28.02.2023
Angriff auf den politischen Pluralismus
Die andauernde Verhaftungswelle in Tunesien bedroht die Zivilgesellschaft und demokratische Institutionen. Foto: Vanessa Barisch
Die andauernde Verhaftungswelle in Tunesien bedroht die Zivilgesellschaft und demokratische Institutionen. Foto: Vanessa Barisch

In den letzten Monaten gab es in Tunesien eine anhaltende Verhaftungswelle. Betroffen ist die gesamte politische Gegnerschaft des Präsidenten Kais Saied. Macht Tunesien damit einen weiteren Schritt Richtung Autoritarismus? 

Seit Dezember 2022 wurden in Tunesien einige bekannte und einflussreiche Personen verhaftet, die Lage ist unübersichtlich und die Profile der Festgenommenen sind sehr unterschiedlich. Aus dem Kader der größten Oppositionspartei Ennahdha ist der ehemalige Justizminister Noureddine Elbhiri betroffen, aus der Medienwelt traf es den Direktor eines der größten Radiosender (Mosaique FM) Noureddine Boutar und auch einer der reichsten Männer Tunesiens Kamel Ettayef, zugleich enger Vertrauter des Ex-Diktators Zine Elabidine Ben Ali, wurde festgenommen. Außerdem ist mit Anis Kaabi ein leitendes Mitglied des einflussreichen Gewerkschaftsbunds UGTT in Haft. Die politische Vielfalt der Betroffenen ist groß. Eines haben aber alle gemeinsam: Sie sind Teil der Opposition gegen Präsidenten Kais Saied. 

Die Verhaftungen können als Fortführung des anti-demokratischen staatlichen Umbaus durch den Präsidenten gesehen werden: Im Juli 2021, in einer kritischen Phase der Covid-Pandemie, hatte Kais Saied die demokratisch verabschiedete Verfassung mittels Notstandsdekret außer Kraft gesetzt: Er fror das Parlament ein und löste es im folgenden Winter schließlich auf. Des Weiteren setzte er die Anti-Korruptionsbehörde sowie den obersten Justizrat ab, der durch das Fehlen des Verfassungsgerichts der wichtigste Akteur der Judikative gewesen war. Saied besetzte außerdem das Direktorat der Wahlbehörde ISIE, das seit der Revolution als unabhängiges Gremium die Wahlen organisiert hatte, neu.

Er begründete diese Maßnahmen mit der Korruptheit des politischen Systems. Daraufhin begann der Präsident im Frühling 2022 mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Im Entwurfsprozess bestand sowohl für die Bevölkerung als auch für Akteur:innen der Zivilgesellschaft und Politik die Möglichkeit zur Mitgestaltung. Wobei die Umsetzung stark kritisiert wurde, da viele der Vorschläge letztendlich keinen Anklang fanden oder nicht korrekt im Verfassungsentwurf wiedergegeben wurden. Der Entwurf wurde schließlich per Volksentscheid angenommen, wobei die Wahlbeteiligung mit 30,5 Prozent untypisch niedrig war. Die neue Verfassung akkumuliert den Großteil der Entscheidungsgewalt in den Händen des Präsidenten und schwächt damit das Prinzip der Gewaltenteilung signifikant.

Maßnahmen gegen die Medienlandschaft

Im September 2022 verabschiedete Saied das Präsidentialdekret 54, das die Bekämpfung von Kriminalität in den Informationssystemen und der Kommunikation regeln soll. Die Journalistengewerkschaft SNJT kritisiert, dass das Dekret „ein überzogenes Strafmaß für Pressetätigkeiten vorsieht und darauf abzielt, die Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Vorwand der Bekämpfung von Gerüchten und Informationskriminalität weiter einzuschränken“.

Das Dekret sieht in der Tat Gefängnisstrafen zwischen fünf und zehn Jahren vor. Aus diesem Grund hatte die Gewerkschaft bereits einige Male zu Demonstrationen aufgerufen. Die jüngste fand am Donnerstag, den 16. Februar, vor dem Regierungssitz statt, um an die Gefährdung der Meinungsfreiheit durch das Präsidentialdekret zu erinnern und gegen die Festnahme Noureddine Boutars zu demonstrieren. Drei Tage zuvor war Nourreddine Boutar, Direktor des oben erwähnten Radiosenders Mosaique FM, festgenommen worden. Der Radiosender positioniert sich Kais Saied gegenüber kritisch.

Letzten November beschuldigte Saied während eines Interviews mit Mosaique FM den besagten Radiosender der Verdrehung von Tatsachen und der daraus folgenden politischen Destabilisierung Tunesiens. Die Festnahme Boutars wird in der Medienwelt als Einschüchterungsversuch verstanden.

Lebensmittelknappheit und die Wirtschaftselite

Dem Anschein nach stehen die Festnahme des Radiodirektors und die ebenfalls im Februar stattgefundene Verhaftung Kamel Ettayefs, ein einflussreicher tunesischer Geschäftsmann mit Nähe zum prärevolutionären Regime, in Verbindung, denn Ettayef soll in Boutars Radiosender investiert haben. Gemeinsam mit sieben weiteren Personen der politischen und wirtschaftlichen Elite Tunesiens wird Kamel Ettayef der „Gefährdung der inneren Sicherheit und Kontakt mit ausländischen Behörden“ des Landes beschuldigt. Von Bedeutung ist an dieser Stelle auch, dass Tunesien seit einiger Zeit mit Lebensmittelknappheit zu kämpfen hat, was zum Beispiel Milch, Zucker, Pflanzenöl oder Kaffee betrifft. Gleichzeitig steigt die Inflation weiterhin signifikant, was den Präsidenten erheblich unter Druck setzt. 

Der versucht dem daraus resultierenden Unmut der Tunesier:innen entgegenzuwirken, indem er einerseits auf der Facebookseite der Präsidenz Videos veröffentlicht, die ihn beim Einkauf dieser Produkte zeigen. Sie sollen den Anschein erwecken, es handele sich bei der Lebensmittelknappheit um Fake News. Andererseits beschuldigt Kais Saied Geschäftsleute wie Kamel Ettayef des gezielten Rückhalts der Produkte, um die Preise in die Höhe zu treiben.

Maßnahmen gegen wichtige politische Gegner

Auf der politischen Ebene schlug die Festnahme des ehemaligen Abgeordneten und Ennahdha-Kaders Noureddine Elbhiri am 31. Dezember 2022 wegen Terrorismusverdachts hohe Wellen. Neben ihm wurden in der Woche vom 13. bis 19. Februar 2023 auch der Ennahdha-Politiker Abdelhamid Eljilassy verhaftet, sowie der prominente Ennahdha-Gründer und ehemalige Parlamentspräsident Rached Ghannouchi vorgeladen. Er war seit der Außerkraftsetzung der Verfassung von 2014 mehrmals von der Polizei in Angelegenheiten wie Terrorismusverdacht und Geldwäsche vorgeladen worden.

Die jüngste Vorladung datiert sich auf den 21. Februar. Ennahdha ist die größte tunesische Partei, die in allen postrevolutionären Parlamentswahlen als stärkste Kraft hervorgegangen war  außer bei der letzten Wahlrunde, an der Ennahdha wie viele andere Parteien nicht angetreten ist.

Im Zuge der Covid-Pandemie und aufgrund einiger Korruptionsskandale war die Partei 2021 bei weiten Teilen der Bevölkerung in Ungnade gefallen. Dies war ein entscheidender Faktor bei der bis dato breiten Unterstützung der tunesischen Bürger:innen für Kais Saieds Außerkraftsetzung der Verfassung und der Einfrierung des Parlaments. Seither wurden, in Vergleich zu anderen Parteien mit Regierungsbeteiligung,  auffällig viele Maßnahmen gegen Mitglieder der Ennahdha-Partei eingeleitet. Tatsächlich ist die Partei weiterhin ein ernstzunehmender politischer Gegner, weil sie trotz der Popularitätseinbußen über ein landesweites Netzwerk und eine funktionierende innere Organisation verfügt. 

Der zweite große politische Akteur in Opposition zu Kais Saied ist der Gewerkschaftsbund UGTT, der eine aktive Rolle in der politischen Gestaltung des Landes einnimmt und landesweit organisiert ist. Aus den Reihen der UGTT kam es auch zu einer Festnahme: Anis Kaabi, der Generalsekretär der der UGTT angehörenden Sektorengewerkschaft Syndicat de la société Tunisie Autoroutes, wurde wegen der Organisation eines Streiks am 31. Januar 2023 verhaftet. Kurz darauf, am 18. Februar, mobilisierte der Gewerkschaftsbund zum wiederholten Mal in mehreren Städten Demonstrationen.

Scharfe Kritik aus der Zivilgesellschaft

Neben der Journalist:innengewerkschaft SNJT und dem tunesischen Gewerkschaftsbund, äußerte sich die Tunesische Menschenrechtsliga (LTDH), die gemeinsam mit der UGTT und zwei weiteren Organisationen den Friedensnobelpreis für ihr Engagement im tunesischen postrevolutionären Verfassungsprozess erhalten hatte, zu den Festnahmen und wies darauf hin, dass die Verhaftungen Mitte Februar Formfehler aufweisen.

Zudem verurteilt die Organisation die Bezeichnung der Festgenommenen als Kriminelle und Terrorist:innen, ohne entsprechende gerichtliche Beweisführung. Das tunesische Büro von Transparency International, IWatch Tunisie, beschwert sich in einem Statement bezüglich der Vorfälle über fehlende Transparenz seitens der Staatsanwaltschaft und beschuldigt den Präsidenten ebenfalls der Irreleitung der öffentlichen Meinung.

In Anbetracht der Politik Kais Saieds seit der Außerkraftsetzung der postrevolutionären Verfassung 2021, der Intransparenz der Verhaftungen und der öffentlichen Kampagne gegen die Festgenommenen ohne die Grundlage eines Gerichtsurteils, ist die Bewertung der Vorfälle als weiterer Schritt zur Abkehr von demokratischen Prinzipien naheliegend. Besonders den politischen Pluralismus schränken diese Geschehnisse ein.

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Regina Gennrich, Nawar Diab