05.03.2023
Mit rassistischer Agitation und Polizeigewalt zurück zur Diktatur
Präsident Kais Saied verliest die fatale Regierungserklärung am 21.02.2023. Quelle: Die Facebookseite der Présidence Tunisie رئاسة الجمهورية التونسية
Präsident Kais Saied verliest die fatale Regierungserklärung am 21.02.2023. Quelle: Die Facebookseite der Présidence Tunisie رئاسة الجمهورية التونسية

Um von Wirtschafts- und Sozialkrise abzulenken und seiner konterrevolutionären Politik den entscheidenden Schub zu geben, hetzt Tunesiens Präsident Saied gegen Geflüchtete. Mit Erfolg: Ein erzwungener Exodus beginnt. 

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Eine vor faschistischer Rhetorik triefende Hetzkampagne in sozialen Medien, polizeiliche Repressalien gegen Schwarze Einwanderer:innen, Verhaftungen von Oppositionellen. Dazu ein Staatspräsident, der mit unmissverständlich rassistisch-nationalistischer Agitation in Tunesien tief verwurzelte Verschwörungsängste und Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert, um vor Sozial- und Wirtschaftskrise und mangelnder politischer Legitimität abzulenken: Für Geflüchtete, aus meist afrikanischen Ländern stammende Einwanderer:innen und Schwarze Tunesier:innen, aber auch das urbane, linksliberale Tunesien und die gesamte Opposition sind die sich überschlagenden Ereignisse im Land ein Desaster – und gehen selbst über die in den letzten Jahren prognostizierten Worst-Case-Szenarien hinaus. 

Die vor rund drei Wochen begonnene Verhaftungswelle gegen Oppositionelle, Aktivist:innen und Journalist:innen sowie die offenen gewaltsamen Übergriffe gegen Migrant:innen werden nicht nur kurzfristig heftige Folgen nach sich ziehen. Land und Regierung rücken stramm nach rechts, ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft hat den Köder gefressen, öffentliche rassistische Stimmungsmache und gewaltsame Übergriffe werden normalisiert. Die seit dem Verfassungsputsch von Präsident Kais Saied im Juli 2021 lange in Trippelschritten fortschreitende Rückkehr zur Autokratie erreicht nun offenbar eine entscheidende Phase, die Restaurierung der Diktatur scheint unausweichlich. Doch der Reihe nach.

Schon seit Jahresbeginn sorgt in sozialen Netzwerken – allen voran auf Facebook und der wenig bis gar nicht moderierten Kurzvideo-Plattform TikTok – eine regelrechte Hetzkampagne gegen Geflüchtete und Einwanderer:innen aus afrikanischen Staaten für Aufsehen. Die Propaganda ultra-nationalistischer und teils offen faschistischer Stimmen um die 2018 offiziell zugelassene Nationalistische Partei, deren Wortmeldungen im Land bisher zumeist als extremistische Spinnerei abgetan wurden, bekommt plötzlich massive Aufmerksamkeit und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Eine von dieser in Umlauf gebrachte Petition fordert nicht weniger als Abschiebungen im Land lebender afrikanischer Einwanderer:innen, ein Visaregime für westafrikanische Staaten und die Abschaffung des Antidiskriminierungsgesetzes von 2018.

„Atmosphäre des Terrors“

Anfang Februar 2023 startet der Polizeiapparat in mehreren Landesteilen systematische Ausweiskontrollen von Migrant:innen, hunderte werden aufgrund nicht vorhandener Aufenthaltstitel verhaftet. Am 21. Februar betritt Saied die Bühne und erklärt nach einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates, durch das „Ansiedeln irregulärer Migrant:innen aus Sub-Sahara-Afrika“ solle die demographische Zusammensetzung des Landes verändert werden. Tunesien drohe „ein rein afrikanisches Land ohne Zugehörigkeit zur arabischen und islamischen Nation“ zu werden. In offen faschistischer Manier kündigt Saied Maßnahmen gegen die angeblichen „Horden irregulärer Migrant:innen“ an.

Die Äußerungen haben unmittelbare Folgen. Die schon zuvor zunehmend angespannte Stimmung gegenüber Schwarzen Migrant:innen in Tunesien schlägt in teils offene Gewalt um. Geflüchtete und Schwarze Migrant:innen werden auf offener Straße rassistisch beleidigt, mit Eisenstangen oder Messern attackiert, zu tausenden aus ihren Wohnungen geworfen. Vermietende haben nach entsprechenden Äußerungen der Behörden Angst, für das Unterbringen nicht dokumentierter Menschen selbst belangt zu werden und werfen diese hochkant auf die Straße. Die Polizei weitet derweil ihre Verhaftungswelle aus. In den ersten drei Februarwochen sollen mindestens 1540 Menschen inhaftiert worden sein, meist im Großraum Tunis und den Provinzen nahe der algerischen Grenze, so die tunesische Menschenrechtsorganisation FTDES gegenüber dis:orient.

Viele Geflüchtete und Einwanderer:innen trauen sich nicht mehr auf die Straße. Der tunesische Gewerkschaftsverband UGTT spricht in einer Stellungnahme von „einer Atmosphäre des Terrors“. Mehrere Student:innenvereinigungen und Botschaften afrikanischer Länder rufen ihre Bürger:innen explizit dazu auf, zu Hause zu bleiben. Zwar mobilisiert Tunesiens Zivilgesellschaft, organisiert Notunterkünfte für hunderte praktisch über Nacht obdachlos gewordene Menschen und sammelt Geld und Kleidung. Doch die Angst grassiert, viele Geflüchtete wollen nur noch weg, so schnell wie möglich. Vor mehreren afrikanischen Botschaften und dem Sitz der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem sonst so rückführungs-affinen Grenzregimedienstleister, versammeln sich teils hunderte Menschen, um sich für „freiwillige“ Rückkehrflüge registrieren zu lassen.

Doch so einfach ist das nicht. IOM reagiert nicht und tunesische Behörden bestehen weiterhin darauf, dass die im Land festgeschriebenen Strafzahlungen von sechs Euro pro Woche für überzogene Visa vor der Ausreise bezahlt werden müssen. Bei vielen irregulär in Tunesien lebenden Menschen haben sich über die Jahre jedoch hohe Beträge angesammelt, zu hoch, um diese mal eben zu begleichen. Tunesiens Behörden heizen die Kampagne gegen Einwanderer:innen zwar selbst mit an, wollen bei jenen, die nun das Land verlassen wollen, aber trotzdem noch abkassieren.

Die imaginäre afrikanische Einheit

Während die offene Gewalt inzwischen nachzulassen scheint, geht die Stimmungsmache im Netz ungebremst weiter. Ein vor Ultra-Nationalismus, Rassismus und sozialer und politischer Frustration triefender Kampf um Identitäten ist entbrannt, ausgetragen auf dem Rücken Schwarzer Migrant:innen und Schwarzer Tunesier:innen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Aktivist:innen und linksliberale Kreise, die Tunesiens Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent betonen, mobilisierten zwar für eine Anti-Rassismus-Demonstration in der Innenstadt von Tunis und hissten Slogans wie „We are all Africans“, aber der Zulauf bleibt schwach, nur 1000 Menschen schließen sich dem Protest an.

Noch 2018 wurde Tunesiens Zivilgesellschaft für den Druck gefeiert, den sie auf die Regierung ausgeübt hatte, endlich ein Antidiskriminierungsgesetz zu verabschieden. Das Land sei 1846 der erste arabische Staat gewesen, der die Sklaverei abgeschafft hatte, wurde damals immer wieder betont. Heute präsentieren sich Italiens, Frankreichs und Tunesiens Rechte in demonstrativer Einheit, nennenswerte Kritik an Kais Saieds Äußerungen bleibt aus, im Gegenteil. Wenn selbst Eric Zemmour frenetisch applaudiert, dann läuft gewiss etwas falsch. Der nach seinem Tod 1961 zunächst in Tunesien und seit 1965 auf einem algerischen Märtyrerfriedhof nahe der tunesischen Grenze beerdigte Revolutionär der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, Frantz Fanon, würde sich im Grabe umdrehen. Die von ihm so vehement verfochtene anti-koloniale Einheit Afrikas war nie wirklich zum Greifen nahe, schien aber auch noch nie so weit entfernt wie seit Saieds Regierungserklärung.

Franz Fanons Grab in der algerischen Kleinstadt Ain Kerna nahe der tunesischen Grenze. Foto: Sofian Philip Naceur

Während die Kommission der Afrikanischen Union die „schockierende Stellungnahme“ tunesischer Offizieller gegen Afrikaner:innen in einer Erklärung scharf verurteilte, weiten Staaten wie die Elfenbeinküste, Mali oder Guinea ihre Anstrengungen aus, Menschen umgehend aus Tunesien zu evakuieren. Inzwischen kursieren in sozialen Medien in mehreren afrikanischen Ländern gar Boykottaufrufe gegen tunesische Produkte.

Politisches Manöver mit ungewissem Ausgang

Während Tunesiens Staatsvertreter:innen die rassistische Vergangenheit des Landes hochleben lassen, baten dieselben im Rahmen der arabischen Innenministerkonferenz in Tunis Ende Februar in Sachen irregulärer Einwanderung um eine „unterstützende Position“ der teilnehmenden Staaten. Nachdem sich Tunesien nun aus demonstrativ zur Schau gestelltem Eigeninteresse dem europäischen Grenzregime als Erfüllungsgehilfe anbiedert, wirbt Italiens Regierung parallel in der EU und beim Internationalen Währungsfund (IWF) mit Nachdruck um finanzielle Unterstützung für Tunesiens tief in der Krise steckende Staatsfinanzen. Interessantes Timing.

Kais Saieds wirtschaftspolitische Unfähigkeit und die Weigerung nordafrikanischer Regierungen, den regionalen und innerafrikanischen Handel zu priorisieren, um sich den Diktaten des Globalen Nordens und seiner Stellvertreter wie dem IWF effektiver entziehen zu können, münden nun erneut in Dynamiken, die einer panafrikanischen Kooperation diametral entgegenlaufen. Während Regierung und Bevölkerung in Tunesien abermals auf finanzielle, aber an „schmerzhafte Reformen“ geknüpfte Almosen aus dem Globalen Norden hoffen dürfen, scheint Saied das durch seine Äußerungen angeheizte Chaos im Land dafür nutzen zu wollen, die post-revolutionäre Demokratie im Land endgültig zu beenden. Was genau Tunesien noch bevorsteht, ist unklar. Doch die Verhaftungswelle gegen Oppositionelle der letzten Wochen hat eine andere Qualität als die staatlichen Repressalien im ersten Jahr nach seiner Machtübernahme 2021. Für konterrevolutionäre Kräfte war die politische und gesellschaftliche Gemengelage nie so vorteilhaft wie heute, auch da es die fragmentierte Opposition nicht schafft, gemeinsam auf die Straße zu ziehen.

„Non aux Africains en Algérie“

In Zeiten sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Krisen eine Gesellschaft gegen Minderheiten aufzuhetzen ist in Nordafrika keine unbekannte Strategie. Tunesien reiht sich durch die aktuellen Entwicklungen nahtlos ein in die illustre Liste an arabisch-nationalistischen Regimes in der Region, die in sozioökonomischen Krisen oder Phasen richtungsweisender politischer Umbrüche gezielt Fremdenhass geschürt und dann für machtpolitische Zwecke instrumentalisiert haben. Zwei Beispiele:

Kurz nach Beginn des syrischen Bürger- und Stellvertreterkrieges 2011 waren aus dem Land geflohene Menschen in Ägypten noch mit offenen Armen empfangen worden. Staatliche und zivilgesellschaftliche Hilfen wurden bereitgestellt, der Arbeitsmarkt öffnete sich schnell. Rund um den von Ägyptens heutigem Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi angeführten Militärputsch gegen die Regierung von Mohamed Mursi im Sommer 2013 aber drehte sich der Wind. Angestachelt von medialer Diskreditierung wurden Syrer:innen plötzlich öffentlich angefeindet und gewaltsam angegriffen, ihre Geschäfte geplündert. Die Regimepresse warf ihnen vor, sich in die politische Krise im Land eingemischt und zugunsten Mursis Position ergriffen zu haben. Bis heute wird ihnen vorgehalten, sie wären für die Teilnahme an Protesten bezahlt worden – Vorwürfe, die auch 2023 noch durch ägyptische Cafés, Anwaltskanzleien oder Behörden hallen.

In Tunesiens Nachbarland Algerien sorgte 2017 eine Onlinekampagne für Aufsehen, in deren Rahmen unter dem Hashtag „Non aux Africains en Algerie“ (dt. „Nein zu Afrikaner:innen in Algerien“) vor allem aus Niger stammende Einwanderer:innen rassistisch angefeindet wurden. Die Kampagne hatte zwar nicht annähernd die Reichweite, die die andauernde Welle an Hassreden in Tunesien derzeit erzielt, doch algerische Offizielle sprangen auf die Kampagne auf. Irreguläre Migrant:innen würden „Kriminalität, Drogen und andere Plagen“ nach Algerien bringen, erklärte der damalige Premierminister Ahmed Ouyahia aufwiegelnd im algerischen Fernsehen. Auch Algeriens Regime lenkte damals mit dem Thema Migration von sozialen und wirtschaftlichen Krisen ab und versuchte damit, seinen Rückhalt in der Gesellschaft zu stärken – zumindest zeitweise mit Erfolg.

Der 2017 innerhalb des Regimes und im Land um Rückhalt kämpfende Ouyahia ließ dabei seinen Worten auch Taten folgen und weitete die 2015 begonnenen, aber zunächst nur sporadisch durchgeführten, Verhaftungs- und Abschiebekampagnen gegen Migrant:innen durch algerische Polizeibehörden substantiell aus. Die vom Aktivist:innennetzwerk Alarme Phone Sahara im Niger minutiös dokumentierten Abschiebungen haben seither nie aufgehört – ebenso wenig wie der Applaus von Teilen der algerischen Gesellschaft für das gewaltsame Vorgehen gegen Migrant:innen und Geflüchtete.

Es bleibt zu befürchten, dass nun auch in Tunesien eine spürbare Radikalisierung der Migrationspolitik bevorsteht. Zwar war der bisherige Umgang der Regierung mit Geflüchteten alles andere als progressiv, doch schien das Land weit davon entfernt, ein gnadenloses Inhaftierungs- und Abschieberegime errichten zu wollen wie die Regimes in Kairo oder Algier. Saieds künftige Migrationspolitik dürfte über die andauernde Verhaftungswelle hinausgehen – im schlimmsten Falle gar weit hinaus.

 

 

Sofian Philip Naceur ist ehemaliger Ägypten-Korrespondent und freier Journalist und berichtet vor allem zu Entwicklungen in Ägypten und Algerien sowie Grenzregimen im Mittelmeerraum und in Nordafrika. Seit 2021 arbeitet er für das Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis.
Redigiert von Pauline Fischer, Clara Taxis
Übersetzt von Sofian Philip Naceur