Die alarmierende Situation kritisiert Dr. Lancinet Toupou, Koordinator von Médecins du Monde im Niger.

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten.

Im Interview mit Dr. Lancinet Toupou, Regionalkoordinator im Niger für Médecins du Monde.

Wie würdest du die aktuelle Situation in und um das Dorf Assamaka im Norden der Region Agadez beschreiben?

Médecins du Monde ist seit 2014 im Niger in der Region Agadez aktiv, genauer gesagt in der Stadt Agadez direkt. Wir verfolgen mit großer Sorge die Ereignisse in der Region. Das Dorf Assamaka befindet sich nahe der algerischen Grenze. Nach ihrer Abschiebung aus Algerien kommen die Personen zunächst dort an, bevor sie von lokalen und humanitären Akteur:innen vor Ort weiter in die Stadt Agadez gebracht werden.

Seit Beginn des Jahres 2023 werden immer mehr Menschen abgeschoben, was die Kapazitäten vor Ort zunehmend übersteigt. Die internationale Organisation für Migration (IOM), Médecins du Monde Belgien (MdM-BE), Ärzte ohne Grenzen, die italienische Organisation Cooperazione Internazionale und weitere Akteur:innen sind vollkommen überfordert mit der Situation. Die Bedarfe an Fachpersonal aber auch an Hilfsgütern, Nahrung, Trinkwasser und sanitären Einrichtungen steigen mit den täglich neu Ankommenden, die sich in äußerst prekären Situationen befinden. 

Wer sind die Personen, die in Assamaka ankommen? 

Es handelt sich hier um sehr unterschiedliche Personengruppen: Männer, Frauen, alleinstehend und mit Kindern, unbegleitete Minderjährige, die teilweise jünger als fünf Jahre alt sind. Sie werden von den algerischen Behörden mitten in der Wüste abgesetzt. Um Assamaka zu erreichen, müssen sie mindestens 15 Kilometer laufen und dies unter widrigsten Bedingungen: Die Temperaturen liegen bei 40 °C und an Schutzkleidung ist nicht zu denken. Ebenso wenig gibt es Schilder oder Wegweiser, an denen sie sich orientieren könnten. Dies führt immer wieder dazu, dass Menschen sich verlaufen, was fatale Folgen haben kann. Die Personen, die in Assamaka ankommen, treffen auf völlig überforderte NGOs und auf vor Ort wartende Menschen, die vor ihnen abgeschoben worden sind und die noch immer keine Unterkunft gefunden haben.

Welche Bedarfe sind aktuell die dringendsten? Und wie versucht ihr, diesen nachzukommen? 

Wir selbst sind völlig überfordert mit der Situation. Dennoch versuchen wir, unsere Aktivitäten und Hilfen untereinander abzustimmen, um die dringendsten Bedarfe zu decken. Der Zugang zu Nahrung und Trinkwasser sind hierfür ein gutes Beispiel. Darauf folgen die medizinischen Bedarfe. Da die Menschen solch hohen Temperaturen ausgesetzt sind, kommen sie häufig völlig erschöpft, dehydriert und übermüdet an. Weil sie häufig seit geraumer Zeit keinen Zugang zu medizinischen Diensten mehr hatten, bieten wir eine erste Untersuchung an und Behandlungen bei Traumata. 

Wir versorgen ebenfalls Menschen in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit. Einige der Menschen, die wir behandeln, haben einen leeren Blick und befinden sich in großer Hilflosigkeit und Not. Einige begreifen nicht, was ihnen widerfährt, darunter nicht selten Kinder. Auch die Erwachsenen empfinden eine gewisse Orientierungslosigkeit: Oft haben sie den Kontakt zu Freund:innen und Familie in Algerien verloren, denn häufig wurde ihnen das Telefon während der Abschiebung entwendet. Auch mit der Familie im Herkunftsland besteht häufig kein Kontakt.

Zwei Psycholog:innen von Médecins du Monde Belgien bemühen sich im Rahmen unserer Projektaktivitäten, die schutzbedürftigsten Personen zu identifizieren. Zu zweit sind sie zuständig für die Versorgung und Untersuchung von tausenden Personen, die zeitgleich am Projektstandort eintreffen, und denen wiederum immer weiter neuankommende Gruppen folgen. Die Zeit, welche für die Behandlung pro Person aufgewendet werden kann, ist also enorm begrenzt. Die Mittel, die uns heute für eine humanitäre Intervention zur Verfügung stehen, sind nicht ausreichend.

Weitere Krankheitsbilder wie starke Kopfschmerzen aber auch Magenbeschwerden kommen ebenfalls häufig vor. Sie werden vor allem durch die mangelnde Ernährung, den Stress und Dehydrierung ausgelöst. Auch dermatologische Probleme bilden sich ab: Wasser sowie Sanitäranlagen sind nur sehr reduziert zugänglich, was zu einer schlechten hygienischen Versorgung führt. 

Wann und wie habt ihr festgestellt, dass die Situation sich zuspitzt und die aktuelle Lage die Dimensionen der letzten Jahre noch übersteigt?

In der Tat handelt es sich bei den Festnahmen und Abschiebungen nicht um ein neues Phänomen. Was sich allerdings verändert hat, sind die hohen Zahlen der Abgeschobenen, welche dazu führen, dass die humanitären Akteur:innen vor Ort es nicht mehr schaffen, die Bedarfe der migrantischen Personen aber auch der Lokalbevölkerung abzudecken. So bietet beispielsweise das Transitzentrum der IOM in Assamaka rund 1400 Plätze. Das Zentrum ist in der aktuellen Situation völlig überfüllt – es suchen 5000 Personen nach Unterkunft, von denen der Großteil also unversorgt bleibt.

Normalerweise werden die abgeschobenen Personen darüber hinaus nach ihrer Ankunft in Assamaka in die Stadt Arlit und dann in die Stadt nach Agadez gebracht. In den vergangenen Wochen und Tagen sind allerdings sehr wenige Personen bis nach Agadez gekommen, da Transportmittel und Unterkünfte auch auf dem Weg dorthin rar sind. Auch diese Entwicklung trägt dazu bei, dass ein Großteil der Menschen in Assamaka bleibt und somit die dortigen Unterkunftskapazitäten absolut ausgereizt sind.

Der rote Punkt markiert das nigrische Dorf Assamaka in der Region Agadez rund 15km von der algerisch-nigrischen Grenze entfernt. Karte Open Street Maps

Wer kümmert sich konkret um den Transport von Assamaka in südlichere Städte sowie die Rückkehr in die jeweiligen Heimatländer?

Die NGOs kümmern sich um zwei unterschiedliche Personengruppen: Nigrische Staatsangehörige werden direkt bis nach Agadez gebracht. Unbegleitete Minderjährige werden von dort aus auf ihre Herkunftsregionen innerhalb des Niger verteilt, während die Erwachsenen sich selbst überlassen sind und in Agadez stranden. Diese Dynamiken führen in der aktuellen Konstellation zu einer humanitären Krisensituation, in der die NGOs die Gewährleistung der Grundbedürfnisse sicherstellen und der Notsituation der Menschen Abhilfe schaffen können.

Nicht-nigrische Staatsangehörige werden durch die IOM versorgt, wenn sie sich für das Programm „Freiwillige Rückkehr“ anmelden (abhängig von freien Kapazitäten in den häufig überfüllten Zentren der IOM). In diesem Falle wird eine Rückreise in die jeweiligen Herkunftsländer der betroffenen Personen organisiert. Seit der COVID19-Pandemie hat sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in den Rückkehrzentren der IOM jedoch mehr als verdoppelt – von einem auf drei Monate.

Niger ist Teil der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) zwischen denen Freizügigkeitsabkommen bestehen und ist seit jeher eine wichtige Transitregion. Wie steht es in diesem Kontext mit der Einhaltung der Rechte auf Freizügigkeit und Mobilität für Westafrikaner:innen?

Die Migrationspolitiken, welche durch unterschiedliche Akteur:innen in der Region umgesetzt und durch die EU unterstützt werden, bedrohen Traditionen der Migration und der Bewegungsfreiheit der lokalen Bevölkerungsgruppen in der Sahelregion. Im nigrischen Kontext leben viele Menschen seit Jahrzehnten von diesen grenzüberschreitenden Mobilitäten. Ziel dieser Bewegungen ist es nicht, nach Europa oder in die EU zu gelangen, sondern saisonal in Algerien, Libyen, im Tschad, in der Elfenbeinküste oder in Mali zu arbeiten.

All diese Dynamiken geraten durch die aktuellen Grenzregime ins Wanken, was wiederum die Lebensgrundlagen diverser Bevölkerungsgruppen des Sahels beeinträchtigt. In diesem Kontext kommt der Externalisierungspolitik der EU [Vor- bzw. Auslagerung von Grenz- und Migrationskontrollen, Anm. d. R.] eine entscheidende Rolle zu, denn sie stehen in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen, die wir heute vor Ort beklagen: Ein Ungleichgewicht in der regionalen Personenmobilität wird forciert, ohne die Auswirkungen auf besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen ausreichend zu berücksichtigen.

Inwiefern ist die lokale Bevölkerung von diesen Ereignissen beeinträchtigt? 

Grade um diesen Aspekt sind wir sehr besorgt, trotz dessen dass die lokale Bevölkerung im Laufe der Zeit gewisse Resilienzmechanismen entwickelt hat. Auch in diesem Kontext kann die aktuelle Belastung der öffentlichen, sanitären und medizinischen Strukturen durch die extrem hohen Zahlen Neuankommender zu erheblichen Spannungen zwischen Lokalbevölkerung und migrantischen Gruppen führen.

Diese Situation wird besonders am Beispiel von Assamaka deutlich, wo die Einwohnerzahlen sich in kürzester Zeit verdoppelt bis fast verdreifacht haben: Das einzige medizinische Versorgungszentrum des Dorfes wird aktuell für die Unterbringung von Migrant:innen genutzt. Daher ist das Zentrum vorübergehend nicht zugänglich für die Lokalbevölkerung und deren medizinische Grundversorgung wie beispielsweise das Impfen von Kindern, die Schwangerschaftsvorsorge oder eine krankheitsbedingte Versorgung.

Darüber hinaus wird auch der öffentliche Raum durch migrantische Personen genutzt wegen mangelnder Unterkunftskapazitäten. Auch dieser Umstand stellt ein Risiko für das Zusammenleben dar ebenso wie für die Gesundheitslage bezüglich des Ausbruchs von Epidemien. Das Verbreitungsrisiko ist in diesem Kontext extrem hoch.

Vor kurzem habt ihr als Médcins du Monde eine Pressemitteilung zur Situation vor Ort veröffentlicht. Was ist euer Anliegen und an wen wendet ihr euch?

Einerseits möchten wir über die Situation vor Ort informieren und sensibilisieren, in Belgien und auf internationaler Ebene, über die inhumanen Lebensbedingungen mit welchen diese Personen konfrontiert sind inmitten der Wüste. Darüber hinaus adressieren wir die EU und appellieren für eine Revision der Migrationspolitiken, die schutzbedürftige Personengruppen besonders schwer treffen. Wir fordern das Einhalten von Menschenrechten und humanitären Völkerrechtsstandards zum Schutze migrierender Personengruppen.

Außerdem wenden wir uns an die Mitgliedsstaaten der ECOWAS, welche durch ihre abgeschobenen Staatsangehörigen betroffen sind. Wir fordern von ihnen, dass Sicherheit, Schutz sowie die Deckung von Grundbedarfen für migrantische Afrikaner:innen im Niger gewährleistet werden. Wir sind sehr besorgt über die aktuelle Situation der im Norden des Nigers festsitzenden migrantischen Personen, die keinerlei humanitäre Versorgung erhalten, obwohl sie darauf ein Anrecht haben. Ihr Schutz muss gewährleistet und die Unantastbarkeit ihrer Menschenwürde dringend umgesetzt werden.

 

 

 

Pauline Fischer hat mehrere Jahre für eine marokkanische Menschenrechtsorganisation u.a. in der Beratung und Advocacyarbeit gegen die Externalisierungspolitik der EU mitgewirkt. Sie interessiert sich für interdisziplinäre Betrachtungen von Zivilgesellschaft und deren Einwirken auf politische Prozesse in Verbindung mit Migrationspolitiken.
Redigiert von Claire DT, Rebecca Spittel
Übersetzt von Pauline Fischer