Acht Jahre kämpften Algerier:innen gegen die koloniale Besatzung. Warum ist die Erinnerung an einen der blutigsten Kriege des 20. Jahrhunderts so wichtig? Unser dis:orient-Dossier sucht Antworten.
1954 begann die algerische Befreiungsrevolution, wie sie im Arabischen bezeichnet wird und forderte hunderttausende Opfer, brachte Kriegsverbrechen, Folter und Vertreibungen mit sich. Diesen Krieg zu erinnern und in den Kontext der Geschichte einzubetten, ist wichtig. Denn er stellt in der französischen und damit auch europäischen Geschichte ein Schlüsselereignis dar, da er den Anfang vom Ende des kolonialen Projekts markiert. Dass die heutigen Erinnerungen an die kolonialen Gräueltaten hinter den Erwartungen zurückbleiben, verdeutlicht, dass die Dekolonisierung ein nicht abgeschlossener Prozess ist.
Die Verbrechen der französischen Kolonialmacht fanden hingegen nicht nur in dem acht Jahre andauernden Unabhängigkeitskrieg statt, sondern bereits während der 132-jährigen Fremdherrschaft über Algerien. Einen Überblick über die Zeit seit der Ankunft der ersten französischen Truppen westlich von Algier 1830 bis zum Beginn des Krieges 1954 gibt Claire DT als Auftakt für dieses Dossier.
Koloniale Kontinuitäten: Algerisch-französische Beziehungen heute
Bis heute sind die algerisch-französischen Beziehungen kontrovers. Während die Wirtschaftseliten im regen Austausch sind, ist das Feindbild Frankreich auch in der algerischen Diaspora präsent. Dass Frankreich seine Kolonialverbrechen bis heute kaum anerkennt, trägt maßgeblich dazu bei.
Im Schatten des Krieges testete Frankreich in der algerischen Wüste Atomwaffen, die große Landstriche verseucht zurückließen und unzählige Menschen radioaktiver Strahlung aussetzten. Dass das französische Testprogramm auch nach der algerischen Unabhängigkeit weiterlaufen konnte, ist nur ein Beispiel dafür, wie koloniale Abhängigkeiten auch nach der offiziellen Unabhängigkeit Algeriens weiter fortbestehen. Frankreich profitiert bis heute wirtschaftlich von seiner ehemaligen Kolonie.
Die Verträge von Évian, die im März 1962 den Waffenstillstand und die algerische Unabhängigkeit besiegelten, räumten französischen Unternehmen Vorrechte in der Förderung von Erdöl und -gas ein. Französische Unternehmen wie Total und engie profitieren davon bis heute und genießen großen Einfluss im Energiesektor.
Verstrickungen mit der BRD
Der Algerienkrieg ist daher nicht nur ein historisches Ereignis, sondern ein Symbol für ungelöste Fragen des Kolonialismus und der Verantwortung Europas. Denn nicht mal ein Jahrzehnt nachdem Frankreich im Zweiten Weltkrieg gegen das faschistische Deutschland siegte und sich mit humanitären Werten brüstete, führte es einen der blutigsten Kriege gegen die algerische Bevölkerung.
Die Nationale Befreiungsfront (FLN) gründete sich im März 1954, bevor sie im November zum Krieg gegen die kolonialen Besatzer aufrief. Sie war gut vernetzt in den Nachbarstaaten und stand in enger Beziehung zu der algerischen Diaspora in Frankreich, die vor allem mit Geldbeschaffungsmaßnahmen betraut war. Die Rolle der algerischen Frauen im antikolonialen Kampf, die häufig in den Hintergrund gedrängt wird, beleuchtet Paula Dahl in ihrem Artikel.
Wichtige Akteur:innen des Widerstandes waren auch Intellektuelle und Oppositionelle in Frankreich und Europa. Sensibilisiert und wachsam durch die Verbrechen der Nazis – viele von ihnen waren in deutschen KZ gefangen gewesen – zogen sie Parallelen mit der Gewalt und dem Vernichtungswahn Nazideutschlands.
Deutschland war auch in den Krieg in Algerien verstrickt: 50.000 Deutsche zwischen 1945 und 1962 auf französischer Seite in Algerien. Teilweise abgeworben aus Kriegsgefangenenlagern, zogen sie von einem Krieg in den nächsten. Doch welche Rolle spielten Algerien und der Algerienkrieg in der Bundesrepublik? Auf die Frage nach politischen Beziehungen und die deutsche Rezeption der Ereignisse findet Lucas Hardt in seinem Artikel Antworten.
Identiätssuche nach der Unabhängigkeit
Die koloniale Befreiung prägt seit jeher die Identität der Algerier:innen. Ausdrücke davon finden sich in der Kunst und Kultur des Landes. Ein prägnantes Beispiel ist die Entwicklung des algerischen Kinos, das bis heute von den heroischen Figuren des Befreiungskampfs bestückt ist. Unser Autor Jamil Zegrer kann dazu viel erzählen.
Die krampfhafte Betonung des antikolonialen Kampfes dient dem heutigen Regime jedoch vor allem als Fassade, um die von der Machtelite mitgetragenen neokoloniale Kontinuitäten zu verdecken. Wie das autoritäre System dieses Narrativ in Legitimationskrisen nutzt, legt Sofian Naceur in seinem Artikel dar und geht dabei auf die aktuellen Herausforderungen des größten Landes Nordafrikas ein, das in dem Wahljahr 2024 Präsidentschaftswahlen abgehalten hat.
Wahlen, die laut Naceur abermals die Niederlage der Protestbewegung Hirak von 2019 verfestigen. Zahlreiche Perspektiven auf den Hirak sammelt ein Textband aus dem Jahr 2023. Er reflektiert die breite, soziale Bewegung, die ganze Familien Woche für Woche auf die Straßen gehen ließ. Der Autor:innen zeichnen einen hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft algerischen Widerstands. Vanessa Barisch hat das Buch rezensiert.