Seit Jahren kämpft Giulia Tranchina dafür, das Leid von Geflüchteten und Migrant*innen in Libyen an die Öffentlichkeit zu bringen. Im Interview spricht sie über europäische Fluchtabwehr, machtlose UN-Agenturen und juristische Herausforderungen.
Dieser Text ist Teil des Dossiers „Deutsche Außenpolitik in WANA“. Alle Texte des Dossiers finden sich hier. Das Projekt wurde durch das Grow-Stipendium von Netzwerk Recherche e.V. und der Schöpflin Stiftung gefördert.
Giulia Tranchina ist Rechtsanwältin mit den Schwerpunkten Asyl- und Migrationsrecht. Die gebürtige Italienerin lebt in London, wo sie für eine Kanzlei arbeitet.
Du bist in täglichem Kontakt mit Geflüchteten in Libyen. Welche Nachrichten erhältst du dieser Tage?
Ich erhalte beispielsweise verzweifelte Nachrichten aus dem Haftlager in Zintan. Momentan bekommen die dort inhaftierten Geflüchteten weniger als einen Liter Trinkwasser am Tag, obwohl es zurzeit sehr heiß ist. Sie sind sehr weit weg von Tripolis, in den Nafusa-Bergen, wo sie seit September 2018 sitzengelassen werden. Diese Menschen sind auf engstem Raum zusammengepfercht, sie schlafen quasi übereinander, unter sehr unhygienischen Bedingungen. Letzten Monat starb ein Mann aus Eritrea, offenbar an Dehydrierung und einem Herzinfarkt. Seit November 2018 haben über 25 Menschen in Zintan ihr Leben verloren, die meisten von ihnen sind verhungert oder an Tuberkulose gestorben.
Auch wenn die genaue Anzahl nicht bekannt ist, lässt sich davon ausgehen, dass es mehr als ein Dutzend aktiver Haftlager dieser Art gibt. Libysche Behörden halten Geflüchtete und Migrant*innen darin auf unbestimmte Zeit fest. Ist Zintan da ein besonders schlimmer Fall?
Leider sind die Zustände in allen Lagern schrecklich. In Tarik al-Sikka, einem Haftlager in Tripolis, das der libyschen Antimigrationsbehörde als Hauptquartier dient, gibt es vielleicht mehr Essen und Trinken. Aber dafür werden Inhaftierte in geheimen unterirdischen Zellen oft monatelang gefoltert. Tagsüber müssen die Männer häufig Zwangsarbeit verrichten. In Zintan hingegen werden die Inhaftierten zwar in der Regel nicht gefoltert, aber man lässt sie dort zu Tode verrotten.
Welche Rolle spielt Europa bei alledem?
Aus Mitteln des EU-Treuhandfonds für Afrika zahlt Europa Libyen in sehr intransparenter Weise Millionen Euro – ganz zu schweigen von informellen Zahlungswegen. Europa bezahlt dafür, dass die Behörden Geflüchtete davon abhalten, das Mittelmeer zu überqueren. Gleichzeitig fängt Europa Boote auf dem Mittelmeer ab und bringt die Menschen nach Libyen zurück, im Moment üblicherweise, indem sie private Schiffe derartige Rückführungen durchführen lassen.
Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist, dass Europa die libysche Küstenwache mit Ausrüstung, Training und finanziellen Mitteln aufgerüstet hat. Seit dem italienisch-libyschen Abkommen aus dem Jahr 2017, haben libysche Küstenwächter zehntausende Menschen auf dem Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Und obwohl Libyen ein vom Krieg zerrüttetes Land ist und libysche Küstenwächter „Rettungsaktionen“ unter Anwendung von Gewalt durchführen, hat Europa die Ausweisung der libyschen Such- und Rettungszone unterstützt.
Statt Schleuser zu bekämpfen, feuert Europa den brutalen Menschenhandel in Libyen mit alledem weiter an. Dort werden Migrant*innen als Ware gesehen, mit der sich Profit machen lässt – ob durch Lösegelderpressung, Sklaverei oder sexuelle Ausbeutung. Sie werden auch dafür genutzt, um europäische Gelder zu bekommen, die zwar für die Verbesserung der Haftbedingungen vorgesehen sind, aber regelmäßig zweckentfremdet werden, weil es keinerlei Kontrollmechanismen gibt.
Gibt es denn Beweise, dass europäische Gelder an Haftlager fließen?
Die gibt es nicht. Doch wenn man mit den Inhaftierten spricht, hört man oft, dass die Betreiber dieser Lager Geld empfangen. Beispielsweise würden die Wächter gegenüber den Gefangenen behaupten, dass sie keine Nahrung bereitstellen könnten, weil die finanziellen Mittel von der EU aufgebraucht wären.
Manchmal gibt es Lieferungen von Hygienemitteln, Matratzen und Decken mit einem EU-Logo auf den Kisten. Europäische Regierungen zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Flüchtlingsorganisation UNHCR in Libyen viel Geld. Es ist jedoch unmöglich sicherzustellen, dass die libyschen Behörden deren Hilfslieferungen nicht entwenden. So haben mir Inhaftierte des Lagers Abu Salim berichtet, dass die IOM Hilfsgüter gebracht habe, die anschließend weggeschlossen und nachts fortgeschafft worden seien.
Inwiefern können libysche Behörden für die Verbrechen in nicht-staatlichen Lagern verantwortlich gemacht werden? Schließlich werden diese Lager von Menschenschmugglern geführt, nicht von Menschen, die zumindest nominell im Dienste der libyschen Einheitsregierung stehen.
Wir wissen zum Beispiel, dass die libysche Polizei in Bani Walid, im Süden von Libyen, regelmäßig das Lager betritt. Es ist ein riesiges Foltercamp, das Menschenschmuggler betreiben. Doch die Polizei unterstützt den Transport von Lastwagen voller Menschen zum Camp. Auch einige meiner Klient*innen hier im Vereinigten Königreich wurden von der Polizei aufgegriffen, nach Bani Walid gebracht und an Schmuggler verkauft. Sie haben fürchterliche Geschichten zu erzählen. Ein 15-jähriger Junge aus Eritrea wurde für eineinhalb Jahre in Bani Walid gefoltert, um Lösegeld von seiner Familie zu erpressen. Er versuchte sich umzubringen und wurde zur Strafe so schwer gefoltert, dass er ein gelähmtes Bein hat.
Omer Shatz, Dozent für Völkerrecht am Pariser Institut für Politikwissenschaft, kritisiert das UNHCR dafür, als „Feigenblatt“ der EU zu dienen. Was steckt hinter diesem Vorwurf?
Europäische Politiker*innen behaupten, dass sie Geflüchteten und Migrant*innen in Libyen Menschen helfen würden, indem sie das UNHCR und die IOM in Libyen finanziell unterstützen. Doch in Wirklichkeit sind diese UN-Organisationen in Libyen machtlos. Das einzig wertvolle Programm ist, dass das UNHCR Menschen aus den libyschen Lagern zum Transit nach Niger oder Ruanda evakuiert, von wo aus sie anschließend in sichere EU-Länder weiterverteilt werden.
Leider ist sowohl die Zahl der Plätze für diesen Evakuierungsmechanismus als auch jene, die EU-Länder für eine längerfristige Umverteilung bereitstellen, viel zu gering. Zudem geht es bei aus dem EU-Treuhandfonds finanzierten Projekten mitunter gar nicht um Gelder für die UN-Agenturen, sondern unmissverständlich auch um Unterstützung für die libysche Küstenwache und Grenzschützer an der Süd- und Westgrenze.
Seit 2015 hat die EU mehr als 500 Millionen Euro für migrationsbezogene Projekte in Libyen mobilisiert. Ein nicht unerheblicher Teil der Mittel aus dem EU-Treuhandfonds geht an ein Programm zur „freiwilligen“ Rückkehr. Mehr als 50.000 Menschen hat die IOM seit 2015 dabei unterstützt, aus Libyen in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Was hältst du davon?
Migrant*innen in Libyen erleiden schreckliche Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen. Von Freiwilligkeit kann in dieser Situation keine Rede sein. Auch wenn so ein Programm für einige Menschen lebensrettend sein mag, zeigt sich die europäische Heuchelei darin, dass dieselben Anstrengungen nicht unternommen werden, um Menschen mit einer begründeten Furcht vor Verfolgung in Sicherheit zu bringen. Die große Mehrheit der Menschen, die in libyschen Haftlagern festsitzen, sind vom UNHCR registrierte Personen mit einem Anspruch auf internationalen Schutz. Unterdessen schieben libysche Behörden Asylbewerber*innen in ihre Herkunftsländer ab und verstoßen damit gegen internationales Menschenrecht.
In jüngster Vergangenheit hat es aber auch eine durchaus positive Entwicklung gegeben. Laut UN-Berichten werden derzeitig mehr als 1.800 Geflüchtete und Migrant*innen in libyschen Haftlagern festgehalten. Im Januar 2019 waren es noch mehr als 5.000 – ein substanzieller Rückgang also.
Einige Haftlager haben geschlossen, das sind tatsächlich gute Neuigkeiten. Das Problem ist allerdings, dass dies aufgrund von sehr tragischen Umständen geschehen ist. Im Juli letzten Jahres traf beispielsweise ein Luftangriff das Lager in Tajoura, im Osten von Tripolis. Laut offiziellen Angaben kamen dabei mindestens 53 Menschen ums Leben, doch Überlebende berichteten mir von mehr als hundert Todesopfern, drei davon, weil die Wächter des Haftlagers auf Gefangene geschossen haben, die versuchten dem Inferno zu entkommen.
Im April haben drei NGOs eine Beschwerde beim Europäischen Rechnungshof eingereicht, weil die EU die libysche Küstenwache aus den Mitteln des EU-Treuhandfonds unterstützt. Die Anwälte Omer Shatz und Juan Branco haben EU-Regierungschefs beim Internationalen Strafgerichtshof wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angezeigt. Wie beurteilst du diese Versuche, europäische Staaten für ihre Migrationspolitik rechtlich zur Verantwortung zu ziehen?
Ich denke, diese Fälle haben starke Rechtsgründe, vor allem die Beschwerde beim Rechnungshof. Die Anzeige beim Internationalen Strafgerichtshof mag vielleicht nicht zu einer Verurteilung von europäischen Politiker*innen führen, aber sie wirft wichtige Fragen auf. Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt ja bereits in Libyen, auch wegen Verbrechen, die gegen Migrant*innen und Geflüchtete verübt werden. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ermittlungen auch mit Blick auf die Verwendung europäischer Gelder neue Beweise ans Licht bringen. Denn sobald Mitglieder der libyschen Antimigrationsbehörde für ihre Verbrechen verurteilt werden, könnte die Verbindung zu Europa plötzlich sehr unmittelbar werden.
Wie blickst du in die Zukunft?
Leider sehr pessimistisch, wir durchleben wirklich düstere Zeiten. Dennoch möchte ich daran glauben, dass das Leid von unseren Mitmenschen eines Tages wieder von Bedeutung sein wird – nicht nur in Libyen, sondern auch im Jemen, Syrien, Nordafrika und anderswo. Als Zivilgesellschaft werden wir weiterhin gegen die verbrecherische Politik unserer Regierungen ankämpfen.