Der Algerienkrieg war einer der blutigsten Kolonialkriege des 20. Jahrhunderts – dabei war Algerien offiziell gar keine Kolonie. Heute jährt sich sein Beginn zum 60. Mal. Die Erinnerung daran schwankt in Algerien und in Frankreich zwischen Gedenken und beredtem Schweigen – dabei sind sogar die politischen Systeme beider Länder Ergebnisse des Krieges. Von Jakob Krais.
In den frühen Morgenstunden des 1. November 1954 nahm die bis dahin unbekannte algerische Befreiungsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) mit einer Anschlagsserie ihren Kampf gegen die französische Herrschaft auf. Bei 30 koordinierten Attacken auf Militärkasernen, Polizeistationen und Industrieanlagen kamen insgesamt sieben Menschen ums Leben, darunter auch ein französischer Lehrer und zwei Algerier, die der FLN als Kollaborateure ausgemacht hatte. An diesem so genannten Roten Allerheiligen erschien eine Loslösung Algeriens vom Mutterland Politikern und Medien in Paris noch unvorstellbar. Man glaubte, der kleinen Bande von „Gesetzlosen“ werde man schnell Herr werden. Der damalige Innenminister und spätere Präsident François Mitterrand stellte klar: „Es gibt nur eine Verhandlung, das ist der Krieg!“ Niemand ahnte, dass dieser Krieg, der mit dem „Roten Allerheiligen“ begonnen hatte, sich über acht Jahre hinziehen würde. In jener Zeit sollten zwischen 250 000 (nach französischer Schätzung) und einer Million (so die algerische Schätzung) muslimische Algerier ums Leben kommen.
„Algerien ist Frankreich“
Frankreich tat sich so schwer damit, sich in das Unvermeidliche zu fügen, weil Algerien nicht einfach irgendeine Kolonie war. Die französische Herrschaft dort bestand seit 130 Jahren: Algier war seit 1830 eine französische Stadt – deutlich länger als beispielsweise Nizza. Anders als die Protektorate Marokko und Tunesien, wo nominell einheimische Herrscher in Amt und Würden geblieben waren, gehörte Algerien (mit Ausnahme der dünn besiedelten Wüstengebiete) offiziell zum französischen Kernland.
Die Verfechter des französischen Algerien sagten gerne, das Mittelmeer fließe eben durch Frankreich, so wie die Seine durch Paris fließe. Kurzum: „Algerien ist Frankreich“, wie es zu Beginn des Kriegs Mitterrand auf den Punkt brachte, dessen Innenministerium auch für die algerischen Départements zuständig war. Selbstständigkeit für Algerien galt vielen Franzosen damals folglich als ebenso absurde Vorstellung wie eine Unabhängigkeitserklärung der Normandie oder der Provence.
Einen zusätzlichen Anreiz zum Festhalten an dem nordafrikanischen Territorium bildete die Entdeckung großer Erdölvorkommen in der Sahara. Und schließlich dienten die Weiten der algerischen Wüste auch noch als passendes Testgelände für die erste französische Atombombe, die am 13. Februar 1960 in der Nähe von Reggane gezündet wurde. Das am schwersten wiegende Argument für den Verbleib Algeriens bei Frankreich stellte aber die Präsenz zahlreicher Algerienfranzosen dar, der so genannten pieds-noirs (wörtlich: schwarze Füße). Einer Million Siedler europäischer Herkunft standen zwar fast neun Millionen muslimische Algerier gegenüber. Doch es waren die pieds-noirs, die politisch den Ton angaben, da nur sie volle französische Bürger waren.
Die Geburt der Fünften Republik aus dem Geiste des Algerienkriegs
Auch wegen der Unnachgiebigkeit der Siedlerlobby taumelte Frankreich nun innenpolitisch von einer Krise in die nächste. In den Worten des Historikers Benjamin Stora führte der Algerienkrieg „zum Sturz von sechs Ministerpräsidenten und dem Zusammenbruch einer Republik.“ Das folgenreichste Ereignis hierbei war sicher die Geburt einer neuen Republik aus dem Geiste des Algerienkriegs: Im Mai 1958 lehnten sich rechtsgerichtete Algerienfranzosen und nationalistische Generäle in Algier gegen die schwankende Pariser Regierung auf.
Der Putsch brachte General Charles de Gaulle an die Macht, der von vielen Franzosen seit dem Zweiten Weltkrieg als Nationalheld verehrt wurde. Der General schickte das Parlament in den Urlaub, ließ sich eine Verfassung auf den Leib schneidern und wurde schließlich zum Präsidenten gewählt – die von de Gaulle nach dem Staatsstreich von Algier begründete Fünfte Republik besteht bis heute.
Der unmögliche Sieg
Trotz der innenpolitischen Probleme waren die Franzosen militärisch lange Zeit durchaus erfolgreich – entscheidend schlagen konnten sie die Guerrillakämpfer des FLN freilich nicht. Anfang 1957 übernahmen in Algier die französischen Fallschirmjäger das Kommando von den zivilen Behörden. In der Folge gelang es den Truppen der Kolonialmacht, die wichtigsten Persönlichkeiten des FLN gefangen zu nehmen oder zu töten. Im Oktober zwang die Luftwaffe außerdem ein marokkanisches Flugzeug zur Landung, in dem sich hochrangige algerische Nationalisten befanden.
Durch diesen „Akt des internationalen Terrorismus“ – wie ihn der Politikwissenschaftler Frank Renken nennt – ging den Franzosen die Exilführung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung ins Netz, darunter die beiden späteren Präsidenten Ahmed Ben Bella und Mohammed Boudiaf. Um die algerische Hauptstadt, und speziell die muslimische Altstadt, unter Kontrolle zu bekommen, richtete der Krieg sich zudem immer stärker gegen die Zivilbevölkerung: Prinzipiell war jeder und jede Einheimische verdächtig, die Aufständischen zu unterstützen. Bei ihrem Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung wendete die französische Armee systematisch Folter und Mord an. Doch trotz des französischen Sieges in der Schlacht um Algier und der Ausschaltung der FLN-Spitze ging der Widerstand weiter. Als eines der flächenmäßig größten Länder Afrikas bot Algerien einfach zu viele Schlupfwinkel für die Kämpfer. Dazu stand eine starke algerische Grenzarmee in den Nachbarländern Marokko und Tunesien bereit, die beide 1956 von Frankreich unabhängig geworden waren.
Der Kommandeur dieser Grenzarmee, Oberst Houari Boumédienne, entwickelte sich immer mehr zum starken Mann der Befreiungsfront. Angesichts der Aussichtslosigkeit eines endgültigen Sieges unterzeichnete die Pariser Regierung im März 1962 in Évian mit der algerischen Nationalbewegung ein Waffenstillstandabkommen, und Anfang Juli wurde der Traum der Algerier von der Unabhängigkeit wahr.
Das Ende der pieds-noirs
Die radikalen pieds-noirs und ihre Unterstützer in der Armee hatten mit einer Terrorkampagne gegen muslimische Algerier und französische Politiker noch versucht, die Unabhängigkeit aufzuhalten. Selbst de Gaulle geriet in ihr Visier: Nachdem der von ihnen als Falke auf den Schild gehobene General sich wider Erwarten zur Taube gewandelt und Verhandlungen mit den „Gesetzlosen“ eingeleitet hatte, unternahmen sie für ihren Traum eines auf ewig französischen Algerien 1961 zunächst einen zweiten, diesmal erfolglosen, Putschversuch; in späteren Jahren verübten sie mehrere Attentate auf de Gaulle, die der Präsident aber alle überlebte.
Als Reaktion auf die Anschläge der rechtsextremen Siedler rächten sich muslimische Algerier ab Frühjahr 1962 an den europäischstämmigen Bewohnern des Landes. Bis zur Unabhängigkeit flohen praktisch alle Algerienfranzosen über das Mittelmeer – und das, obwohl viele von ihnen noch nie in Frankreich gewesen waren, ja sogar noch nicht einmal aus Frankreich stammten, sondern eigentlich italienischer, spanischer oder jüdisch-sephardischer Herkunft waren. Als weitere Flüchtlinge kamen die so genannten harkis hinzu, die als Angehörige muslimisch-algerischer Hilfstruppen aufseiten der Franzosen gekämpft hatten und nun als Verräter gebrandmarkt wurden.
Schweigen auf Französisch
Im „Mutterland“ steckte die Regierung die harkis in Internierungslager; weder sie noch die regulären Soldaten erhielten die Unterstützung für Kriegsveteranen. In Frankreich breitete man einen Mantel des Schweigens über die traumatischen Geschehnisse. Präsident de Gaulle hatte die Richtung der französischen Erinnerung vorgegeben, als er nach dem Waffenstillstand von Évian sagte:
„Es ist nicht notwendig, einen Epilog zu schreiben über das, was unlängst getan oder nicht getan wurde. Was Frankreich anbelangt, so ist es notwendig, sich jetzt für andere Dinge zu interessieren.“ Erst 1999 erkannte die französische Nationalversammlung die „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Nordafrika“ zwischen 1954 und 1962 offiziell als „Algerienkrieg“ an. Eine Entschuldigung für den Kolonialismus lehnte Präsident François Hollande allerdings noch Ende 2012, beim Abschluss eines französisch-algerischen Freundschaftsabkommens, explizit ab.
Gedenken auf Arabisch
Wie die Fünfte Französische Republik ist die Demokratische Volksrepublik Algerien ein Kind des Krieges. Anders als in Frankreich wurde die Erinnerung daran an der Südküste des Mittelmeers stets wach gehalten: Der Befreiungskampf ab 1954 gilt als heroische Geburtsstunde von Staat und Nation. Doch in dem vermeintlich in Algerien so präsenten Gedenken gibt es ebenso wie in Frankreich unzählige blinde Flecken. Nicht nur die Geschichte der Algerienfranzosen, der Juden und der harkis, die schlicht als fünfte Kolonne des Kolonialismus angesehen werden, wird ausgeblendet.
Auch die eigenständige Identität der Berber fand im offiziellen Gedenken keinen Platz. Die so genannte Rearabisierungspolitik, die vorgab, durch den Kampf gegen die kulturellen Einflüsse der ehemaligen Kolonialmacht die Unabhängigkeit zu vollenden, führte nicht nur zur Zurückdrängung der französischen Sprache im öffentlichen Leben, sondern auch zur Arabisierung und Marginalisierung der Amazigh-Kultur. Der Unmut über die arabisch-nationalistische Politik des FLN-Regimes brach mit voller Wucht erstmals 1980 mit dem „Berberfrühling“ in der Kabylei hervor und hat sich seitdem nicht mehr völlig gelegt.
Daneben wird die Erinnerung an den Freiheitskampf der einfachen Bevölkerung jenseits des alles vereinnahmenden FLN ebenso verschwiegen wie die Rolle der Frauen, die sich in erheblicher Zahl aktiv beteiligten. Die heroische Nation präsentiert sich als männlich und arabisch.
„Nur ein Held, das Volk“
So wie die Franzosen im Algerienkrieg schließlich gegen eigene Landsleute kämpften – gegen die rechtsradikalen pieds-noirs –, gab es auch auf algerischer Seite einen Krieg im Krieg: Der FLN schaltete all seine Konkurrenten innerhalb der Nationalbewegung – liberal-moderate sowie sozialistisch oder religiös inspirierte Strömungen – aus. „In Algerien wurde der Krieg zum nationalen Gründungsmythos“, so der Politologe Renken: „Da allerdings im Zuge der Auseinandersetzungen innerhalb der nun regierenden Einheitspartei FLN eine nach der anderen historischen Führungsfigur von der politischen Bühne verschwand, ersetzte das anonyme ‚Volk‘ in der Staatsdoktrin die handelnden Figuren des algerischen Nationalismus.“
Diesen Mythos gibt der schon während des Kriegs entstandene Slogan des FLN wieder: „Nur ein Held, das Volk.“ In diesem Volk, dessen Durchschnittsalter heute nur 27 Jahre beträgt (in Deutschland liegt es bei 46), muss die Erinnerung an den vor sechs Jahrzehnten begonnenen Algerienkrieg jedoch wohl oder übel immer mehr verblassen. Nach wie vor gründen der FLN und das Militär ihren Status als alles beherrschende Kräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf ihre Rolle bei der Erringung der Unabhängigkeit.
Alle acht Präsidenten, die Algerien seit 1962 regiert haben, waren aktiv am Kampf gegen Frankreich beteiligt.
Die Mumie FLN
FLN und Armee mögen manchen noch als Garanten der Stabilität gelten, aber wohl kaum als Garanten der Freiheit: Im Bürgerkrieg der 90er Jahre zwischen Regierung und Islamisten beantwortete der Staat – kaum anders als einst die französischen Kolonialherren – den Terror der Aufständischen mit brutaler Repression und Gegenterror. Angesichts dieses jüngsten Traumas der algerischen Geschichte rücken die Heldentaten der Jahre 1954 bis 1962 im kollektiven Gedächtnis in immer weitere Ferne.
Die frühere Befreiungsfront scheint sich als bürokratisches Militärregime mumifiziert zu haben – niemand verkörpert diesen Mumiencharakter so wie der erst dieses Jahr im Amt bestätigte Präsident Abdelaziz Bouteflika. Schon vor fast einem halben Jahrhundert stand das heutige Staatsoberhaupt – seit dem Unabhängigkeitskrieg Mitglied des FLN – im Rampenlicht der algerischen Politik: Im Juni 1965 war Bouteflika Außenminister und galt als enger Verbündeter von Oberst Boumédienne, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Grenzarmee und damaligen Verteidigungsminister.
Als Präsident Ben Bella den jungen Außenminister absetzen wollte, putschte Boumédienne und machte sich selbst zum Staatschef. Die Einwohner der Hauptstadt hatten sich übrigens zunächst nichts dabei gedacht, Panzer durch die Straßen Rollen zu sehen – der italienische Regisseur Gillo Pontecorvo drehte gerade seinen dokumentarischen Spielfilm Schlacht um Algier: An Originalschauplätzen stellten Laiendarsteller – einige ehemalige Unabhängigkeitskämpfer spielten sich selbst – wenige Jahre zurückliegende Ereignisse aus dem Algerienkrieg nach.
So trug der Befreiungskrieg das Militär, das im Laufe des Kampfs gegen Frankreich immer mehr Macht angesammelt hatte, auch innenpolitisch zum Sieg. Schon drei Jahre nach der Unabhängigkeit wurde nun außerdem die Erinnerung an den Algerienkrieg umgeschrieben: „,Die Grenzarmee‘, angeführt von Houari Boumédienne, drängte mit Macht in die algerische Geschichte“, so der Historiker Stora. Heute klammert sich mit dem aus Alters- und Krankheitsgründen kaum noch handlungsfähigen Bouteflika die alte Garde der „Freiheitskämpfer“ aus Armee und FLN weiter erfolgreich an die Macht. Die vor 60 Jahren formulierten hehren Ziele eines Vorrangs der zivilen Politik vor dem Militär und den Traum von einem selbstbestimmten Leben im eigenen Land hat sie dagegen enttäuscht.