29.10.2025
Proteste in Tunesien: Das lange Streben nach Umweltgerechtigkeit
Am Strand von Gabès sind die Spuren der Verschmutzung unübersehrbar. Foto: Philipp Wagner.
Am Strand von Gabès sind die Spuren der Verschmutzung unübersehrbar. Foto: Philipp Wagner.

Tausende Menschen gehen zurzeit in der tunesischen Küstenstadt Gabès gegen Gesundheits- und Umweltschäden auf die Straße. Dahinter stecken langfristige wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten durch die Phosphatindustrie. 

Es sind erschreckende Fotos und Kurzvideos, die seit einigen Wochen auf Social-Media-Kanälen zu sehen sind: Junge Schüler:innen, aber auch Frauen und Männer verschiedenen Alters werden unter Atemnot von Verwandten oder Passant:innen in Krankenhäuser gebracht. Als Folge demonstrieren seit Mitte Oktober Tausende Menschen. Die Aufnahmen stammen aus der tunesischen Stadt Gabès, die im Laufe der letzten Jahrzehnte zum Symbol für ein zerstörtes Idyll wurde.

Gabès liegt an der Mittelmeerküste im Südosten Tunesiens, stadteinwärts liegt die malerische Chenini-Oase mit Palmen, Quellen und Wasserläufen. Bis heute prägen Landwirtschaft und Tourismus die lokale Wirtschaft. Beide Sektoren verlieren jedoch seit der Eröffnung einer Chemiefabrik im benachbarten Industriegebiet Ghannouch 1972 an Bedeutung.

Die aktuellen gesundheitlichen Probleme und die darauffolgenden Proteste sind Folgen von Gasaustritten und Verschmutzungen durch den lokalen Chemiekomplex der Groupe Chimique Tunisien (GCT, auf Deutsch: Tunesische Chemiegruppe). In Tunesien, beispielsweise in der Region Gafsa, wird Phosphat abgebaut. Die staatliche GCT nutzt diesen, um Phosphatdünger herzustellen, und exportiert ihn unter anderem nach Europa

Bei der Produktion entsteht neben giftigen Gasen auch schwach radioaktiver Phosphorgips. Das Unternehmen leitet nach einer Recherche von 2023 täglich rund 14.000 Tonnen des giftigen Abfalls ins Mittelmeer, in der Folge leidet die Biodiversität und geht zurück.

Es sind nicht die ersten Proteste

Das Chemieunternehmen GCT beschäftigt landesweit rund 30.000 Menschen und trägt auch in Gabès zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei. Gleichzeitig leidet die breitere Bevölkerung unter der massiven Verschmutzung und den Gasaustritten. Häufige Atemwegserkrankungen und erhöhte Krebsraten sind in der Region die Folge. 

Nach den Protesten von 2011 und dem Sturz des damaligen Diktators Ben Ali gründete sich das lokale Kollektiv Stop Pollution, um die Umwelt- und Gesundheitsschäden aufgrund der Chemieindustrie anzuprangern. Im Jahr 2017 verhandelten die Aktivist:innen gemeinsam mit anderen Organisationen mit staatlichen Behörden. Sie erhielten tatsächlich das Versprechen, dass der Komplex nach und nach aufgelöst würde. Geschehen ist das bis heute nicht.

Nachdem in den letzten Wochen mehr als 300 Leute wegen Atemproblemen in Krankenhäusern behandelt wurden, sind es jetzt vor allem junge Menschen, die die Mobilisierungen antreiben und gemeinsam mit breiteren Gesellschaftsgruppen auf die Straße gehen – eine Parallele zu Protesten der sogenannten Gen Z in Marokko, Bangladesch oder Madagaskar.

Am 21. Oktober fand in Gabès ein Generalstreik statt, dem auch die Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) gefolgt ist. Mindestens 45.000 Teilnehmer:innen gingen an diesem Tag auf die Straße. Nur wenig später demonstrierten auch in Tunis und in Paris zahlreiche Menschen in Solidarität mit den Menschen in Gabès. In der tunesischen Küstenstadt reagierten die Sicherheitsbehörden in den zwei Wochen vor dem Streik teilweise mit Polizeigewalt. Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren unter anderem willkürliche Festnahmen sowie die Verwendung von Tränengas durch das Militär vor den Toren der Chemiefabrik.

Die Skepsis gegenüber der Industrie sitzt tief

Die Demonstrant:innen greifen neben Gesundheit und Natur auch weitere Dimensionen auf:  Die Phosphatindustrie ist ein exportbasiertes Wirtschaftsmodell und das Beispiel Gabès zeigt, wie wenig lokaler Mehrwert geschaffen wird. So liegt die Arbeitslosigkeit in der Region bis heute bei rund 25 Prozent, während andere Wirtschaftsbereiche wie die Landwirtschaft und Fischerei durch die Umweltzerstörungen negativ betroffen sind. 

Die Erfahrungen der lokalen Bevölkerungen mit der Phosphat- und Chemieindustrie und deren negativen Auswirkungen führen auch zu zivilgesellschaftlichem Widerstand gegen andere geplante exportbasierte Projekte. In Gabès sind beispielsweise Großinvestitionen in erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff geplant. 

Während hier keine giftigen Gase zu erwarten sind, warnen Expert:innen vor zunehmender Land- und Wasserknappheit und gleichzeitig wenig neuen langfristigen Arbeitsplätzen. Die technischen Details des Projekts sind noch nicht bekannt, doch das Vertrauen der Anwohner:innen in den Staat und seine wirtschaftlichen Projekte ist grundsätzlich erschüttert.

Widersprüchliche Ankündigungen der Regierung

Die Demonstrant:innen fordern unter anderem die Stilllegung der Chemieindustrie und die Wiederbelebung der verschmutzten Gebiete an Land und im Meer. Derweil konnten sie kleinere Erfolge erzielen. Ihre Anliegen sind bis zum Präsidenten Kais Saied vorgedrungen, der die Demonstrant:innen in einer Rede gelobt und „sofortige Lösungen“ versprochen hat. Gleichzeitig bewegt sich die aktuelle Regierung auf dünnem Eis, weil sie ein Gleichgewicht zwischen lokalen Anliegen und Wirtschaftsstrategie finden muss. Noch im März hatte die Regierung angekündigt, die Phosphatproduktion in den kommenden Jahren noch zu steigern.

Der Fall Gabès zeigt aber auch, dass sich die tunesische Außenpolitik gewandelt hat: So hat zwar die Europäische Union in den letzten Jahren verschiedene Programme zur Minderung der Umweltverschmutzung in der Region finanziert, in Reaktion auf die aktuelle Protestwelle wandten sich tunesische Entscheidungsträger:innen jedoch an China. 

Wie der Minister für Infrastruktur und Wohnungswesen bekannt gab, sollen chinesische Expert:innen überprüfen, welche Maßnahmen gegen die Umweltverschmutzung ergriffen werden können. Eine ähnliche Zusammenarbeit gab es bereits im Rahmen anderer Großprojekte, wie zum Beispiel dem Neubau einer Brücke in der nördlichen Stadt Bizerte.

Die aktuellen Proteste offenbaren über Gabès hinaus, wie groß die Frustration über andauernde strukturelle und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten in Tunesien ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Fronten zwischen den Behörden und lokalen Gruppen weiter verhärten oder ob die Regierung ihre Versprechen gegenüber der Bevölkerung einlöst.

 

 

 

 

Philipp arbeitet zurzeit als Doktorand am Arnold-Bergstraesser-Institut Freiburg. In seiner Forschung befasst er sich insbesondere mit den Beziehungen zwischen Tunesien und der Europäischen Union im Bereich erneuerbarer Energien, mit einem Fokus auf selektiven Verbindungen und Formen von Depolitisierung. Zu Philipps Interessen zählen politische...
Redigiert von Clara Taxis, Nora Theisinger