Am 11. Oktober 2022 wurde bekannt, dass die Behörden in der tunesischen Hafenstadt Zarzis Leichen von tunesischen Migrant:innen ohne Identifizierungsversuch anonym begraben hatten. Seitdem gibt es tägliche Proteste.
Am 14. Oktober um neun Uhr morgens sind vor der kommunalen Verwaltung von Zarzis schon an die hundert Menschen versammelt und skandieren „dégage“ (frz. „Hau ab“) an die Verwaltung und an die anwesende Polizei gerichtet. Die Demonstrant:innen unterstützen damit einen Sit-In der Familien, die sich in der Suche nach ihren Kindern alleingelassen fühlen. Diese werden seit ihrem Aufbruch nach Italien vermisst.
Der Aktivist Ali Kniss dokumentiert das Geschehen mit einer kleinen Videokamera. Als sich die Menge etwas beruhigt, findet er Zeit, um mir auf der Kante des Bürgersteigs sitzend die Lage zu erklären. „Wir sind hier, um gegen das unmoralische und rechtswidrige Verhalten unserer Behörden zu demonstrieren.“
Die Behörden geben sich keine Mühe
Am 21. September waren 18 Bewohner:innen der Küstenstadt Zarzis in See gestochen um die Küste Lampedusas zu erreichen. Nachdem die Migrant:innen nach drei Tagen kein Lebenszeichen gegeben hatten, meldeten die Angehörigen diese offiziell als vermisst. Zu Beginn kursierte die von staatlicher Seite bestätigte Falschinformation, das Boot befinde sich in Libyen. Dies wurde mit dem Fund der Leiche einer jungen Frau, Maleek, die sich in der Berufsausbildung befunden hatte, an der Küste der Insel Djerba am 6. Oktober widerlegt.
Im Nachhinein kam ans Licht, dass vor ihrem leblosen Körper bereits andere Leichen gefunden worden waren. Sechs Tage nach Aufbruch des Boots, am 27. September, hatten Fischer der Vereinigung Zarzis le Pêcheur vier Leichen entdeckt, diese fotografiert und anschließend der tunesischen Küstenwache übergeben. Anstatt aber anschließend die üblichen DNA-Proben zur Identifizierung zu entnehmen und die Suche nach Hinterbliebenen einzuleiten, hatten die Behörden die Leichname anonym auf dem „Friedhof der Unbekannten“ bestattet.
Die Mutter eines Verstorbenen bekam die Fotos der Fischer zugetragen und konnte ihren Sohn anhand seiner Kleidung identifizieren. Da die Behörden weder sie noch andere Familien der Passagiere des Bootes für den DNA-Abgleich kontaktiert hatten, flog deren Fehlverhalten auf. „Das ist das Resultat einer roboterhaften administrativen Routine“, kritisiert Ali Kniss das Handeln der staatlichen Akteur:innen in der Sache. Zwei Tage später erfahre ich, dass er und der Vater eines Vermissten von der Polizei zusammengeschlagen und für Stunden festgenommen wurden. Der Gewerkschaftsbund UGTT hat sich mit der Ankündigung eines Generalstreiks in Zarzis am kommenden Dienstag der Protestbewegung angeschlossen.
Angehörige bekommen Unterstützung nur von Aktivist:innen
„Wir müssen die DNA-Entnahme für alle gefundenen Leichen verpflichtend machen, denn es gibt viele Migrant:innen, die aus anderen Ländern wie Algerien oder dem Senegal hierherkommen, um nach Italien überzusetzen. Deren Familien haben es natürlich noch schwerer, ihre Vermissten wiederzufinden. Eine DNA-Datenbank erhöht ihre Chancen, Gewissheit über das Schicksal ihrer Lieben zu erhalten“, stellt Ali heraus, raucht schnell seine Zigarette auf und verschwindet mit dem Telefon am Ohr schon wieder in der Menge.
Statt die Angehörigen bei ihrer Suche nach den Vermissten zu unterstützen, ist die tunesische Küstenwache im Auftrag Europas damit beschäftigt, Pushbacks durchzuführen. Damit Tunesien noch effektiver die europäische Agenda der Migrationskontrolle umsetzen kann, wurde mit Italien ein bilaterales Abkommen über elf Millionen Euro unterzeichnet.
Die Suche nach den Vermissten hingegen wird in Zarzis hauptsächlich durch die zivilgesellschaftliche Organisation der Fischer:innen, die Vereinigung Zarzis le Pêcheur, übernommen. Migrant:innen in Seenot wenden sich, anstelle der Küstenwache, an Alarm Phone, ein transnationales Projekt mit einer 24-stündigen Hotline, welches versucht die Seenotrettung zu koordinieren. Bis zum 10. Oktober 2022 waren seit Jahresbeginn laut InfoMigrants 15.182 Tunesier:innen in Italien angekommen. Zarzis ist einer der meistgenutzten Startpunkte für die illegalisierte Überquerung des Mittelmeers und es gibt kaum eine Familie, die nicht eine:n Harraga, wie illegalisierte Migrant:innen in Nordafrika genannt werden, in der Familie hat.
Aus der Schule auf die Straße
Nach Schulschluss schließt sich am 14. Oktober eine Gruppe Schüler:innen der Demonstration vor den Gebäuden der Kommunalverwaltung an. Sie tragen Plakate und Fotos von im Mittelmeer Verstorbenen. Als sich der Demozug, der mittlerweile mehrere hundert Menschen umfasst, auf den Weg durch die Stadt macht, sind die Mädchen an der Spitze.
Ich spreche eines der Mädchen auf das selbstgemalte Bild an, das sie hochhält. „Ich bin hier, weil mein Bruder Mohammed auf dem Weg nach Italien gestorben ist“, erzählt mir die 16-jährige Boussoura. „Auf dem Bild ist mein Bruder und andere Mitfahrer, gemeinsam mit dem Tod, auf dem Boot. Und das“, sie zeigt auf ein weiteres Element auf dem Bild „sind die Tränen der Mütter, die das Meer befüllen.“ Schnell hat mich die Mädchentruppe in ihren Demozug integriert.
Hanine erklärt mir, dass sie auch hier ist, um gegen den Präsidenten Kais Saied zu demonstrieren. „Neben dem Präsidenten sind aber auch die Afrikaner hier ein Problem, die wohnen in Häusern, die die Tunesier dann nicht fertig bauen können und sie nehmen uns die Arbeit weg.“ Die rassistischen Zuschreibungen schockieren mich. Aber auch sie sind Teil des Bildes, das sich vor Ort ergibt.
Am Abend versammeln sich Jugendliche an der zentralen Kreuzung der Innenstadt und blockieren den Weg mit brennenden Autoreifen. „Ich setze ein Zeichen für die verstorbenen Harraga“, erklärt mir ein circa 13-jähriger Junge, der sein T-Shirt um Mund und Nase gebunden hat, um sich vor dem Rauch zu schützen. Die Kreuzung ist umringt von Menschen. Viele dokumentieren das Geschehen mit ihren Handys. Die Polizei zeigt hier keine Präsenz. Zeitgleich findet ein Treffen zwischen einer lokalen Anwaltsvereinigung, den Familien der Vermissten und ausgewählten Aktivist:innen statt, um die Handlungsoptionen der Familien zu evaluieren.
Spaltung an der Frage von Rassismus
Am nächsten Morgen ist die Stadt ruhig. Ich frage, wie ich zum „Friedhof der Unbekannten“ komme. Dort wurden auch die vier Leichname begraben. „Ach ja, der Friedhof, wo vier unserer Leute einfach neben den Afrikanern begraben wurden“, ärgert sich ein Passant. Ich muss schlucken und weiß nicht, ob er damit die Bestattung auf einem nicht-muslimischen Friedhof oder neben Schwarzen Menschen meint und entscheide mich, nicht weiter nachzufragen.
Mir fällt immer wieder auf, wie die Protestbewegung sich entlang der Frage, für wen hier protestiert wird, teilt. Es begegnen mir rassistische Kommentare über Menschen aus Ländern West- und Zentralafrikas, Schwarze Menschen. Auf der anderen Seite gibt es große Solidarität: Viele setzen sich, wie Aktivist Ali Kniss, für die Schicksale aller Betroffenen ein. Auch andere Gedenk- und Protestaktionen in Zarzis bauen auf Solidarität aller Beteiligten. Um den 6. September hatte eine CommemorAction stattgefunden. Familien aus Mali, Algerien und Marokko gedachten den Opfern und demonstrierten gemeinsam gegen das europäische Grenzregime.
Über einen Feldweg erreichen wir den Friedhof. Eine traditionell gearbeitete, gelbe Eingangstür öffnet den Weg ins Innere, das mit kunstvollen Fliesen ausgelegt ist. Zwischen den Gräbern stehen Granatapfelbäume und ein kleiner interreligiöser Gedenkraum. Der Friedhofsgärtner Wafr spricht mich an. „Was Sie hier sehen, ist das Werk des algerischen Künstlers Rachid Koraichi. Er hat einen Ort der Erinnerung für all jene geschaffen, deren Namen wir nicht kennen, egal welcher Religion oder aus welchem Land.“
Auf dem Friedhof liegen 400 Menschen begraben, Platz ist für weitere 200 gibt es. Auf der Rückfahrt mit dem Taxi nehmen wir zwei Frauen mit. Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Neffe von Munira, Seifeddine, 2019 auch auf dem Weg nach Lampedusa verschwunden ist. Nachfragen bei tunesischen, italienischen und französischen Stellen haben kein Ergebnis gebracht.
Lokaler Protest, strukturelles Problem
Ganz Zarzis scheint dieser Tage in Bewegung. Alle sind von dem Thema illegalisierte Migration bereits seit langem direkt oder indirekt betroffen und machen ihrem Ärger nun Luft. Mit den Behörden haben die Menschen ein direktes Gegenüber, an das sie ihre Kritik richten können. „Letztendlich geht es aber gar nicht um die tunesischen Behörden. Das Grundproblem sind die Visaregelungen von Europa.
Während Europäer:innen innerhalb von fünf Minuten unsere Grenze überqueren, durchlaufen Tunesier:innen einen komplizierten, teuren und wenig aussichtsreichen Visaprozess oder begeben sich auf die oft tödliche Route übers Mittelmeer“, kritisiert Ali Kniss. Die Europäische Union jedoch bleibt, 2.450 Kilometer und eine unerbittliche europäischen Außengrenze entfernt, gleichgültig gegenüber den Anliegen der Bewohner:innen von Zarzis.