Am 14. Mai 2023 wählt die Türkei einen neuen Präsidenten und noch nie war der Machterhalt für Recep Tayyip Erdoğan so ungewiss. Nicht nur der Streit um den Zwiebelpreis ist Zeichen der Schwäche des autoritären Präsidenten. Ein Kommentar.
Mehr als zwei Jahrzehnte regiert die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Türkei – dank der ‚charismatischen Führung‘ von Recep Tayyip Erdoğan. Seit einiger Zeit verliert dieser aber an Macht. Als Antwort auf seinen Machtverlust verschärft Erdoğan die autoritären Maßnahmen in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Landes. Die Folge: Der Zusammenbruch der Wirtschaft und des sozialen Gefüges des Landes. Aber was genau geschieht im öffentlichen Raum, jetzt wo die Machtelite so kurz vor den Wahlen durch die Offenlegung ihrer Vergehen herausgefordert wird? Die Staatspartei AKP hat die politische islamistische Bewegung über die letzten Jahrzehnte aufgesogen, bis hin zu einer vollkommenen Identifizierung des politischen Islam in der Türkei und dem türkischen Staat. Erstere hat durch diese Verbindung ihre ‚Ausstrahlung‘ verloren.
Erdoğans politische Allianz ist heute nur noch eine schwammige Gruppierung ohne klare politische Agenda. Nicht so die heutige Opposition. Sie hat es geschafft, einen politischen Block zu bilden, der auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie basiert. Das seit 2018 in der Türkei bestehende Präsidialsystem untergräbt die ohnehin schon problematischen Kontrollsysteme zur Begrenzung der Staatsgewalt. Zudem erlebte das Land unter dem neuen Präsidialsystem einen Verfall in allen Lebensbereichen, insbesondere aber in der Wirtschaft – was sich stark auf den Alltag der Menschen auswirkt.
Wie man eine Zwiebel mit der Faust zerschlägt
So wurde die Zwiebel, ein unverzichtbarer Bestandteil der regionalen Küche, in der stark polarisierten politischen Rhetorik zum heißen Thema. Ihr Preis stieg aufgrund der Inflation dramatisch an. „Sollen sie doch über (die steigenden Preise von) Gurken, Tomaten und Kartoffeln reden, “ äußerte sich Erdoğan angesichts der massiven Preissteigerungen über seine politischen Gegner:innen, „unsere Sache ist großartig. Wir wissen, wie man eine Zwiebel mit der Faust zerschlägt und wie man sie isst. In diesem Land gibt es kein Zwiebel-, Kartoffel- oder Gurkenproblem. Diese Probleme haben wir in der Türkei gelöst.“ Nicht nur der Präsident leugnete die Teuerung, auch das türkische Statistikamt schönte schon 2021 die Inflationszahlen.
Es überrascht nicht, dass Erdoğan versucht, seine schwindenden Stimmen zu retten, indem er an die religiösen und nationalistischen Gefühle seiner „Untertanen“ (Türkisch: tebaa) appelliert. Doch diese politische Polarisierung ist für Erdoğan nicht immer fruchtbar. In den letzten zehn Jahren, insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016, führten Erdoğan und seine Minister ihren politischen Diskurs immer häufiger über Freund-Feind-Dichotomien. Dieser hasserfüllte und polarisierende Ton beeinflusst das soziale Gefüge so massiv, dass es im Grunde nun zweigeteilt ist. Für die Präsidentschaftswahlen reichen 50 plus ein Prozent, also die absolute Mehrheit. Wird diese nicht erreicht, geht die Wahl in eine zweite Runde.
Erdoğans polarisierender Ton lässt keinen Raum für demokratische Aushandlungsprozesse. Integrative Entscheidungsprozesse und grundlegende Menschenrechte der Bürger:innen sind ausgesetzt. Es reicht in der Türkei schon aus, gegen die Zwiebelpreise zu protestieren, um als Terrorist:in bezeichnet zu werden. Ganz zu schweigen von akademischer Freiheit oder der verheerenden Jugendarbeitslosigkeit. Dieser repressive politische Kontext zwang die Opposition in die Defensive. So ist es heute das Privileg der türkischen Regierung und des Staates, die politische Agenda des Landes zu bestimmen – wobei die rechtlichen und in der Verfassung definierte Grenzen, die Staat von Regierung trennten, im Laufe der vergangenen zehn Jahre quasi verschwunden sind. Eine Situation, die den Säkularen, Liberalen und Linken nur den Handlungsrahmen reaktionärer Politik überlässt und sie auf eine Politik des Krieges, des Todes und des Islam beschränkt.
Erdoğan hat den türkischen Staat Schachmatt gesetzt
Im Schatten des Staatsstreichs 2016, der grenzüberschreitenden Militäroperationen und der Hyperinflation stecken die Bürger:innen der Türkei in einem Dilemma: Sollen sie angesichts der vielen Krisen und dem viel beschworenen nationalen Zusammenhalt weiter auf den Reis – Erdoğans Spitzname, der so viel wie „der Chef“ bedeutet – zählen? Oder sollen sie ihn per Wahlstimme, also mit dem Wenigen, was von der parlamentarischen Demokratie der Türkei übrig geblieben ist, entthronen? Wie die Geschichte zeigt, kommen autoritäre Herrscher:innen zwar unter Umständen mit demokratischen Mitteln an die Macht, geben diese aber nach verlorenen Wahlen nur selten wieder ab.
Von Trump bis Bolsonaro, ‚charismatische‘ autoritäre Charaktere tun alles, um die demokratischen Kontrollsysteme der Macht zu beseitigen. Das ist auch die große Herausforderung in der Türkei. Nicht, weil die Türkei keine Erfahrung mit einem demokratischen parlamentarischen Regime hätte – die ersten Versuche begannen Mitte des 19. Jahrhunderts – sondern weil der Reis den türkischen Staat mit all seiner institutionellen, bürokratischen Macht Schachmatt gesetzt hat. Es herrscht Stillstand.
Europa und die USA vermeiden eine klare Kante
Auch in den ‚westlichen‘ Medien ist Misstrauen zu spüren, mal mehr, mal weniger berechtigt. Angesichts der Möglichkeit, dass die Menschen in der Türkei, Kurd:innen und Türk:innen, ihren Diktator mit demokratischen Mitteln stürzen könnten, nehmen die USA und Europa keine klare Haltung ein. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Türkei durch den Völkermord an den Armenier:innen 1915 und dem erzwungenen Bevölkerungsaustausch mit Griechenland 1923 ihre nicht-muslimischen Minderheiten verlor, die einst die soziale Struktur des Osmanischen Reiches ausmachten – und die in der heutigen politischen Situation einen Unterschied machen könnten.
Die unklare Haltung in Europa und den USA spiegelt sich auch in der Frage der syrischen Geflüchteten wider, deren Status quo beide Seiten zufriedenstellt, die Europäische Union und die Türkei unter Erdoğan. Die Syrer:innen selbst sind in dieser Situation Spielball der Polarisierung, denn die größte Oppositionspartei CHP warb im Wahlkampf zentral damit, die Geflüchteten innerhalb von zwei Jahren nach Syrien zurückzuschicken, sobald Frieden und Sicherheit in Syrien hergestellt sind.
Das blutige und schmutzige Flüchtlingsabkommen von 2016 macht die Türkei zu einer Pufferzone für die EU, in der sie Millionen Geflüchteten festhalten kann, ohne sich an den Kosten zu beteiligen. Zwar stellt die EU ein wenig Geld zur Verfügung, es ist jedoch unklar, ob dieses Geld tatsächlich zum Nutzen der Syrer:innen ausgegeben wird. Außerdem ist die EU offenbar nicht bereit, die Verantwortung für diese humanitäre Krise zu übernehmen und dementsprechend zu handeln.
Die Rhetorik Erdoğans hat einen Tiefpunkt erreicht
Erdoğan scheut unterdessen vor keiner Beleidung gegenüber seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP zurück. Bezeichnete er ihn jüngst als Säufer, so wittert er in einer Wahlkampfrede die große Verschwörung: „Wir haben uns, wie immer, im Vertrauen auf Gott, auf unsere Nation und mit unserer guten Partnerschaft in der Volksallianz auf den Weg gemacht. Alle Imperialisten, von Amerika bis Europa, haben sich auf die Seite von Herrn Kemal (Kılıçdaroğlu) und der (oppositionellen) Allianz gestellt.“ Angesichts dieses sinkenden Niveaus, voller Hassreden, Rassismus und Islamismus scheint Reis‘ Chance, das Land weitere fünf Jahre zu regieren, immer kleiner.
Wahrscheinlicher sind Provokationen, gezielte Aktionen, die zu einer Sicherheitsbedrohung führen, um so die Stimmen der Rechten, der Nationalist:innen und der Islamist:innen zu festigen. Am 7. Mai wurden beispielsweise während einer Demonstration in Erzurum, eine als konservative geltende Stadt in Ostanatolien, zahlreiche Steine auf den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu (CHP), geworfen. Dieser musste seine öffentliche Wahlkampfveranstaltung abbrechen, nachdem 30 Menschen verletzt worden waren. Die Polizeibehörde und die Stadtverwaltung gaben sich damit zufrieden, der Gewalt zuzusehen anstatt die Angreifer:innen zu stoppen.
Dass die Polizei nicht eingriff, ist nicht verwunderlich. Dieser Zustand ist das Ergebnis einer Militarisierung und einer diskursiven Polarisierung. Die Regierung kommuniziert ständig in Provokationen, nimmt stets die Opposition auf hasserfüllte Weise ins Visier. Dieser Prozess folgt der Logik des Ausnahmezustands, frei nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel und Zweck ist einzig der Machterhalt Erdoğans.
Am 14. Mai wird sich zeigen, ob Erdoğans Wissen, „wie man eine Zwiebel mit der Faust zerschlägt“, ausreicht, um ihm eine weitere Amtszeit zu sichern.