Die EU hat den Weg für ein Migrationsabkommen mit Tunesien geebnet. Dort wird zunehmend autoritär regiert und die Pressefreiheit eingeschränkt. Im Interview spricht die Journalistin Rahma Behi über Folgen für Migrant:innen und Journalist:innen.
Am 16. Juli unterzeichneten der tunesische Präsident Kais Saied und eine Delegation der Europäischen Union eine Absichtserklärung, die einen wichtigen Schritt in Richtung eines von Seiten der EU lang ersehnten Migrationsabkommens darstellt. Um Tunesien zu einer stärkeren Migrationskontrolle zu bewegen, ist die EU bereit, über eine Milliarde Euro an den Mittelmeerstaat auszuzahlen – trotz des autoritären Kurses von Präsident Kais Saied, der sich eines populistischen und rassistischen Diskurses bedient. Die Journalistin Rahma Behi schreibt für das tunesische Online-Investigativmagazin Alqatiba und beobachtet die Lage. Alqatiba wurde 2020 gegründet und gehört zu der Organisation Taqallam for Freedom of Speech and Creativity.
Rahma Behi, Mitte Juli haben europäische Vertreter:innen und der tunesische Präsident Kais Saied die Absichtserklärung zur Ausarbeitung eines Migrationsdeals zwischen der EU und Tunesien unterzeichnet. Was hältst Du davon?
Ich denke, dass der Deal Tunesien zum Gendarmen machen würde, der Migrant:innen und Asylsuchende aufhalten und die Seegrenze der EU weiter schließen würde. Vor allem gibt es einen Satz, der mich stört: In der Absichtserklärung betont Tunesien, kein Ankunftsland für Migrant:innen ohne regulären Aufenthaltsstatus zu sein und weiterhin nur seine eigenen Grenzen zu schützen. Anschließend heißt es, dass das Abkommen dem Respekt der Menschenrechte und dem Kampf gegen kriminelle Schleuser:innen- und Menschenhandelsnetzwerke verpflichtet ist. Dies soll im Rahmen der operationellen Partnerschaft zur Bekämpfung von Menschenhandel und Schleuser:innen zwischen der EU und Tunesien geschehen, deren genauer Inhalt noch diskutiert wird. Grob geht es hierbei um effektivere Grenzkontrollen, die Entwicklung eines Identifikationssystems und Abschiebungen illegalisierter, in Tunesien befindlicher Migrant:innen in ihre Herkunftsländer. Auch die Koordination der Rettungsaktionen im Mittelmeer soll verbessert werden.
Was heißt das genau?
In Bezug auf das sich anbahnende Migrationsabkommen erklärte der ehemalige tunesische Abgeordnete für den Auslandswahlbezirk Italien, Majdi Karbai, dass die EU bzw. Italien nun die tunesische Küstenwache rufen könne, wenn ein Boot mit Migrant:innen im Mittelmeer entdeckt wird. Diese soll die Migrant:innen dann nach Tunesien zurückbringen, damit sie von dort aus in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Die EU will Tunesien außerdem zum sicheren Drittstaat erklären, um illegalisierte Migrant:innen nach Tunesien abschieben zu können, auch wenn diese keine tunesischen Staatsbürger:innen sind. Die Abschiebung von Migrant:innen aus Tunesien in ihre Heimatländer ist dann aber in vielen Fällen nicht umsetzbar, denn die meisten haben keine Papiere.
Hat das Memorandum auch Auswirkungen auf Tunesier:innen?
Bereits jetzt leben viele Tunesier:innen mit irregulärem Aufenthaltsstatus in Europa. Mit dem Abkommen wird das Risiko, dass EU-Staaten sie abschieben, steigen. Man will sie zwingen zurückzukehren und das verstößt meiner Meinung nach gegen die Menschenrechte und das Recht auf Bewegungsfreiheit. Abschiebungen sind keine Lösung. Noch dazu ist es schon jetzt für Tunesier:innen fast unmöglich, ein Visum für die EU zu erhalten, was äußerst demütigend ist.
Die EU will Tunesien im Rahmen des Migrationsdeals finanziell unterstützen. Noch in diesem Jahr sollen 675 Millionen Euro bereitgestellt werden, davon 105 Millionen für den Grenzschutz. Im Rahmen einer neuen „Talentpartnerschaft“ soll es auch Investitionen in Bildung und eine Ausweitung der Studierendenmobilität nach Europa geben. Wie blickt die tunesische Bevölkerung auf das Thema? Stimmt sie den Inhalten des sich anbahnenden Deals zu?
Ja, leider. Viele Tunesier:innen sind dagegen, dass Migrant:innen aus Zentral- und Westafrika in Tunesien leben. Aber wenn sie nun hören, dass es finanzielle Hilfen gibt, übersehen sie, was dieses Abkommen wirklich bedeutet.
Würden Migrant:innen aus Zentral- und Westafrika von einem Abkommen und den hierfür geplanten Finanzhilfen profitieren?
Da bin ich nicht optimistisch. Ich habe zur Lage von Migrant:innen in Libyen recherchiert. Auch dort unterstützt die EU die Küstenwache mit Geld, Material und Training, um Migrant:innen zurückzuhalten. Heute werden Migrant:innen dort wie Sklav:innen verkauft oder befinden sich in Gefangenenlagern. Ich habe mit einigen gesprochen. Die Zustände sind unmenschlich. Ich habe Angst, dass sich das libysche Szenario in Tunesien wiederholt. Ich hoffe natürlich, dass das nicht eintritt – aber als ich von diesem Abkommen hörte, war es das Erste, woran ich dachte. Die EU verfolgt hier und in Libyen dieselbe Strategie: Sie stellt Logistik, Ausbildungen und Geld bereit, damit wir ihre Grenzen sichern.
Außerdem befinden sich diese Migrant:innen jetzt schon in einer extrem schwierigen Lage in Tunesien. Was in letzter Zeit hier passiert ist – die Gewalt gegen Menschen aus Zentral- und Westafrika – ist eine Schande. Ich weiß nicht, wie Tunesien mit noch mehr Migrant:innen umgehen wird und wie Tunesien sie in ihre Herkunftsländer abschieben soll. Das würde auch den Beziehungen Tunesiens zu den betroffenen afrikanischen Staaten schaden und verhindern, dass Tunesien gute und wirkungsvolle Wirtschaftsbeziehungen mit Afrika aufbaut.
Die Popularität des tunesischen Präsidenten nahm in den letzten Monaten ab. Die sich weiter zuspitzende wirtschaftliche Lage des Landes mag ein Grund dafür sein. Der Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der hierbei Abhilfe schaffen soll, wird seit Monaten nicht ausgezahlt, weil Tunesien und der IWF sich nicht auf die Konditionen einigen können. Im Falle einer Übereinkunft stellte die EU weitere 900 Millionen Euro zu denselben Bedingungen in Aussicht. Wie würde sich das Abkommen in dieser Gemengelage auf Präsident Kais Saied und seine Machtposition auswirken?
Kais Saied wiederholt andauernd, dass Tunesien nicht Europas Grenzschützer sei und keine Migrant:innen aufnehmen werde, die nicht tunesisch sind. Eigentlich wissen wir aber nie genau, was im Präsidentenpalast passiert, weil nicht nach außen kommuniziert wird. Die Absichtserklärung haben wir beispielsweise über europäische Quellen erhalten. In Tunesien sind die Details dazu nicht zugänglich. Für Saied ist es jedoch wichtig, das Darlehen des Internationalen Währungsfonds zu bekommen. Das könnte nun mit dem Migrationsdeal einfacher werden. Vielleicht erhofft er sich mit dem Abkommen bessere Konditionen für einen IWF-Kredit. Die wirtschaftliche Lage in Tunesien ist sehr schwierig. Es kommt zu Lieferengpässen bei Lebensmitteln wie Mehl.
Hast du in den letzten Jahren seit Kais Saieds viel kritisierter Verfassungsänderung und dem autoritären Staatsumbau eine Veränderung bei der journalistischen Arbeit wahrgenommen?
Es ist viel schwieriger geworden, an Informationen zu gelangen, vor allem bei Behörden oder Ministerien. Seit der Revolution gibt es in Tunesien ein Recht auf Information, das in Artikel 32 der Verfassung verankert ist. Doch sogar, wenn wir das offizielle Verfahren nach diesem Gesetz befolgen und Beschwerde bei der zuständigen Instanz einreichen, erhalten wir keine Auskunft mehr. Unsere Quellen werden immer vorsichtiger, haben Angst und reden oft gar nicht mehr mit uns, nicht mal anonym. Der Journalist Khalifa Guesmi wurde inhaftiert, weil er sich weigerte, eine Quelle preiszugeben. Wir müssen sehr vorsichtig sein, was wir schreiben, denn das von Saied im September 2022 erlassene Dekret 54 stellt die „Verbreitung gefälschter Nachrichten“ unter eine Gefängnisstrafe von 10 Jahren. Wir stellen deswegen sicher, dass alles, was wir schreiben, mit Dokumenten oder Zeugenaussagen belegt ist. Und dennoch bleibt ein gewisses Risiko. Wir wissen, dass die Telefone mancher Kolleg:innen bei Alqatiba überwacht werden.
Welche Themen sind besonders heikel geworden?
Es ist gefährlich geworden, das Regime zu kritisieren. Wir können über Finanzverbrechen einzelner Geschäftsleute berichten – da droht einem höchstens eine Klage, aber wir sind ja durch Beweise abgesichert.
Beginnen Journalist:innen, sich selbst zu zensieren?
Ja, leider. Vor allem seit der Verhaftung von Noureddine Boutar, dem Chef des regimekritischen Radiosenders Mosaïque FM, im Februar 2023, ist das der Fall. Auch die Klage der Polizeigewerkschaft wegen Verleumdung gegen Elyess Gharbi und Haythem El Mekki, zwei ebenfalls regimekritische Journalisten desselben Radiosenders, im Mai 2023 hat dazu beigetragen.
Laut einer Umfrage der Emrhod Consulting im Juni diesen Jahres unterstützen immer noch mehr als 50 Prozent der Tunesier:innen ihren Präsidenten. Wieso genießt Saied trotz allem so viel Zustimmung?
Viele sind zufrieden, mit dem was er tut. Vor allem wenn er über Korruption und Migration spricht, applaudieren sie ihm. Doch er sagt nichts Konkretes zu Korruption und leitet keine Verfahren ein. Und das, obwohl er ursprünglich mit dem Versprechen angetreten war, die Korruption im Land zu bekämpfen. Dieses Argument machte er sich auch beim Ausruf des Notstandes und der Einfrierung des Parlaments im Juli 2021 zunutze, auf dessen Basis er mit dem Staatsumbau begann.
Macht dir die zunehmende Repression von Journalist:innen manchmal Angst?
Ich habe keine Angst, weil ich wirklich überzeugt bin, dass das, was ich tue, das Richtige ist. Oder wenigstens versuche ich, das Richtige zu tun. Manchmal bin ich mir nicht sicher, was die Zukunft bringen wird. Aber ich bin Journalistin geworden, weil ich helfen will und mache weiter. Bei den Recherchen merke ich, dass ich etwas verändern kann – eines Tages.