20.07.2025
„Fanon ist ein Kind der heutigen Zeit“
Frantz Fanon - ein Portrait von Alice Cherki. Foto: Nautilus Verlag.
Frantz Fanon - ein Portrait von Alice Cherki. Foto: Nautilus Verlag.

Alice Cherki zeichnet ein persönliches Bild des Psychiaters, Schriftstellers und Revolutionärs Frantz Fanon. An seinem 100. Geburtstag erinnern wir uns und schöpfen Kraft aus seinem unermüdlichen Glauben an die Befreiung der Menschen. 

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Wer ihm begegnet ist, erinnert sich […] unausweichlich an die Intensität seiner Präsenz, an sein schallendes Lachen, an seine Ausstrahlung und seine Großzügigkeit.“

Alice Cherki, die 89-jährige Psychoanalytikerin, veröffentlichte im Jahr 2000 zum ersten Mal das Portrait ihres ehemaligen Kollegen und Freundes. Vor Kurzem ist Frantz Fanon – Ein Portrait (2025) in deutscher Neuausgabe mit einem Vorwort von Natasha A. Kelly, der Autorin von Schwarz. Deutsch. Weiblich, und ergänzendem Nachwort Cherkis im Nautilus Verlag erschienen.  

Cherki ist Frantz Fanon (1925-1961) zum ersten Mal in Blida begegnet, einer algerischen Großstadt südwestlich von Algier. Dort leitete Fanon ab 1953 eine Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses, revolutionierte die Behandlungsmethoden und führte eine „Sozialtherapie“ ein.

Im kolonialen Algerien herrschten in der Psychiatrie die Lehren der „Schule von Algier“, einer auf der französischen Kolonialideologie basierenden Theorie, „die den nordafrikanischen Indigenen als einen primitiven Menschen sieht, dessen Gehirn anatomisch unterentwickelt sei“. Fanon sei schockiert gewesen von den Zuständen in der Klinik: „überbelebte Abteilungen mit beschäftigungslosen, ungepflegten Patienten […] die Unruhigsten sind an ihrem Bett festgebunden und manche sogar an Bäumen im Park“. 

Die Ideologie des Hausherrn

Fanon, geboren 1925 auf Martinique, damals ebenfalls eine französische Kolonie, brauchte nicht erst die Umstände in Algerien zu beobachten, um zu erkennen, dass das koloniale System ihn als Schwarzen Mann und als Kolonisierten nicht gleichwertig behandelt.    

Nachdem der junge Fanon sich 1944 der Freien Französischen Armee im Kampf gegen den deutschen Faschismus anschloss, um für die „Würde und die Freiheit des Menschen“ zu kämpfen, lässt die Enttäuschung nicht lange auf sich warten. In einem Brief, den er ein Jahr nach seiner Abreise schrieb, zieht er eine bittere Bilanz: 

„Warum? Um ein überholtes Ideal zu verteidigen […]. Ich zweifle an allem, sogar an mir selbst. Falls ich nicht zurückkehren sollte, […] sagt nie: er ist für die gute Sache gestorben […]; denn diese falsche Ideologie, dieser Schutzschild der Laizisten und der dummen Politiker, soll uns nicht mehr zum Vorbild dienen. Ich habe mich geirrt! Nichts hier, nichts rechtfertigt diese plötzliche Entscheidung, mich zum Verteidiger der Interessen des Hausherrn zu machen, wenn er selbst darauf pfeift.“ 

Während des Zweiten Weltkrieges kommt Fanon zum ersten Mal nach Nordafrika und Algerien. Nach dem Krieg wird er jedoch zuerst nach Martinique zurückkehren, sein Abitur machen und sich entscheiden, zum Studium nach Frankreich zu gehen. Auf Martinique gab es damals noch keine Universität. 

Ein unermüdlicher Glaube an den Menschen

Bereits in dieser Zeit seines Lebens sieht Cherki in Fanon das „ständige Schwanken zwischen der Enttäuschung über die Menschen und dem unaufhörlichen Glauben an sie, ja der Liebe zu ihnen, […] zwischen dem ‚Nein‘-Sagen, dem, was man heute Aufruf zum zivilen Ungehorsam nennen würde, und der Suche nach einem ‚Ja‘ als Bindeglied.“ Seine Erfahrungen im Krieg sowie der Rassismus in der französischen Gesellschaft, den Fanon während seines Studiums in Lyon erlebte, prägten sein erstes Buch: Schwarze Haut, weiße Maske (1952). 

Auch wenn das Buch bis heute gelesen und besprochen wird, so habe Fanon nach seiner Ankunft 1953 in Algerien kaum noch darüber geredet. Fortan beschäftigten ihn andere Dinge. Algerien, eine Siedlerkolonie mit über einer Million angesiedelter Franzosen, die auf der gesellschaftlichen Leiter ganz oben standen, denen Land und Produktionsmittel gehörten und denen die schönsten Häuser und Stadtviertel zu eigen waren. Frankreich verstand Algerien als Teil seines Landes, der indigenen Bevölkerung wurde dabei jedoch kein Platz zugesprochen. „Die Segregation war unerbittlich, die Barriere unaussprechlich, nicht formulierbar“, schreibt Cherki. Die Herrschaft der französischen Kultur und Sprache marginalisierte „die anderen Sprachen, insbesondere das Arabische und das Tamazight, kulturelle und historische Bezugspunkte von neun Zehnteln der Bevölkerung […]. Als verachtete Kulturen wurden sie zur Klandestinität oder zur Akkulturation verdammt“. 

Der einzige Weg ist die Unabhängigkeit

Alice Cherki, die 1936 in Algier als Tochter einer jüdischen Familie geboren wurden, hat diese Zeit persönlich erlebt. Sie war Teil der segregierten Gesellschaft, in der sich die jüdische Bevölkerung Algeriens zwischen „Assimilation und Ausgrenzung“ befand. Cherki gibt uns Einblicke in eine Geschichte, die nicht nur die des antillanischen Fanons ist, sondern auch die von Algeriens Unabhängigkeitskampf, dem Fanon sein gesamtes späteres Leben gewidmet hat. Cherki verfolgt in ihrem Buch die Debatten algerischer Intellektueller und die Entwicklung der politischen Unabhängigkeitsbewegungen, zu denen der junge Psychiater in Blida damals noch keinen Kontakt hatte. 

Dennoch war Fanon bereits politisch und aktiv. Er entwickelt Behandlungsmethoden, die sich bewusst von den französischen Denkmustern distanzierten. Denn auch wenn Fanon stets einen objektivierenden Kulturalismus ablehnte, so erkannte er, dass kulturelle Bezugs- und Orientierungspunkte für die Befreiung des Menschen – für ihn das zentrale Ziel der Psychologie – eine wichtige Rolle spielen. Fanon versuchte das unter anderem am Beispiel des Auffassungstest zu beweisen. Den Patient:innen wurden damals Bilder vorgelegt, die als Inspirationsquelle für Geschichten aus ihrem Leben dienen sollten. Da die Bilder lediglich christlich-europäische Symboliken zeigten, die weit außerhalb der Realität der meist bäuerlichen algerischen Patient:innen lagen, festigten die Ergebnisse stets das vorherrschende Urteil über Indigene: „arm an Vorstellungskraft“. Fanon begab sich für die Entwicklung neuer Therapiemethoden regelmäßig in den ländlichen Raum Algeriens, um über Kultur und Traditionen der lokalen Bevölkerung zu lernen.

Die Fertigstellung von neuen Bildtafeln wurde im Jahr 1956 jedoch unterbrochen. Es war das „Jahr der Brüche“, in dem die Gewalt in Algerien eskalierte, sich der algerische Widerstand stärker formierte und neue Bündnisse schloss. Aus Fanons anfänglichem Engagement in der medizinischen Versorgung der algerischen Unabhängigkeitskämpfer:innen wurde schnell eine weitreichendere politische Aktivität. Er nahm Kontakt zu den führenden Köpfen der FLN (Nationale Befreiungsfront) auf und sollte bis an sein Lebensende dem organisierten algerischen Widerstand treu bleiben.  

Für eine afrikanische Revolution

Nachdem er Algerien Ende 1956 verlassen muss, geht der damals 31-jährige Fanon nach Tunis, wo er in der Presseabteilung der FLN zu arbeiten beginnt. Viele seiner für El Moujahid, die damals die Untergrundzeitung der FLN war und heute algerische Tageszeitung ist, entstandenen Texte sind in dem Buch „Für eine afrikanische Revolution“ (1964) veröffentlicht. Der Titel deutet bereits an, in welche Richtung sich Fanons politische Ideen entwickelten: Als vehementer Vertreter des panafrikanischen Widerstands, wollte sich Fanon nicht länger mit der französischen Linken abgeben, deren Ignoranz gegenüber der antikolonialen Bewegung in Algerien ihn frustrierte. Er vernetzte sich als Botschafter des kämpfenden Algeriens mit den Unabhängigkeitsbewegungen auf dem gesamten Kontinent, traf Patrice Lumumba (1925-1961) aus dem Kongo, Kwame Nkrumah (1909-1972) aus Ghana und beobachtete die Wege der Befreiung verschiedener Staaten aus der kolonialen Situation. 

Fanon wusste, dass es eine umfassende Dekolonisierung braucht, um sich aus der kolonialen Herrschaft zu befreien, die sich tief in die afrikanischen Gesellschaften gegraben hat. Und Fanon ist zunehmend frustriert. Er sieht, wie neokoloniale Strukturen entstehen, wie die alten Kolonialmächte ihre Macht verteidigen und neue lokale Eliten den Dekolonisierungsprozess im Keim ersticken. Fanon beobachtet auch mit Sorge die Machtkämpfe in den eigenen Reihen.  Er warnt. 

Fanon heute

Diese Warnungen, die sich überwiegend in seinem letzten Buch „Die Verdammten dieser Erde“ finden, sind bis heute aktuell. Alice Cherki versucht – besonders mit dieser Neuausgabe ihres Portraits – Fanons Lehren auf die Gegenwart zu beziehen. Sie kritisiert Europa und seine „radikalen westlichen Werte“– wenn auch nicht so vehement, wie Fanon es heute vermutlich getan hätte.

Doch sie hält sich nicht lange mit politischen Analysen auf, sondern fokussiert sich auf die subjektiven Erfahrungen marginalisierter Personen, vor allem in der heutigen französischen Gesellschaft. Sie spricht vom Schweigen, von der fehlenden Anerkennung der kolonialen Erfahrung, welche über Generationen weitergegeben wird. Und sie stellt immer wieder Fanons Suche nach dem Universellen heraus. Weil Fanon für eine „Kultur in Bewegung“ steht, die ihren eigenen Weg in die Moderne findet, ohne in einer Ursprungskultur zu erstarren, sieht Cherki ihn als „Kind der heutigen Zeit“. 

Cherkis Portrait ist durchzogen von großer Zuneigung und den Respekt vor einem Menschen, den sie persönlich gekannt hat und den sie vor verkürzten Interpretationen und falschen Vorwürfen mit ihrem Buch zu schützen versucht. Cherki verwebt Fanons Persönlichkeit, seine Erfahrungen, mit seinen Ideen, einem beruflichen und revolutionären Schaffen. Sie versucht in ihrem Buch deutlich zu machen, dass der Psychologe Frantz Fanon, nicht zu trennen ist von Fanon, dem Aktivisten oder Fanon, dem Schriftsteller. Ihr Portrait gibt einen sehr emotionalen Einblick in die Persönlichkeit eines Menschen, der uns lehren kann, utopisch zu denken. Fanons unerschütterlicher Glauben an die Möglichkeiten politischer Veränderung, so düster und gewaltvoll die Umstände auch sein mögen, kann uns Hoffnung schenken.  

Alice Cherki: Frantz Fanon – Ein Portrait. Edition Nautilus, Hamburg, 400 Seiten, 26 Euro, 2024.

 

 

 

 

Hannah Jagemast hat Arabistik und Islamwissenschaft in Leipzig und Tunis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin mit Fokus auf Tunesien, Nordafrika, soziale Bewegungen und koloniale Kontinuitäten. Seit 2022 studiert sie den M. Sc. Journalismus in Leipzig.
Redigiert von Filiz Yildirim, Vanessa Barisch