In ihrer Ethnographie geht Dilar Dirik von der Geschichte über die Theorie zur Praxis der kurdischen Bewegung. Ihr Fokus liegt dabei auf den Frauen vor Ort und ihrer Perspektive auf die Bedeutung einer radikalen Frauenrevolution.
In ihrem Buch „The Kurdish Women’s Movement. History, Theory, Practice“ erörtert Dilar Dirik die kurdische Frauenbewegung, die im Zentrum der kurdischen Freiheitsbewegung steht. Dabei geht sie der Frage nach, was das Konzept der Revolution und spezifischer der Frauenrevolution bedeutet. Ihr Ziel ist es nicht, über die kurdischen Frauen zu sprechen, sondern ihre Stimmen vor Ort einzufangen und zu einem Teppich zusammenzuweben, um ein möglichst getreues Bild der Bewegung wiederzugeben. Grundlage des Buches ist ihre Forschung, die sie im Zuge ihrer Doktorarbeit vollzogen hat. Dennoch ist dieses Buch keineswegs nur für ein akademisches Publikum geschrieben, sondern an alle gerichtet, die an der Geschichte und der aktuellen Praxis der revolutionären kurdischen Frauenbewegung interessiert sind.
Die Wahl ihres Forschungsthemas und ihre Reise nach Kurdistan sind beeinflusst von ihrer Biografie: Geboren in Antakya als Kind kurdischer Eltern, flohen sie und ihre Familie nach Deutschland. Mit ihrer Forschung und diesem Buch möchte Dirik der kollektiven Kriminalisierung kurdischer Gruppen und der Berichterstattung des Globalen Nordens, in der die negative Darstellung der kurdischen Kämpferinnen dominiert, ein nuanciertes Verständnis der Bewegung entgegensetzen.
Die Befreiung der Frauen steht im Zentrum der Freiheitsbewegung
Das Buch ist in drei thematische Kategorien unterteilt: Geschichte, Theorie und Praxis der kurdischen Frauenbewegung. Die Geschichte, wie sie Dirik versteht, wurde und wird aus einem staatlichen und männlichen Blickwinkel geschrieben. Frauen in Kurdistan sind zwei sich überschneidenden Gewaltsystemen ausgesetzt: staatlicher und männlicher Gewalt. Kurdinnen wurden von staatlicher Seite aus vertrieben, enteignet, und ihnen wurde der Zugang zu Bildung und Arbeit verwehrt. Gleichzeitig erfahren sie geschlechtsspezifische Gewalt: häusliche Gewalt, Femizide und Zwangsheirat. Die Erfahrungen, die kurdische Frauen geprägt haben, sind auch Motor ihrer Politisierung.
Dennoch kann nicht von einer homogenen Bewegung die Rede sein. Kurdische Frauen müssen in ihrem spezifischen Kontext gesehen werden. Deshalb erörtert Dirik die unterschiedlichen Kontexte der jeweiligen kurdischen Regionen: Bakurê (Nordkurdistan, südöstlicher Teil der Türkei), Mexmûr (dt. Machmur) und Şengal (dt. Sindschar) (Südkurdistan, im Nordirak), Rojhilatê (Ostkurdistan, nordwestlicher Teil Irans) und Rojava (Westkurdistan, nordöstlicher Teil Syriens).
Die Autorin geht dabei auf die durch den jeweiligen Staat verübte Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung ein, sowie den Widerstand, den sie geleistet haben. Von physischer Selbstverteidigung durch die Frauenverteidigungseinheit YPJ in Rojava über politische Selbstverteidigung, die zum Ziel hat, die kurdische Identität zu stärken, und die Gesellschaft vom Patriarchat und seiner Lesart der (Zivilisations-)Geschichte zu befreien. Kurdische Akademien in Kurdistan lehren eine internationalistische, anti-kapitalistische und anti-koloniale Ideologie.
Der Unterricht in diesen Akademien ist geprägt von Diskussionen und Selbstreflexion. Neben exklusiven Frauengruppen gibt es Programme wie „Killing the man”, in denen männliche Kader dazu aufgefordert werden darzulegen, wie sich patriarchale Strukturen auf ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten auswirken, und wie sie gedenken, diesen entgegnen zu treten. Männer sollen sich von patriarchalen Idealen lösen, indem sie ihr eigenes Verhalten offen darlegen und reflektieren. Wenn ein Mann misogynes Verhalten an den Tag legt oder häusliche Gewalt anwendet, wird er von seiner Rolle und seinem Platz in der Gemeinschaft suspendiert. Er muss sich der Frauenversammlung stellen und wird bis zur Besserung sozial geächtet. Soziale Ausschließung dient als Konsequenz und wirkungsvolles Instrument um männliches Fehlverhalten zu ächten.
Von der Theorie zur Praxis
Es gibt zwei ideologische Konzepte, die die Praxis der kurdischen Freiheitsbewegungen voneinander unterscheiden. Einerseits gibt es Kurd:innen, die abseits der dominanten Weltordnung leben wollen und sich ein eigenes System erarbeitet haben: ein System der konföderalen demokratischen Autonomie mit plurinationalen Prinzipien. Mit den Worten einer Protagonistin des Buches: „Demokratisch konföderale Selbstorganisation stellt eine alternative Kultur und Mentalität dar. Dort finden unterdrückte Identitäten Raum, sich auszudrücken. Es ist ein System der Freundschaft, Kameradschaft, eine Demokratie, die auf dem Befreiungskampf aufbaut (Zitat frei aus dem Englischen übersetzt).” Ein konkretes Beispiel ist das Geflüchtetenlager im Distrikt Mexmûr im Nordirak. Dort wohnen circa 12.000 Kurd:innen, die in den 1990er-Jahren aus ihren Dörfern in der Türkei vertrieben wurden und daraufhin das Camp gegründet haben. Es versteht sich als Teil der kurdischen Freiheitsbewegung und organisiert sich selbst durch Versammlungen, Kommunen und Bildungsakademien.
Andererseits gibt es Kurd:innen, die für einen unabhängigen Staat als Teil des Weltsystems kämpfen. Zum Beispiel in der Türkei: Im Jahr 2014 geht die kurdische Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) über in die Demokratische Partei der Völker (HDP), eine linksgerichtete Partei für alle Bevölkerungsgruppen. Die HDP sieht sich als dritten Weg neben den anderen zwei etablierten türkischen Parteien, der CHP (dt. Republikanische Volkspartei) und der AKP (dt. Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung).
Die HDP verfolgt Prinzipien der geschlechtlichen Parität, die durch die Errungenschaften kurdischer Frauen in der Vergangenheit erkämpft wurden. Mitte der 1990er-Jahre formte sich in der Türkei die linksgerichtete kurdische „Partei der Demokratie des Volkes“ (HADEP). Sie brachte Frauenkommissionen hervor, die vor allem auf Bezirks-und Städteebene wirksam waren. Darauf folgte die Implementierung der ersten Frauenquoten für Wahlen und Verwaltungspositionen auf Parteiebene und das sogenannte „Co-chairing Prinzip”, welches festlegt, dass alle gewählten Posten von einem Mann sowie einer Frau belegt werden müssen. Der Ansatz der HADEP bot Frauen die Möglichkeit der politischen Teilhabe, woraufhin Frauen die politische Agenda weiter beeinflussten.
Jineolojî - Eine Wissenschaft der Frauen
Grundlage der kurdischen Bewegung und der konkreten Umsetzung politischer Agenden ist die Jineolojî. Sie ist die Wissenschaft der Frauen und wird an kurdischen Universitäten gelehrt. Mehr als eine Dekade lang wurden Diskussionplatformen zur Jineolojî in WANA, Europa und Lateinamerika organisiert. Die fundamentale Frage der Jineoloji ist: Wie verwehren die materiellen und ideologischen Bedingungen der Gesellschaft Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen und privaten Leben? Sie versteht sich als Teil der feministischen Bewegung, möchte sich aber von der dominanten Wissenschaft des Globalen Nordens und liberalem Feminismus absetzen. Unter der Prämisse, eine Wissenschaft der Frauen zu sein, schließt sie unterschiedliche, aber vor allem betroffene und marginalisierte Perspektiven, sowie Wissen, das als affektives Wissen eingestuft wird, in ihre Debatte ein.
Die Wissenschaft der Frau beschränkt sich nicht nur auf kurdische Frauen. Sie hat zum Ziel, globale Allianzen aller Befreiungskämpfe auf der Welt zu schaffen, sie ist nicht statisch. Im Austausch mit anderen Frauenbewegungen wächst sie weiter. Sie bleibt auch nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern findet Anwendung in der politischen Teilhabe in den kurdischen Regionen, oder abseits des Nationalstaates. Kern der Jineolojî ist es, Machtsysteme zu dekonstruieren und die Gewalt, die von ihnen ausgeht zu bekämpfen, um alternative Organisationsstrukturen zu kreieren.
Feminismus sollte Machtsysteme hinterfragen
Dilar Dirik schafft es eindrücklich, ihren Leser:innen die kurdische Freiheitsbewegung näherzubringen. Sie führt ausführlich in die Entwicklung und die Ideologie, die der Bewegung zugrunde liegt, ein. Dabei bleibt sie nicht nur auf der abstrakten, theoretischen Ebene, sondern bringt den Leser:innen ihre praktischen Anwendungen in den unterschiedlichen Gebieten Kurdistans näher. Ausführlich erläutert sie Strukturen, Verwaltung und Institutionen der jeweiligen Gebiete.
Dirik nutzt ihre privilegierte Position als Wissenschaftlerin im Globalen Norden, um der vereinfachten Darstellung der kurdischen Bewegung, und vor allem der Frauen, einen umfassenderen Bericht entgegenzusetzen. Ihre Forschung ist durchzogen von Zitaten unterschiedlicher kurdischer Frauen, um ihre eigene Stimme in den Hintergrund treten zu lassen und lokale Perspektiven zu stärken. Sie betont an vielen Stellen, dass Feminismus immer die vorherrschenden Machtsysteme hinterfragen und selbstkritisch sein sollte. Aber allem voran sollte eine feministische Praxis Befreiungskämpfe vereinen. Leser:innen bekommen am Ende der Lektüre des Buches die Botschaft vermittelt, dass Feminist:innen innerhalb des Kapitalismus von Freiheitskämpfen von Frauen am Rande des nationalstaatlichen Systems lernen sollten.
Dilar Dirik: The Kurdish Women's Movement. History, Theory, Praxis. Pluto Press, 2022.