01.11.2024
Von der französischen Siedlungskolonie zum Nationalstaat
Bild: Claire DT/KI (Midjourney)
Bild: Claire DT/KI (Midjourney)

Am 1. November feiert Algerien Nationalfeiertag. Vor 70 Jahren fing der Krieg an, der Algerien 1962 in die Unabhängigkeit führte und für Frankreich den Beginn vom Ende seines Kolonialreiches bedeutete. Ein Rückblick in die Vergangenheit.

Dieser Artikel ist Teil unseres Algerien-Dossiers anlässlich des 70. Jahrestag seit Beginn des Unabhängigkeitskrieges in Algerien. Alle Artikel des Dossiers sind hier zu lesen.

Die französische Kolonisierung Algeriens hat ihren Ursprung vor fast 200 Jahren. Zuvor herrschten Vasallen des osmanischen Sultans, Deys genannt, über algerische Städte und Territorien. Die Zeit zwischen 1519 und 1830 wird als osmanische Herrschaft bezeichnet.

Algerien war ein siedlerkoloniales Projekt. Nach der militärischen Eroberung der ersten algerischen Stadt fingen auch Franzosen und Französinnen und einzelne Europäer:innen an, in den Territorien, die heute zu Algerien gehören, Land zu kaufen und sich dort anzusiedeln. Diese werden als Siedler:innen bezeichnet. Zu den einheimischen Bevölkerungsgruppen zählten: die Imazighen, Araber:innen sowie sephardische Juden und -Jüdinnen.

Karte 1: Eroberung Algeriens durch Frankreich

Bild: « D’une ville à une colonie », de Légendes Cartographie, publiée dans L’Histoire n°406 (décembre 2014), p. 85.

1830

Im Juni erreichen die ersten französischen Truppen das im Westen von Algerien liegende Sidi Fredj. Kurze Zeit später, im Juli, kapituliert der Dey Algiers und übergibt die Hafenstadt an Frankreich. Die Besetzung und Eroberung algerischer Städte und Territorien beginnt. Abd el-Kader, algerischer Freiheitskämpfer, leitet mit der Unterstützung vieler lokalen Bevölkerungsgruppen Widerstand gegen das französische Militär.

1837

Im Vertrag von Tafna zwischen Frankreich und Abd el-Kader wird letzterer von den Franzosen als Emir des Nordens Algeriens (in Orange auf der Karte 1) anerkannt. Im Gegenzug beansprucht Frankreich einige Hafenstädte (in Rot auf der Karte 1) und mit Constantine im Inneren des Landes auch den östliche Teil Algeriens. Der gesamte südliche Teil des damaligen osmanischen Gebiets, die Wüste, ist weiterhin unter osmanischer Herrschaft beziehungsweise wird er den Imazighen-Stämmen überlassen. 

1839-1844

Frankreich bricht den Tafna-Vertrag, woraufhin Abd el-Kader den Krieg gegen die Franzosen wieder aufnimmt. Unterstützt wird Abd el-Kader sowohl direkt vom marokkanischen Sultan Abderrahmane ben Hicham als auch von den Imazighen-Stämmen aus Marokko. Fünf Jahre später schließt Marokko im Vertrag von Tangier mit Frankreich Frieden. Abd el-Kader ergibt sich 1847 den französischen Truppen. Es folgen blutige Kriege gegen die Einheimischen. In den folgenden 15 Jahren erobert Frankreich die Gebiete, die zuvor unter Abd el-Kaders Herrschaft waren – „Große Kabylei“ genannt (in Orange und Gelb auf der oberen Karte 1). 

Karte 2: Einteilung des Nordens Algeriens in französische Departements

Bild: © Sémhur / Wikimedia Commons 

1848 

Mit dem Regimewechsel gegen die Monarchie in Frankreich ändert sich der Status der nördlichen Gebiete Algeriens: Sie werden fester Bestandteil Frankreichs. Infolgedessen emigrieren viele Franzosen und Französinnen in das neue französische Gebiet Algerien. 

In den nächsten Jahren gehen die Kriege gegen die Einheimischen weiter, erst 1902 wird das ganze Wüstengebiet erobert (in Hellgelb auf Karte 2). 

1865

Eigentlich müsste französisches Zivilrecht auch in Algerien gelten, da Algerien fester Bestandteil Frankreichs ist. Um dies zu vermeiden, baut Frankreich ein paralleles Rechtswesen auf: Der Senatsbeschluss von 1865 trennt die französische Staatsbürgerschaft von der Nationalität. Die Einheimischen Algeriens haben demnach Zugang zur französischen Nationalität, aber nicht zur französischen Staatsbürgerschaft, welche ihnen politische Rechte geben würde. 

1870

Unter dem Décret Crémieux werden die jüdischen Einheimischen französische Staatsbürger:innen in Algerien. Sie genießen also die gleichen Rechte wie die europäischen Siedler:innen. Die restlichen Einheimischen sind von politischer Teilhabe ausgeschlossen. Sie werden als eine homogene Gruppe gefasst, als muslimisch Indigene. 

1881

Die nördlichen Territorien werden in die drei Departements Oran, Algier und Constantine aufgeteilt (in Rot auf Karte 2). 15 Jahre später sind sie unter direkter Verwaltung des Innenministeriums in Paris. 

Im selben Jahr wird auch der Code de l’indigénat (dt.: Indigenegesetz) erlassen. Es umfasst alle Regeln, die im kolonialen Regime ab 1887 gelten sollten, darunter Diskriminierungsmechanismen gegen Einheimische. 

1889 

Im ganzen französischen Reich gilt wieder das Prinzip des Ius solis (dt. „Recht des Boden“), durch das europäische Siedler:innen aus Italien, Spanien und Malta zu französischen Staatsbürger:innen werden. Allerdings bleiben die sogenannten muslimischen Indigenen weiterhin davon ausgeschlossen. Die Trennung zwischen Einheimischen und französischen Staatsbürger:innen soll beibehalten werden. 

1898-1900

Durch neue Gesetze werden in Algerien lokale Vertreterversammlungen eingerichtet. Einheimische bleiben von politischer Teilhabe vorwiegend ausgeschlossen, sie seien noch nicht reif für Demokratie, so Arthur Girault, Kolonialrechtspezialist.

Die Trennung zwischen französischen Staatsbürger:innen und Einheimischen ist nicht nur politisch sichtbar, sondern auch geographisch. Die meisten französischen Staatsbürger:innen leben im Norden um die Küstenstädte. Diese Besiedlungszentren werden als communes de plein exercice (dt.: Gemeinde mit uneingeschränktem Zugang zu Rechten) bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt leben circa 700.000 Siedler:innen in Algerien. Im Süden, in den communes indigènes (dt.: Einheimischen-Gemeinschaften), leben die meisten Imazighen. Diese Wüstengebiete bleiben bis 1957 unter französischer militärischer Herrschaft.

Erster Weltkrieg

Im Ersten Weltkrieg nutzt Frankreich sein Kolonialreich, um seine Armeen zu füllen. Zwischen 1914 und 1918 dienen um die 173.000 Einheimische aus Algerien in den französischen Truppen, davon kehren circa ein Fünftel nicht zurück.

1919 und 1929

Mit der Loi Jonnart von 1919 können indigene Männer beim Richter einen Antrag für die französische Staatsbürgerschaft stellen. 1929 tritt das Gesetz in Kraft, welches den indigenen Frauen annähernd dieselben politischen Rechte wie den französischen Frauen zuspricht. Dennoch gilt das Indigenengesetz und es werden ihnen immer noch nicht alle Rechte gewährt, darunter das Wahlstimmrecht. Auch der Zugang zum öffentlichen Dienst ist für sie stark eingeschränkt. Das Gesetz ist außerdem geographisch begrenzt: Es gilt nur in den Departements, nicht in den südlichen Territorien. 

Nach dem massiven Einsatz algerischer Truppen in der französischen Armee gilt das neue Gesetz als eine Art von Anerkennung für ihren Dienst. 

Zweiter Weltkrieg

Auch während des Zweiten Weltkrieges kämpfen Männer aus Algerien an der Seite Frankreichs und Großbritanniens, diesmal sind es aber nur wenige Einheimische und vielmehr Französisch- und Europäischstämmige. Die einheimische Elite, darunter Offiziere, Veteranen und einflussreiche Männer, und die französischen Staatsbürger:innen, unterstützen Frankreich im Krieg – ironischerweise im Namen der Freiheit und der Demokratie. Einige politische Parteien und die „Vereinigung der algerisch-muslimischen Rechtsgelehrten“ haben sich deutlich gegen die Unterstützung Frankreichs entschieden. Ihre Stimmen wurden von Frankreich vor dem Krieg eingeschränkt, Parteien verboten und oppositionelle Eliten inhaftiert, weshalb sie im Untergrund tätig waren. 

Die Mobilisierung endet am 22. Juni 1940 mit der Kapitulation Frankreichs. Über die Hälfte des Festlands wird durch Nazi-Deutschland besetzt, der Rest sowie das Kolonialreich wird von Maréchal Pétain geführt. Mit der Kapitulation kommt auch das kollaborierende, rassistische und antisemitische Vichy-Regime nach Algerien. Französische Staatsbürger:innen sehen darin die Rückkehr einer strengeren Kolonialordnung, Einheimische sind Opfer von Diskriminierung und Verfolgung.

Die Landung der Alliierten in Algerien 1942 und das de facto Ende des Vichy-Regimes sind für die Anführer verschiedener Nationalbewegungen ein Anhaltspunkt, um die Befreiung und Unabhängigkeit Algeriens voranzubringen. Sie erhoffen sich, dass das in der Atlantikcharta von 1941 versprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker zukünftig auch für sie gelten wird. Im ganzen Land blühen antikoloniale Befreiungsbewegungen für ein unabhängiges Algerien auf.

8. Mai 1945

Zeitgleich zu den Feierlichkeiten zur Befreiung Frankreichs von der Nazi-Besatzung finden am 8. Mai 1945 Freiheitsdemonstrationen statt – das Ende des Krieges bedeutet für Nationalist:innen und Befreiungsbewegungen Hoffnung. Letztere werden aber gewalttätig in Sétif, Guelma, Bône, Biskra, Batna und Constantine unterdrückt: Französische Milizen, Polizisten, Gendarmen und Siedler:innen töten innerhalb einiger Wochen über 10.000 Einheimische, 45.000 laut offiziellen algerischen Zahlen. Für viele ist das Massaker der Anfang des Unabhängigkeitskrieges.

1. November 1954

Für andere bricht der Unabhängigkeitskrieg erst am 1. November 1954 aus. Am 31. Oktober 1954 gründet sich aus den verschiedenen Gruppierungen die Front de libération nationale (FLN, dt.: Nationale Befreiungsfront). Am gleichen Tag ruft der FLN die einheimische Bevölkerung zum Aufstand auf. In der gleichen Nacht noch werden erste Attentate gegen französische Kasernen, Polizeistationen und Rathäuser ausgeübt. Zum 1. November feiert Algerien heute Nationalfeiertag. 

Unabhängigkeitskrieg

Hier geht es zu einem Artikel, der den algerischen Unabhängigkeitskrieg genauer behandelt.

 

 

Claire studierte in Berlin, Paris, Montréal und Tel Aviv Sozialwissenschaften mit einem Schwerpunkt in Rechtswissenschaften. Sie recherchierte und arbeitete viel zu Grundrechten in Demokratien und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. 
Redigiert von Regina Grennrich, Jasmin Schol