Vor 46 Jahren flüchtete ein Großteil der Bevölkerung der Westsahara nach Algerien. Dort leben sie bis heute in den ältesten Geflüchtetenlagern Afrikas. Über wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und die Forderung nach Selbstbestimmung.
Es herrscht Aufbruchstimmung in El Aioun, einem der sahrawischen Geflüchtetenlagern im Südwesten von Algerien. Mahmud, Ende 40, Ex-Parlamentarier, sitzt neben der einzigen Steckerleiste im Haus seiner Nachbarn, in der einen Hand ein Glas Tee, in der anderen sein Handy, auf das er konzentriert schaut. Er verfolgt täglich die Entwicklung der Flugpreise vom nahegelegenen Flughafen Tindouf in die algerischen Großstädte Algier und Oran. Von dort legen Fähren nach Spanien und Frankreich ab. Anfang März sind die meisten Flüge ausgebucht oder sehr teuer, aber die Zeit drängt. Die Tourismus-Saison beginnt langsam in Spanien – und damit die beste Gelegenheit, Geld in Europa zu verdienen. Auf diese Einkommensquelle sind die Familien in El Aioun angewiesen.
Schätzungsweise leben 165.000 Menschen in den insgesamt sechs Geflüchtetencamps um Tindouf. Ein großer Teil wurde hier nach 1976 geboren – das Jahr, in dem ein Großteil der indigenen Bevölkerung aus der Westsahara nach Algerien vertrieben wurde. Bewohner Mahfud, Anfang 50, kann sich noch erinnern, wie er damals mit seiner Familie aus der in der Westsahara gelegenen Stadt Agunit hierher kam. Die marokkanische Armee beschoss seine Familie und andere Sahrawis mit Napalm und weißem Phospor, drängte sie immer weiter ins Landesinnere, bis sie irgendwann die Grenze zu Algerien übertraten.
Die algerische Regierung unterstützte die Errichtung der Camps und den sahrawischen Unabhängigkeitskampf, der durch die Befreiungsarmee der Polisario-Front getragen wurde. Algerien erlaubte der Polisario-Front in den neu gegründeten Geflüchtetencamps den Aufbau einer Selbstverwaltung im Exil, die die Staatsgründung bei der Rückkehr auf das Gebiet der Westsahara erleichtern sollte. Doch auch nach 46 Jahren lässt die Rückkehr auf sich warten. „Es ist ein schlechter Witz“, sagt Mahfud. „Alles ist vorbereitet für einen Staat, Gesundheitsversorgung, Bildung, Administration. Wir brauchen nur unser Land zurück.“
Gebietsansprüche unter „Nachbarn“
Die Forderung nach einem selbstbestimmten sahrawischen Staat ist nicht neu. Bereits 1963 forderten die Vereinten Nationen die Entkolonisierung der Westsahara. Doch als die spanische Kolonialmacht 1975 tatsächlich abzog, nutzten Mauretanien und Marokko das Machtvakuum und marschierten in das Gebiet ein. Während sich Mauretanien nach einigen Jahren zurückzog, sieht Marokko auch 46 Jahre nach dem Abzug der Spanier:innen die Westsahara als Teil seines Staatsgebietes an und hält weite Teile des Landes besetzt. Rabat begründet seine Ansprüche mit der historischen Zugehörigkeit der Westsahara zu einem marokkanischen Großreich aus dem 11. Jahrhundert. Mahfud und viele andere Menschen sehen die Westsahara hingegen als eine der letzten Kolonien Afrikas.
Bis heute ist der Krieg zwischen der Polisario-Front und Marokko nicht beigelegt. Seit 1987 trennt ein von Marokko errichteter, verminter Wall die unter Kontrolle der Polisario-Front stehenden Gebiete im Osten von den marokkanisch besetzen Gebieten im Westen des Landes. Mit 2700 Kilometern ist er heute fast doppelt so lang wie die ehemalige innerdeutsche Grenze. Die Sahrawis nennen ihn Berm, was sich mit „Mauer der Schande“ übersetzen lässt.
Durch mangelnde Rückkehrperspektiven entstand im Südwesten Algeriens ein weltweit einzigartiges Staatskonstrukt, in dem die geflüchteten Sahrawis auf algerischem Staatsgebiet ihren Regierungssitz etablieren konnten. Der algerische Staat hat sich aus dem Gebiet weitestgehend zurückgezogen. 50 Staaten und die Afrikanische Union erkennen die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) an, es ist kein europäisches Land darunter.
Finanzielle Not und hohe Kriegsausgaben
Aus den meisten Zelten von damals sind mittlerweile einstöckige Bungalows geworden. Fünf von sechs Camps sind bereits ans Stromnetz angeschlossen und eine Asphaltstraße verbindet alle Camps miteinander. Dennoch bleibt die wirtschaftliche Lage der Menschen schwierig. Viele betonen, die Hilfe der Vereinten Nationen reiche bei weitem nicht mehr aus, um die Grundversorgung zu sichern. Tatsächlich unterstützen die Vereinten Nationen 90 000 Menschen, was nur etwas mehr als die Hälfte der hier Lebenden ausmacht.
Ein Teil der finanziellen Notlage ergibt sich auch daraus, dass die Polisario-Front in der Vergangenheit ein Großteil der Grundversorgung finanzierte und damit in den letzten Jahren immer mehr Probleme hatte. Ein Grund dafür dürfte unter anderem der 2019 erneut aufgeflammte Krieg gegen Marokko sein, der finanzielle Ressourcen verschlingt, die in der humanitären Hilfe und Infrastruktur gebraucht werden.
Die Polisario-Front hat zunehmende Schwierigkeiten die Finanzierung des Krieges gegen Marokko aufrecht zu erhalten. Soldat:innen berichten, die Polisario-Front sei nicht mehr dazu in der Lage, ihre Streitkräfte zu bezahlen. Khuna, Ende 30, überzeugter Anhänger des sahrawischen Befreiungskampfes, ist gerade auf Fronturlaub. Doch er hat sich entschlossen, nicht mehr zurückzukehren: „Die Lage ist zu gefährlich, um nicht dafür bezahlt zu werden.“
Wirtschaftliche Abhängigkeit von internationalem Geld
Lange war ein eigenes Einkommen durch die Hilfsgüter von UN und Polisario für die Haushalte in den Geflüchtetenlagern nicht lebensnotwendig. Eine Privatwirtschaft entstand hier erst in den 90er-Jahren, angekurbelt durch die Auszahlung von spanischen Pensionen an ehemalige sahrawische Mitarbeitende der Kolonialverwaltung vor 1975.
Heute benötigen die meisten Sahrawis ein eigenes Einkommen, denn die staatliche und internationale Unterstützung wurde in den vergangenen Jahren deutlich zurückgefahren. Viele Bewohner:innen verdienen ihr Geld in kleinen Geschäften, Reparaturwerkstätten oder als Bauarbeiter. Doch es fällt den Kleinunternehmer:innen schwer ihr Geschäft aufzuziehen, da es in den Lagern fast keine eigene Produktion gibt und sowohl landwirtschaftliche als auch industrielle Produkte teuer aus Algerien und darüber hinaus importiert werden müssen.
Auch deswegen sind viele Menschen in den Lagern auf das Geld der sahrawischen Diaspora angewiesen. Einer der vielen jungen, gut ausgebildeten Sahrawis, die regelmäßig in Spanien arbeiten, ist Mohsen. Er steht vor einem Laden, der als Auszahlungsstelle für Geld dient, das in Spanien von Sahrawis eingezahlt wurde, zählt Geldscheine und verstaut sie in seiner dunkelblauen Steppjacke. In Algerien studierte er Journalismus, dann konnte er ein paar Jahre mit einer dänischen NGO in den Lagern arbeiten. Anschließend lief die Finanzierung seiner Stelle aus, er ging nach Spanien, um dort Geld zu verdienen.
Nun ist er 32 Jahre alt und arbeitet wie so viele Sahrawis regelmäßig auf den Balearen. Im Sommer ist er als Rezeptionist im Hotel tätig, im Winter hilft er bei Reparaturen und Bauarbeiten. Es sei ein hartes Leben im teuren Europa, wenn man versuche möglichst wenig auszugeben, um möglichst viel in die Heimat zu schicken, berichtet Mohsen. Heimat ist für ihn ein Geflüchtetenlager in Algerien, in das seine Eltern lange vor seiner Geburt geflohen sind.
"Wir stehen zusammen"
Mohsen erzählt auch von seinen Studienkolleg:innen, von denen es die meisten nicht grade gut getroffen hat. Sie arbeiten jetzt in den Lagern als Angestellte in kleinen Läden – wenn sie Glück haben. Viele sind komplett arbeitslos. Gerade habe er einem ehemaligen Kommilitonen etwas Geld zur Unterstützung gegeben: „Auch wenn ich selbst wenig habe, muss ich ihm etwas geben, weil er keinen Job findet. Ich fühle mit ihm mit.“
Ein Journalist im Hotelrestaurant, ein Ex-Parlamentarier in der Dosenfabrik – solche Geschichten gibt es häufig, wenn Sahrawis über ihre Arbeitsaufenthalte in Spanien reden. Doch viele Sahrawis sehen die Arbeit in Spanien als Möglichkeit, schnell Geld zu verdienen, um dann wieder mehrere Monate zurückkehren und bei ihren Familien und Freund:innen sein zu können. Laut Mohsen kämen fast alle Arbeiter:innen regelmäßig für längere Zeit aus Spanien zurück. „Wir sind ein kleines Volk und stehen zusammen“, sagt er.
Was er sich für die Zukunft wünscht? Dass sein Volk auf ihr Gebiet zurückkehren, ein ordentliches Referendum über die Unabhängigkeit führen und von den eigenen Rohstoffen profitieren könne, die aktuell illegal von Marokko ausgebeutet würden. Auch Mahmud geht es ähnlich. Von der Unabhängigkeit erhofft auch er sich eine Möglichkeit, in seiner Heimat Arbeit zu finden und das ganze Jahr bei seiner Familie bleiben zu können. Bis dahin wird er sich von seinem Lohn als Saisonarbeiter in Spanien über Wasser halten müssen – vorausgesetzt, er kann seinen Flug finanzieren.