20.10.2025
Gen Z will mehr als Brot und Spiele
Demonstrant:innen auf den Straßen Marokkos. Foto: Mosaab Elshamy.
Demonstrant:innen auf den Straßen Marokkos. Foto: Mosaab Elshamy.

In Marokko geht die Jugend auf die Straße und fordert Reformen im Sozialsystem. Die Regierung hingegen setzt auf Prestigeprojekte wie Sportveranstaltungen und reagiert auf die anfangs friedlichen Demonstrationen mit tödlicher Polizeigewalt.

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Die Wut und Frustration der marokkanischen Jugend, die sich unter dem Namen Gen Z 212 (eine Referenz an die Vorwahl des Landes) organisiert hat, war bereits durch den Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf über 35 Prozent im zweiten Quartal 2025 auf einem hohen Niveau. Ein Vorfall Ende September in der südlichen Region Massa löste schließlich Proteste in ganz Marokko aus: Aus Berichten ging hervor, dass mehrere Frauen im staatlichen Krankenhaus Agadirs starben – vermutlich, weil sie auf lebenswichtige medizinische Versorgung warten mussten. Sie starben, weil sie ihre Behandlung nicht rechtzeitig erhielten. Dieser Vorfall traf auf eine ohnehin in der Bevölkerung weitverbreitete Frustration über die marode öffentliche Infrastruktur. Die Bewegung organisierte sich und demonstrierte auf den Straßen Marokkos. Ihre Forderungen: Ein Ende der Korruption, eine Verbesserung des Bildungssystems und würdige Lebensbedingungen für alle.

Ein würdiges Leben hat keine Priorität

„Gesundheitsversorgung zuerst, wir wollen keine WM!“, skandieren die Demonstrierenden und verweisen damit auf die Tode der Frauen in Agadir als klaren Beweis für eine strukturelle Verzerrung der Prioritäten: Die Regierung gibt für den Bau neuer Stadien und Event-Infrastruktur für den African Cup of Nations (CAN) und die Fußball-WM 2030 viele Milliarden US-Dollar aus. Gleichzeitig schafft sie es nicht, eine grundlegende Gesundheitsversorgung für ihre Bürger:innen zu gewährleisten. Für die marokkanische Jugend stellt der Vorfall von Agadir ein klares Zeichen der Vernachlässigung marginalisierter Bevölkerungsgruppen dar. 

Menschen auf dem Land waren sich dieser Realität schon seit Jahren bewusst: Bis heute hat die Regierung es versäumt, die Opfer des Erdbebens in der Region Al Haouz im Jahr 2023 umzusiedeln. Viele von ihnen leben noch immer in Zelten. Ein paar hundert Kilometer westlich von Al Haouz, im Herzen des hohen Atlas-Gebirges, drückte die Bevölkerung bereits Anfang Juli in dem friedlichen Marsch von Aït Bougmez ihre Frustration über dauerhafte Entwicklungsrückstände aus. Die Protestierenden forderten einen niedergelassenen Arzt, der Vollzeit vor Ort ist, befahrbare Straßen und eine Netzwerkanbindung. Diese Forderungen verdeutlichen die generelle Unzugänglichkeit zu öffentlichen Dienstleistungen in Regionen, die ein blinder Fleck im Auge der Regierung zu sein scheinen. Die Sprüche auf den Straßen von Aït Bougmez zogen eine direkte Verbindung zwischen der Krise des Gesundheitssystems und der chronischen Unfähigkeit der Regierung, den Menschen ein würdiges Leben zu gewährleisten.

Von friedlichen Protesten zu staatlicher Gewalt

Die Bewegung Gen Z 212, die die gegenwärtigen Proteste leitet, koordiniert sich hauptsächlich über die Plattform Discord und unterstrich häufig die Wichtigkeit von friedlichen Protesten. Als sie vom Netz auf die Straße kamen, eskalierten die Proteste jedoch schnell. Die Polizei übte Gewalt aus, einige Beamte schossen auf die Demonstrierenden. Die Proteste breiteten sich auf andere Städte und ihre umliegenden Gebiete aus. Dadurch änderte sich schnell die Dynamik – insbesondere in strukturell vernachlässigten Regionen, wie in Lqliâa, nahe Agadir.

Lokale Behörden in Lqliâa berichteten auch dort von Gewalt: Nachdem eine Gruppe von Menschen, von den Behörden als „bewaffnete Menschen“ bezeichnet, die örtlichen Reviere der Gendarmerie stürmten, eröffneten Sicherheitsbeamte das Feuer. Sie töteten mindestens zwei Menschen. Ähnliche Szenen in Oujda: Ein Polizeiwagen überfuhr einen jungen Mann. Die Verletzungen waren so stark, dass sein Bein amputiert werden musste. Diese Gewalt wird in Zahlen der Regierung nicht berücksichtigt, sie stellen den Schaden an öffentlichen Institutionen und Beamten in den Vordergrund.

Chaos-Management und Kommunikation

Die Bewegung hat keinen klaren Anführer und ist dezentralisiert. Das war wichtig für ihren Erfolg, denn so es konnte einer Vereinnahmung von außen vorgebeugt werden. Gleichzeitig stellt das auch eine Schwierigkeit in der Koordinierung von Aktionen auf der Straße dar. In den sozialen Medien kursieren Aufnahmen von Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen und bewaffneten Polizist:innen, sowie Gewalt von Protestierenden in Form von Brandstiftung und dem Schmeißen von Steinen. Daraufhin veröffentlichten einige anonyme Koordinator:innen von Gen Z 212 Statements, in denen sie Gewalt und Vandalismus verurteilten. Sie seien besorgt, dass diese Aufnahmen die demokratischen Forderungen überschatten könnten. Viele von ihnen verstanden jeden Vorfall von Gewalt als einen möglichen Vorwand für Repressionen und eine Diskreditierung ihres Kampfes gegen Korruption und Verfassungsreformen.

Der Konflikt zwischen der Bekräftigung demokratischer Proteste und Ablehnung ungerechter Gewalt zeigt tiefe gesellschaftliche Diskussionen auf. E. Fatima, eine 22-jährige Studentin, die aktiv die Proteste in Rabat unterstützt, drückt ihre Unterstützung für die umstrittene Haltung einiger Organisator:innen der Bewegung wie folgt aus: „Wir haben das Recht zu protestieren, aber wir haben auch die Verantwortung, unsere Nachricht zu verteidigen. Unser Ziel ist eine Verfassungsänderung, die Korruption erschwert. Aber jeder gewalttätige Vorfall gibt den Behörden eine Möglichkeit, um uns zu diskreditieren und zu verhaften“.

Proteste auf den Straßen Marokkos. Foto: Mosaab Elshamy.

Auf genauere Nachfrage erklärt uns ein anonymer Unterstützer von Gen Z 212 die Strategie, Politiker:innen für die Sache zu gewinnen: „Der richtige Weg, um etwas innerhalb der Regierung zu verändern, geht über Wahlen. Wenn wir erfahrenen Politiker:innen vertrauen, können sie uns helfen, Wandel herbeizuführen. Stellt eure Egos ab und vertraut der guten Seite von Politik, bildet Leute weiter: ‚Wählt nicht eine Partei, weil sie euch Geld geben. Wählt, weil ihr auf die Kraft der Partei vertraut‘“.

Der König von Marokko ist die wichtigste Autorität des Landes, dennoch richteten sich die Proteste vor allem gegen die Regierung und warfen ihr Korruption vor. Am Donnerstag, dem 2. Oktober, versammelten sich Tausende von Menschen in der Hauptstadt Rabat, um friedlich zu protestieren. Sie riefen Slogans, die den König Mohammed VI. dazu aufriefen zu intervenieren und die aktuelle Regierung abzusetzen. Die Menge rief: „Die Leute wollen Akhannouch und seine Regierung nicht mehr!“, und: „Die Leute wollen ein Ende der Korruption!“.

Regierung antwortet mit „öffentlicher Sicherheit“

Premierminister Aziz Akhannouch’s Regierung fährt eine Doppel-Strategie: Einerseits hat sie ein Statement veröffentlicht, in dem sie die Bereitschaft der Regierung für einen „offenen Dialog“ signalisiert. Andererseits hat sie eine Reihe von Verhaftungen befehligt und führt eine „sicherheitsorientierte Politik“ durch. Menschenrechtsorganisationen wie die Moroccan Association for Human Rights (AMDH) verurteilt den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und fordert eine unverzügliche Freilassung derer, die auf friedlichen Demonstrationen festgenommen wurden.

Die Repressionen verdeutlichen das Narrativ der Protestierenden: Der Regierung ist die „öffentliche Ordnung“ und ihr Bild auf der internationalen Bühne wichtiger als soziale Reformen. Die Gewalt auf Demonstrationen, die Vernachlässigung ihrer Aufgaben, verdeutlicht durch die Toten in Agadir, die Schießereien in Lqliâa und die nicht beantworteten Forderungen in Al Haouz zeigten der marokkanischen Jugend, dass ihre „Leben weniger wert sind, als das Spektakel der Weltmeisterschaft“, wie prominente Mitglieder von Gen Z 212 in Statements zusammenfassten. Ein Banner einer Gruppe Fußball-Ultras in Casablanca wiederholte diese Kritik. Auf dem Banner stand: „Keine Bildung, keine Ärzte – viel Glück den Armen und ihren Familien“.

Marokkanische Jugend protestiert auf den Straßen des Landes. Foto: Mosaab Elshamy

Die Proteste halten bis heute an. Sie sind alle verbunden durch die zentrale Forderung, Korruption zu beenden. Dieses Ziel erfordere laut Analyst:innen eine Absetzung der meisten, wenn nicht aller Regierungsmitglieder. Dennoch versichern Beamte, die mit dem Premierminister Akhannouch zusammenarbeiten, wie etwa Mohamed Mehdi Bensaid, Minister für Jugend, Kultur und Kommunikation, der Öffentlichkeit ihre „Bereitschaft zu Dialog und der Erkundung von Lösungen“. Dieser Dialog steht aber vor einem Hindernis: Gen Z 212 hat keine Führung, ist nur über Discord und andere Plattformen vernetzt, weshalb sich niemand an einen Verhandlungstisch setzen könnte. Dadurch ergibt sich eine schwierige politische Situation: zwischen einer Wut und Frustration ohne Gesicht, die demokratische Reformen fordert und einer Regierung, die ihre Macht nicht aufgibt.

Während sich die Unruhen verbreiten, wächst die Frustration über die Entscheidung der Regierung, Milliarden in die Vorbereitungen zur Weltmeisterschaft zu investieren, statt Gesundheitsversorgung und Bildung zu fördern. Eine kritische Frage schwebt über Marokkos Zukunft: Werden Marokkaner:innen in fünf Jahren eine erfolgreiche Weltmeisterschaft feiern, oder wird die „Krise der Prioritäten“ tatsächlich eine neue Regierung dazu verpflichten, ihre Versprechen von Gerechtigkeit und Würde einzuhalten?

 

 

 

Islam Aatfaoui is a journalist and communication graduate interested in social and political developments across the region. Her work explores how people express change through culture, media, and everyday life. With a background in digital storytelling and a creative eye, she approaches journalism as both a craft and a form of connection.
Redigiert von Filiz Yildirim, Sören Lembke, Hannah Jagemast
Übersetzt von Sören Lembke