Auch 2024 sind Wahlen in Algerien nicht mehr als schlecht inszeniertes Theater, um dem Regime einen Hauch formeller Legitimität zu verleihen. Wählen geht kaum jemand, stattdessen explodieren reguläre und irreguläre Migration.
Wieder einmal endet in Algerien ein Urnengang mit dem Erdrutschwahlsieg eines amtierenden Staatschefs. Wieder einmal blieb die von ihrer politischen Führung desillusionierte und überwiegend jugendliche Bevölkerung weitgehend geschlossen den Wahlurnen fern. Und wieder einmal hagelt es seitens oppositioneller Parteien, Aktivist:innen und der Jugend nur so an Manipulationsvorwürfen gegenüber algerischer Wahl- und Regierungsbehörden. Die Präsidentschaftswahlen vom 7. September 2024 machen damit abermals unmissverständlich klar: der Volksaufstand der Protestbewegung Hirak (Arabisch für „Bewegung“) von 2019 ist praktisch ergebnislos versandet, die Macht des Militärs ungebrochen.
Algier – in den 1960er und 70er Jahren ein Magnet für anti-koloniale Widerstandsgruppen und damals weitläufig gepriesen als „Mekka der Revolutionäre“ – wird also weiterhin regiert von einer vom Gasexport abhängigen Kaste visionsloser und autoritärer Generäle und ihrer zivilen Aushängeschilder wie dem amtierenden Präsidenten Abdelmajid Tebboune. Wahlen sind weder frei noch fair, deren Ergebnisse bereits im Vorfeld des jeweiligen Urnengangs bekannt. Wie bei praktisch jeder Abstimmung seit den 1990ern wurden auch 2024 die Angaben zur Wahlbeteiligung in großem Stil manipuliert. Algeriens politische Führung um den nun „wiedergewählten“ Staatschef Tebboune versucht so den Anschein zu erwecken, sie habe durch die Teilnahme der Bevölkerung an der Maskerade zumindest einen Hauch an formeller Legitimation errungen. Nach den offiziellen, aber wenig glaubwürdigen Endergebnissen gewann Tebboune die Abstimmung mit rund 84% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 46,1%.
Inkonsequente Dekolonisierung
Das post-koloniale Algerien hat es nicht geschafft, sich von einem neo-kolonialen und zutiefst undemokratischen Regierungssystem zu befreien und konnte auch den tiefgreifende ökonomische, außenwirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach sich ziehenden Ressourcenfluch nicht überwinden. Damit gemeint ist die Dominanz der Öl- und Gasindustrie, die in der algerischen Wirtschaft Anstrengungen zur Industrialisierung und Importsubstitution strukturell verhindert. Schon in den 1960er Jahren hatten der erste Präsident des unabhängigen Ghanas, Kwame Nkrumah, Trinidads Ex-Regierungschef Eric Williams oder der zeitweilig prominente Propagandist der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN (Nationale Befreiungsfront), Frantz Fanon, vor einer inkonsistenten und inkonsequenten Dekolonisierung gewarnt. Sie würde das System an sich nicht stürzen, sondern lediglich die steuernde Elite austauschen. Heute finden sich weiterhin unzählige post-koloniale Staaten in genau dieser Situation wieder – Algerien ist kein Einzelfall.
Für den Machterhalt zentral ist demnach die Frage, wie sich die jeweiligen post-kolonialen Eliten an der Staatsspitze legitimieren – innerhalb der Gesellschaft, aber auch regional und international. Die fragmentierte Staatselite in Algier versucht derweil weiterhin einen elementaren Teil ihrer Legitimität – zumindest rhetorisch – aus dem erfolgreichen Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft und dem Ende des blutigen algerischen Bürgerkrieges der 1990er zu ziehen. Für Algeriens jugendliche Bevölkerung aber spielt diese gebetsmühlenartig von den Regierenden wiederholte Heldensage des Unabhängigkeitskriegs der 1950er kaum eine Rolle mehr. Einzig die unter Tebboune wieder partiell priorisierte Sozialpolitik der Regierung vermag es heute, in Teilen der Gesellschaft ein gewisses Wohlwollen gegenüber den Eliten herzustellen.
Tebbounes „neues Algerien“
Weil die Versprechen mittels neuer Infrastrukturprojekte und dem Ausbau extraktiver Industrien im Land Arbeitsplätze zu schaffen wenig überzeugten, setzte die Regierung des 78-jährigen Ex-Wohnungsbau- und Premierministers vor allem deshalb auf eine Erhöhung der Sozialausgaben. So verabschiedete die Regierung Tebboune schon 2021 einen Schuldenerlass für junge Menschen, die staatliche Unternehmensgründungskredite in Anspruch genommen hatten ohne diese bedienen zu können. Im Folgejahr begannen die Behörden erstmals ein Arbeitslosengeld in Höhe von umgerechnet 90 Euro an jene Menschen auszuzahlen, die bisher nie ein formelles Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind – das Durchschnittsgehalt liegt bei etwa 200 Euro. Zusätzlich wurden Löhne und Pensionen für rund drei Millionen Staatsbedienstete im Land erhöht.
Mit derlei Maßnahmen konnte sich Tebboune in der Tat ein gewisses Maß an sozialem Frieden im Land erkaufen. Gleichzeitig sorgen Polizei- und Militärapparat sowie die Justiz seit 2020 für Ruhe auf Algeriens Straßen und regieren mit Zuckerbrot und Peitsche. Erst 2019 hatte die Kandidatur des seit eines Schlaganfalls an den Rollstuhl gefesselten Abdelaziz Bouteflika für ein fünftes Mandat einen landesweiten Volksaufstand ausgelöst. Nach wochenlangen Massenprotesten ließ das von Armee und Staatsbürokratie getragene Regime den alternden Bouteflika als ziviles Aushängeschild der herrschenden Klasse kurzerhand fallen. Doch die Protestbewegung Hirak wollte sich nicht mit oberflächlichen Personalrochaden an der Staatsspitze zufriedengeben und demonstrierte weiter für einen Systemwechsel und ein Ende der klientelistischen Regentschaft einer von Polizei und Militär gestützten Elite. Das Regime saß die Proteste jedoch aus, installierte Ende 2019 Tebboune im Präsidentenpalast und nutze schließlich die Corona-Pandemie, um den Hirak von der Straße zu treiben.
Heute, rund fünf Jahre nach Beginn der Revolte, ist klar: Die während der 20 Jahre währenden Bouteflika-Ära hart erkämpften Freiräume sind vorerst passé. Oppositionelle NGOs und Parteien werden verboten, Dissident:innen ins Ausland gedrängt oder eingeschüchtert und regimekritische Äußerungen online und auf der Straße kriminalisiert. Das wieder fest im Sattel sitzende Militär- und Geheimdienstestablishment hat es geschafft, das Regime nach den Wirren von 2019 personell neu aufzustellen und die eigenen Ränge zu säubern – ohne auch nur einen Hauch an progressiver Wende zuzulassen. Bouteflikas ehemalige Gefolgsleute in Militär, Parteien und Staatsbürokratie wanderten zwar ins Gefängnis oder flohen, doch der während der Hirak-Proteste zum Armeechef ernannte Saïd Chengriha vermochte es gemeinsam mit Präsident Tebboune, die internen Kämpfe zwischen den verschiedenen Regimefraktionen in ruhigere Gewässer zu lenken. Mittels ihrer Sozialpolitik konnten sie die jugendlichen Gemüter im Land bisher beruhigen.
Visionsloses Regime, florierende Migration
In – je nach Lesart – tragischer oder absurder Manier ist Algerien damit jedoch seit dem Scheitern des Hirak zu einem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Status quo zurückgekehrt, den man bereits bestens aus den Bouteflika-Jahren kennt. Regiert wird das Land wieder einmal von einem undurchsichtigen Geflecht aus Generälen, Parteien, der Staatsbürokratie und Geschäftseliten und niemand weiß genau, wer wirklich hinter den Kulissen die Fäden zieht. Wirtschaftlich bleibt Algerien abhängig vom Öl- und Gasexport, also einem Industriesektor, der praktisch keine Arbeitsplätze und damit auch keine Perspektive für die junge Bevölkerung bereitstellt.
Tebboune und die hinter ihm stehenden Eliten haben sich in die lange Liste jener eingereiht, die in Algeriens politischer Sphäre gebetsmühlenartig von wirtschaftlicher Diversifizierung und der Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze sprechen, aber das Gegenteil tun. Denn auch unter Tebboune setzt Algeriens Regime auf den Ausbau der Öl- und Gasbranche und anderer extraktiver Industrien– vor allem durch den Ausbau der Phosphatförderung sollen mittelfristig zusätzliche Devisen ins Land fließen. Doch Algeriens Volkswirtschaft bleibt mit dieser Politik abhängig von Wirtschaftszweigen, die zwar Devisen und damit Mittel für Infrastrukturprojekte akquirieren, aber die Bevölkerung dem guten Willen der regierenden Eliten und ihrer Sozialpolitik unterwerfen.
Währenddessen gehören Ausfälle der Wasserversorgung ebenso zum Alltag wie Wohnungsnot und heftige Preissteigerungen von Grundnahrungsmitteln. Die in Algerien meist Harga (Arabisch für „Verbrennen“, gemeint ist das Verbrennen von Grenzen) genannte irreguläre Migration ist derweil erneut zum Volkssport mutiert.
„Plan A: Hirak, Plan B: Harga“
Während algerische Justiz- und Polizeibehörden im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen abermals die Daumenschrauben gegenüber Oppositionspolitiker:innen, Dissident:innen oder Journalist:innen anzogen und ihr repressives und oft fadenscheiniges Vorgehen gegen jedwede Form der Regierungskritik intensivierten, floriert die Harga wie selten zuvor. Algeriens Bevölkerung hat sehr wohl verstanden, dass sich auch mit zusätzlichen Brotkrumen aus dem Staatssäckel für den Großteil der Bevölkerung nichts Essentielles ändern wird. Frei nach dem in sozialen Medien in Algerien kursierenden Motto „Plan A: Hirak, Plan B: Harga“ verlieren seit Jahresbeginn immer mehr Menschen die Geduld und wandern aus – entweder irregulär in Richtung Italien und Spanien oder regulär in arabische sowie afrikanische Länder, zuletzt zunehmend auch Russland.
Diese Auswanderungswelle unterminiert das Selbstbildnis eines souverän regierenden und stabilen Regimes und deshalb gehen Polizei- und Justizbehörden inzwischen deutlich konsequenter gegen irreguläre Überfahrtversuche nach Europa vor. Der Verkauf von Booten und Motoren wird strenger überwacht und reguliert, an bekannten Abfahrtsorten an der Mittelmeerküste werden Checkpoints errichtet. Zeitgleich bekommen Geflüchtete und Migrant:innen aus anderen arabischen und afrikanischen Staaten die Härte des Regimes zu spüren. Gegen internationales Recht verstoßende Massenabschiebungen nach Niger machen weiterhin regelmäßig Schlagzeilen. Auch in Algerien müssen Geflüchtete und Migrant:innen dabei immer wieder als Sündenböcke für die verfehlte Sozial- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte herhalten. Mit einer solch repressiven Migrationspolitik präsentiert sich das Regime sowohl im Inland als auch im europäischen Ausland als Garant sicherer und kontrollierter Grenzen und versucht den Eindruck zu erwecken, Repressalien gegen Eingewanderte könnten der sozialen und wirtschaftlichen Misere im Land etwas entgegensetzen.