Algerische Frauen haben maßgeblich zum Erfolg des antikolonialen Kampfes beigetragen. Ihr vielfältiges Engagement sollte auch in der Geschichtsschreibung sichtbar sein.
Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt. Bitte sei achtsam mit dir, insbesondere wenn dich dieses Thema betrifft.
Baya Hocine – mit 17 zum Tode verurteilt
„Am Sonntagabend bin ich vom Jugendgericht zum Tode verurteilt worden“ schreibt die damals 17-jährige inhaftierte algerische Unabhängigkeitskämpferin Baya Hocine am 22. Dezember 1957 in ein Notizheft, welches sie heimlich im Gefängnis führt. Am 10. Februar 1957 legte die damals 16-jährige Baya Hocine eine Bombe im El Biar Stadion in Algier. Zur selben Zeit platzierte ihre Mitkämpferin Djehor Akrour eine weitere Bombe im Stade municipal d’Alger, im Stadtviertel Belcourt (heute: Stade du 20-Août-1955), circa fünf Kilometer entfernt. Bei den Anschlägen wurden mindestens 9 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Gut zwei Wochen später wurden beide Frauen verhaftet. Baya sei „die jüngste zum Tode verurteilte Terroristin der Welt [...]“, schreibt eine Mitinhaftierte ihr wenig später in einem Brief. Im Zuge der Verträge von Évian 1962 wurden beide Frauen begnadigt, die vier männlichen Kämpfer ihrer Zelle waren bereits vorher exekutiert worden. Insgesamt haben sieben Frauen für ihre Aktivitäten im algerischen Unabhängigkeitskampf das Todesurteil verhängt bekommen.
Hocine und Akrour sind zwei von vielen Frauen, die im algerischen Unabhängigkeitskampf aktiv waren. Obwohl beim Ministerium für Märtyrer und Verwundete (Ministère des Moudjahidine) offiziell nur 3,1 % aller erfassten Kämpfer:innen Frauen sind, prägten sie den algerischen Unabhängigkeitskampf signifikant. Die geringe Prozentzahl wird, etwa von der algerischen Historikerin Djamila Amrane, unter anderem darauf zurückgeführt, dass weibliches Engagement seltener anerkannt wird. Ebenso trügen die hohen bürokratischen Hürden, sich offiziell als Veteranin erfassen zu lassen, dazu bei.
Die Geschichten algerischer Unabhängigkeitskämpferinnen widersprechen dem weitverbreiteten Narrativ, in dem Frauen als friedlich, schützend, mütterlich, passiv, häuslich und unpolitisch konstruiert werden. In ihren Autobiografien, Flugschriften, Tagebüchern, Briefen und Interviews berichten sie von ihrem Engagement und demonstrieren, wie sie als Frauen antikolonialen Widerstand ausgeübt haben, wie sie sich selbst als Freiheitskämpferinnen wahrnehmen.
Aktiv in allen Bereichen
Amranes historischer Analyse folgend, können die Aktivistinnen in drei Kategorien aufgeteilt werden: erstens gibt es die fidayate, urbane Guerillakämpferinnen wie Hocine und Akrour; zweitens die moudjahidate, Guerillakämpferinnen in ländlichen Gegenden, sie werden auch maquisardes genannt. Der Begriff geht zurück auf das französische Wort maquis, wörtlich „Unterholz“ und wurde vor allem als Bezeichnung für die Résistance-Kämpfer:innen während des Zweiten Weltkrieges geprägt. Drittens gibt es die moussebilate, zivile Aktivistinnen, die sich vor allem um die Versorgung der Unabhängigkeitskämpfer:innen kümmerten und gesuchte Personen versteckten.
Dabei sind die Grenzen zwischen den Bereichen fließend und viele Frauen betätigen sich im Laufe ihres Aktivismus auf verschiedene Art und Weise. Auch Baya Hocine beschreibt diese Vielfältigkeit weiblichen Engagements in ihren Gefängnisnotizen: „Wir sind viele. Wir haben alle für dieselbe Sache gekämpft, jede auf ihre Weise. Wir sind Studentinnen, Medizinerinnen, Rechtswissenschaftlerinnen, Literaturlehrerinnen, Pharmazeutikerinnen, Gewerkschaftsführerinnen, alte Musliminnen.“
Im Bombennetzwerk
Wie vielfältig sich Frauen im Unabhängigkeitskampf engagiert haben, zeigen die von ihnen hinterlassenen Dokumentationen ihres Kampfes. Neben Hocine’s Notizen gibt es zahlreiche weitere Berichte junger Frauen, die sich im (bewaffneten) antikolonialen Widerstand engagiert haben. So berichtet etwa Zohra Drif in ihren Mémoires d’une combattante de l’ALN: zone autonome d’Alger (dt.: Memoiren einer Kämpferin der ALN: autonome Zone Algier) aus dem Jahr 2013 davon, wie sie zusammen mit Samia Lakhdari und Djamila Bouhired Bomben in Cafés der französischen Viertel Algiers gelegt hat. Die damals 22-jährige Drif gilt als eine der Hauptakteur:innen des Bombennetzwerks unter der Leitung von Yacef Saâdi, welches zwischen November 1956 und Oktober 1957 maßgeblich die „Schlacht um Algier“ führte.
Dann ist da noch Hassiba Ben Bouali, eine Berühmtheit in Algerien, nach der eine der größten Straßen Algiers sowie eine Universität benannt sind. Als gelernte Krankenschwester versorgte sie zunächst FLN-Kämpfer:innen, die in Gefechten mit dem französischen Militär verletzt worden waren. Während der „Schlacht um Algier“ trat auch sie dem Bombennetzwerk bei. Am 8. Oktober 1957 wurde sie im Alter von 19 Jahren ermordet, als französische Spezialkräfte ihr Versteck in die Luft sprengten. Drei weitere Unabhängigkeitskämpfer, darunter der 12 Jahre alte Omar, kamen dabei ums Leben.
Kreativ, einfallsreich, widerständig
Weiter fungierten zahlreiche Frauen als agentes de liaison, Vermittlerinnen, welche Informationen oder verbotene Objekte transportierten und teilweise auch Unterschlüpfe für gesuchte Kämpfer:innen vermittelten. Die strengen Kontrollen durch französische Soldaten erforderten immer neue und kreative Transportideen. So beschreibt die algerische Unabhängigkeitskämpferin Louisette Ighilahriz in ihrer Autobiografie Algérienne (2001), wie sie, ihre Schwestern und ihre Mutter nach der Verhaftung des Vaters die Bäckerei ihrer Familie nutzten. Sie höhlten Brote aus und versteckten darin Geld, Waffen, Medikamente und Nachrichten. So schafften sie es, Informationen und Gegenstände unentdeckt an andere Unabhängigkeitskämpfer:innen weiterzugeben.
Ighilahriz erzählt in ihrem Buch auch, wie ihr französisches Aussehen dabei geholfen hat, nicht kontrolliert zu werden, da sie von den französischen Soldaten als ungefährlich eingestuft wurde. Das machte sich die Unabhängigkeitsbewegung zunutze. Einige Frauen, beispielsweise Drif, Bouhired und Lakhdari, kleideten sich für ihre Anschläge bewusst europäisch und färbten sich sogar die Haare heller.
Auch die Schwester von Louisette Ighilahriz, Malika, war im Unabhängigkeitskampf aktiv. Nachdem diese jedoch am 8. Juli 1957 verhaftet und gefoltert worden war, ging Louisette Ighilahriz in den Untergrund und Ende August 1957 schließlich in den maquis, dem ländlichen Guerillakampf. Sie schreibt, dass sie dort die einzige weibliche Kämpferin gewesen sei. Im urbanen Kampf übten Algerier:innen in Bombennetzwerken Gewalt in Form von Attentaten und Terroranschlägen aus. Im ländlichen Raum hingegen kämpften französische Soldaten und uniformierte algerische FLN-Kämpfer im bergigen Gebiet in direkten Gefechten gegeneinander oder griffen die Stellungen des jeweils anderen an.
Ighilahriz berichtet aber auch von den anderen Frauen im maquis, denjenigen, die als moussebilate kategorisiert werden können, und die für den Unabhängigkeitskampf von unverzichtbarer Bedeutung waren. Sie erzählt von den Frauen aus den ländlichen Regionen, die für die bewaffneten Widerstandskämpfer:innen gekocht, gewaschen und genäht haben; den Frauen, die den Alarm ausgelöst und die algerischen Kämpfer:innen versteckt haben, wenn französische Soldaten kamen. Es waren außerdem häufig Frauen, die inhaftierte Kämpfer:innen mit Wäsche, Kleidung und zusätzlicher Nahrung versorgten.
Algerische Frauen und Frankreich
Es waren ebenso Algerierinnen, welche die systematischen Folterungen durch das französische Militär zum Thema der französischen Öffentlichkeit machten. So die damals 22-jährige FLN-Kämpferin Djamila Boupacha. Sie war nach ihrer Verhaftung in der Nacht vom 10. auf den 11. Februar 1960 von französischen Militärs ins Folterzentrum El Biar in Algier gebracht worden. Dort wurde sie wochenlang mit Stromschlägen gefoltert und mit einer Flasche vergewaltigt, wie sie selbst vor Gericht berichtete. Boupachas Anwältin Gisèle Halimi startete eine Medienkampagne rund um den Fall, um auf die grausamen Methoden der französischen Armee aufmerksam zu machen.
Am 2. Juni 1960 berichtete die französische Intellektuelle Simone de Beauvoir in der Zeitung Le Monde über Boupachas Prozess und erregte damit enorme Aufmerksamkeit für den Fall. Der damalige Premierminister Michel Debré ließ die Ausgabe der Zeitung in Algier beschlagnahmen. De Beauvoir und Halimi brachten das Buch Pour Djamila (1962) heraus, dessen Cover kein Geringerer als Pablo Picasso gestaltete, und gründeten das Comité pour Djamila Boupacha, dem sich diverse bekannte europäische Intellektuelle und ehemalige Résistance-Kämpfer:innen anschlossen. Obwohl Boupachas Geständnis erwiesenermaßen durch Folter erzwungen worden war, wurde sie im Juni 1961 zum Tode verurteilt. Mit den Verträgen von Évian wurde sie begnadigt, jedoch wurden im Zuge dieser auch jegliche juristische Verfolgung ihrer Folterer eingestellt.
Nicht das Ende?
Obwohl viele Algerierinnen nach der Unabhängigkeit wenig Macht in Aufbau und Gestaltung Algeriens hatten, engagierten und engagieren sich einige noch weiter politisch. Dabei haben sie sich, etwa im Kampf für Frauenrechte, regelmäßig auf die Rolle der Frauen im nationalen Befreiungskampf berufen. Zohra Drif kämpft gegen Gesetze wie den Frauen bevormundenden Code de la famille im „Namen der Frauen, die ihr Leben für dieses Land geopfert haben“. Ihr Engagement und ihre Bezugnahme darauf sind ein Beispiel dafür, wie algerische Frauen ihre politische Handlungsmacht auch heute aus dem Unabhängigkeitskampf heraus demonstrieren.