Tausende starben an den Folgen des Unwetters im Nordosten Libyens. Ihr politisches Engagement zwingt die Journalistin und Aktivistin Noura Eljerbi dazu, die Not in ihrer Heimatstadt Darna aus der Ferne zu begleiten.
In der Nacht von Montag, dem 11. September, brachen kurz hintereinander zwei Dämme entlang eines Flusses außerhalb der Küstenstadt Darna. Das Wasser und der Schlamm rollten unkontrolliert in die Stadt, rissen Gebäude, Autos und Menschen mit sich. Die überlebenden Bewohner:innen der Stadt berichten von traumatisierenden Momenten. Wie ist die aktuelle Situation in der Stadt, sechs Tage nach der Flut?
Es gibt einige Engpässe bei medizinischer Hilfe, aber zumindest wird gerade von den Rettungsteams und Ärzt:innen aus Frankreich ein Feldkrankenhaus errichtet. Im Allgemeinen denke ich, dass sich die Situation verschlechtert; Leichen liegen verstreut herum, und die Rettungsteams bemühen sich, sie so schnell wie möglich zu bergen, denn das Risiko der Umweltverschmutzung ist hoch. Alle haben Angst vor einer Vergiftung der Wasserquellen, da der Großteil des Wassers in Darna Grundwasser ist. Für die Gesundheit der Menschen ist es wichtig, dass es sauberes Wasser gibt. Insgesamt steigt die Anzahl der gefundenen Leichen und es gibt immer noch vermisste Personen. Heute wurden wieder viele Leichen aus dem Meer geborgen. Unter den Libyer:innen herrscht Wut, denn sie machen die politischen Institutionen in Libyen für das Geschehene verantwortlich.
Gibt es viele Rettungsteams, die Unterstützung leisten?
Die ersten beiden Tage waren chaotisch. Viele Menschen haben keine Hilfe erhalten, ihre dringenden Bedürfnisse wurden nicht gedeckt. Aber heute und gestern lief es viel besser. Die Situation wird organisierter, denn die Menschen haben begonnen, sich selbst zu organisieren. Von der Haftar-Regierung kommt kaum Hilfe, es sind die libyschen Menschen, die einander helfen und sich zusammenschließen.
Sie leben als Journalistin und Menschenrechtsaktivistin inzwischen in Istanbul, weil Sie nicht mehr nach Libyen einreisen dürfen. Ihre Familie ist jedoch von der Katastrophe stark betroffen. Wie ist die Situation für Sie?
Ich stehe auf der Liste. Würde ich nach Libyen einreisen, würden sie mich ins Gefängnis stecken. Deshalb bin ich im Ausland und das ist sehr schwer. Anderen geht es wie mir: Unsere Familien leben in Darna und wir arbeiten sehr viel zu dieser Katastrophe, aber können nicht mehr tun. Also machten wir in den sozialen Medien Lärm, damit die Regierung aufwacht und den Menschen die Hilfe zukommen lässt, die sie brauchen. Aufgrund eines 48-stündigen Strom- und Kommunikationsausfalls haben wir den Kontakt zu unseren Familien verloren. Ich musste eines der Rettungsteams zu ihrem Haus schicken, um zu überprüfen, ob sie am Leben waren. Sie sagten mir, das Haus sei beschädigt, einige Teile seien eingestürzt und sie hätten niemanden finden können. Es vergingen weitere zwölf Stunden bis die Regierung aufwachte und Telekommunikationskarten an die Bevölkerung schickte. Am Ende dauerte es 60 Stunden, bis ich meine Familie erreichte und mit ihnen telefonieren konnte.
Zwischen dem 8. und 13. September fielen in der Region um Darna rund 100 Liter Regen pro Quadratmeter. Das ist deutlich mehr als üblich. Die durch den Klimawandel verursachte Erwärmung des Mittelmeers hat die Intensität von Sturm Daniel verstärkt. Dennoch ist die Katastrophe hauptsächlich durch den Bruch der beiden Dämme verursacht worden. Wären sie nicht zusammengebrochen, wäre die Situation nicht so dramatisch gewesen. Wie ist es so weit gekommen?
Es gibt verschiedene Gründe für diese Katastrophe. Einerseits gab es zwar Pläne zur Rekonstruktion und Renovierung der Dämme - so empfahl der libysche Rechnungshof im Jahr 2021 über 2 Millionen Euro dafür, passiert ist seitdem nichts. Andererseits hat die Regierung den Menschen erlaubt, ihre Häuser sehr nahe am Tal zu bauen, in dem sich die Dämme befinden. Sie haben Genehmigungen und Erlaubnisse erteilt, obwohl das Gebiet nicht besiedelt sein sollte.
Ein Gedicht von Mustafa al-Trabalzi aus Darna geht dieser Tage um die Welt. Nur wenige Tage vor der Katastrophe warnte er bei einer Diskussionsveranstaltung im Kulturzentrum der Stadt vor den Gefahren von Wasserfluten und verfasste daraufhin diese Zeilen. Das Thema war in der Stadt präsent. Warum war die Region so unvorbereitet auf das, was passiert ist? Warum konnte die Bevölkerung nicht evakuiert werden?
Weil es keine wirklichen Maßnahmen von der Regierung gab. Die Behörden wussten, dass ein Sturm im Anmarsch war, aber es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um die Menschen zu schützen. Es gab weder Alarme noch Warnungen für die Bevölkerung, ihre Häuser zu verlassen. Die Regierung hätte Unterkünfte außerhalb der Stadt vorbereiten sollen, aber es wurde nichts unternommen. Wir waren alle überrascht. Al-Trabalzi nahm an einer normalen Diskussion teil und erwähnte, dass die Situation gefährlich sei und dass wir uns darum kümmern müssten, aber er selbst wusste nicht, dass es so bald passieren würde.
Wie hat die Regierung nach der Flut reagiert?
Ich erinnere mich an den Tag der Katastrophe, wir Journalist:innen haben viel gepostet, weil die Welt auf das schauen sollte, was in Libyen passiert. Vor allem sollte die libysche Regierung aufwachen. Es dauerte 24 Stunden, bis sie im Fernsehen eine Erklärung abgab, 24 Stunden, bis sie die internationale Gemeinschaft um Hilfe bat, obwohl Libyer:innen diese so dringend brauchten. Schließlich hat unser Land keine Erfahrung mit dieser Art von Krisen. Die internationalen Rettungsteams brauchten dann einen weiteren Tag, um Libyen zu erreichen. Viele Menschen könnten am Leben sein, wenn diese Hilfe in den ersten Stunden eingetroffen wäre. Viele Menschen sind nur gestorben, weil die Regierung nicht sofort gehandelt hat. Erst jetzt sind einige libysche Politiker in die Stadt gekommen, um die Katastrophe zu sehen. Erst jetzt, vier Tage nach der Katastrophe, hat das Parlament eine Notfallsitzung abgehalten, und noch immer dauert es, das Krisenmanagement zu organisieren.
Die Region wird seit langem von den politischen Machthabern vernachlässigt. Darna gilt als oppositionell und widerständig. Davor hat die Regierung Angst. Doch nun beschloss die Haftar-Regierung einen Notfallhaushalt von 10 Milliarden libyschen Dinar (etwa 2 Milliarden Euro).
Ja, und der Leiter dieses Haushalts wird Aguila Saleh sein, der Vorsitzende des Repräsentantenhauses. Dieser Vorsitzende ist allerdings für all die Toten in Darna verantwortlich. Sein Neffe ist Bürgermeister der Gemeinde Darna, und beide haben das Geld gestohlen, das nach dem Krieg für den Aufbau der Stadt verwendet werden sollte. Mit diesem Notfallbudget wird es dasselbe sein: Dieses Geld wird an dieselben Leute fließen, die diese Krise zu verantworten haben. Es ist wieder derselbe Kreislauf, und das ist nicht akzeptabel.
Wie reagiert die libysche Gesellschaft darauf?
Ich glaube, die meisten Libyer:innen lehnen das bereits ab. Seit heute [17. September 2023, Anm. d. Redaktion] verbreitet sich ein Hashtag auf Twitter (#يسقط_عقيلة_صالح - Aguila Saleh stürzen). Die Menschen fordern, Aguila Saleh aus dem Parlament zu verbannen. Sie werden nicht zulassen, dass dieselben Leute wieder dieselbe Scheiße machen.
In Libyen kämpfen zwei politische Lager gegeneinander. Fehlinformationen in den Sozialen Medien und im Internet werden oft genutzt, um Machtkämpfe auszutragen. Sie haben in den letzten drei Jahren an diesem Thema gearbeitet. Wird die aktuelle Katastrophe in den Medienplattformen bereits politisch ausgenutzt?
Anfangs haben die beiden Parteien nichts unternommen. Sie wussten, dass sie Mitgefühl zeigen und deutlich machen müssen, dass ihnen leidtut, was passiert ist. Aber jetzt hat das Schüren von Misstrauen in den Sozialen Medien begonnen. Aktivist:innen und Influencer:innen erhalten viel Geld dafür, falsche Informationen zu verbreiten. Am Freitag und Samstag behaupteten schon einige von ihnen, die Regierung von Haftar blockiere die Hilfe, während andere sagen, dass die Staudämme absichtlich zerstört wurden. Es gibt bereits eine Menge an Fehl- und Desinformation über die Katastrophe, deren Ziel ist es ist, die Gesellschaft zu spalten, aber das ist grade erst der Anfang. Aber wir hoffen, dass die Menschen sich dessen bewusst sind und sich davon nicht beeinflussen lassen.
Was denkst du passiert jetzt?
Die Katastrophe wird politisiert. Jeder versucht, die politische Meinung zu beeinflussen, insbesondere seit den Demonstrationen in Darna am Montag, dem 18. September. Das Internet wurde seit dem frühen Dienstagmorgen [19. September 2023, Anm. d. Redaktion] abgeschaltet und nur noch bestimmte Personen haben einen Zugang. Das Gebäude, in dem ausländische Medien untergebracht sind, hat derzeit zwar weiterhin Internet, aber internationale Medien wurden wohl gebeten, sich bedeckt zu halten. Während dieses gesamten Tages stammten alle Nachrichten aus Darna von einem einzigen Kanal von Haftar-Anhänger:innen. Sie verbreiten ausschließlich Fake News. Wir konnten verifizieren, dass die Personen hinter diesem Kanal dieselben sind, die bereits vorher Fehlinformationen verbreiteten und finanzielle Unterstützung von verschiedenen Akteuren in Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland und Ägypten erhalten.
Mit welcher Begründung wurde das Internet abgeschaltet?
Uns wurde mitgeteilt, dass die Verbindungsprobleme auf Bauprojekte in der Stadt zurückzuführen seien - eine Erklärung, die sowohl von der Ost- als auch der Westregierung verbreitet wird. Dies weckt erneut den Verdacht, dass es einen Versuch gibt, die Stimmen zu unterdrücken, die eine rasche Untersuchung und rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen für diese Katastrophe fordern.
Was wünschen Sie sich für das libysche Volk in dieser Situation jetzt?
Ich wünsche mir, dass es ein lokales Krisenmanagement von den Menschen in der Stadt Darna gibt, nicht von außerhalb der Stadt. Denn die Menschen wissen am besten, was sie brauchen und wollen. Solch ein lokales Krisenmanagement sollte unter der Aufsicht eines internationalen Ausschusses stehen, bis eine internationale Untersuchung durchgeführt werden kann. Ich denke, das ist, was die meisten Aktivist:innen, Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen in Libyen sagen: Wir brauchen das Geld der Regierung nicht, damit es wieder verschwendet und gestohlen wird.