11.06.2024
Der große Wunsch
Das Buchcover von “Der große Wunsch” von Sherko Fatah. ©Luchterhand Literaturverlag
Das Buchcover von “Der große Wunsch” von Sherko Fatah. ©Luchterhand Literaturverlag

Sherko Fatahs Roman spielt im kurdischen Grenzland zwischen Türkei und Syrien und erzählt Murads Geschichte, dessen Tochter von Berlin nach Rakka ging, um sich dem IS anzuschließen. Er fragt sich: Was wollte sie werden? Was war ihr Traum?

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Über viele Seiten begleitet der Roman „Der große Wunsch“ den Protagonisten Murad, der aus Berlin in den türkischen Teil Kurdistans beziehungsweise die Südosttürkei fährt und dort monatelang auf Neuigkeiten von seiner Tochter Naima wartet. Diese ist einige Monate zuvor aus der deutschen Hauptstadt verschwunden – ihr Vater vermutet sie beim Islamischen Staat (IS), auch Daesch, in Syrien. Es ist 2016, kurz vor den ersten Kämpfen um Rakka, die im Herbst 2017 zur Befreiung der Stadt führten. Noch aber hat der IS die Kontrolle über die Stadt, die Zukunft ist ungewiss.

Während seiner Zeit in der nordkurdischen Provinz kommt Murad bei einem alten Ehepaar unter, das ihm ein Zimmer in seinem Haus vermietet. Er verbringt viel Zeit mit ihnen und knüpft auch darüber hinaus neue Bekanntschaften. Etwa mit Adnan, einem jungen Mann, der Murad durch die Region fährt. Mit ihm zusammen besucht er mehrfach eine kurdische Kämpferin, Kara, in ihrem Schützengraben. Murad lernt von ihnen, vertraut ihnen, und doch fühlt er sich meist fremd. Neben Adnan und Kara führt der Autor immer wieder Figuren ein, die zuerst zentral erscheinen – dann aber doch Randfiguren bleiben. Sherko Fatah setzt sie dafür ein, neben Murads Außenperspektive auch die lokale Perspektive auf den IS und die grenzübergreifenden kurdischen Netzwerke in die Erzählung aufzunehmen.

Selbst Naima, die Tochter, kommt nur als Abwesende vor. Kontaktmänner leiten Murad im IS-Gebiet versendete und später von kurdischen Kräften abgefangene Sprachnachrichten weiter, die von Naima sein könnten. Murad ist sich nicht sicher, ob es tatsächlich die Stimme seiner Tochter ist – zu lange ist es her, dass er sie gesprochen hat und zu viel hat er darüber nachgedacht, ob er seine Tochter überhaupt noch kennt. Trotzdem fiebert er jeder neuen Aufnahme entgegen und entspinnt einen inneren Dialog mit dieser jungen Frau, die kleine Einblicke in ihre Gefühlswelt gibt. Murad ist als Vater immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie Naima gleichzeitig seine Tochter und Anhängerin des IS sein kann.

„Ich werde, dachte Murad, glücklich sein, wenn ich sie wiederhabe, ganz sicher werde ich glücklich sein. Aber nichts, wirklich nichts, kann mich versöhnen mit dem, was sie getan hat“.

Murad geht viel wandern, erlebt die Landschaft Kurdistans als einen Spiegel seines Inneren. Fatah gelingt es, immer wieder einzufangen, wie Murad als einer aus der „zweiten Generation“ die Landschaft zwar aus den Erzählungen seines Vaters kennt, sich aber nicht heimisch fühlen kann. Er philosophiert, über seine Tochter, die zu Bruch gegangene Beziehung zu Naimas Mutter und über sich selbst. Seine Gedanken drehen sich um seine Identität als Sohn eines Irakers in Deutschland, um seine Beziehung zu Naima, von der er nicht annahm, dass sie noch eine Verbindung zur Heimat seines Vaters spürte. Und die dann in aller Heimlichkeit gläubig wurde, sich radikalisierte und schließlich einem Mann in die IS-Herrschaft folgte.

Auch der Autor Sherko Fatah ist Deutsch-Iraker, 1964 in Ost-Berlin geboren, später in West-Berlin aufgewachsen. „Der große Wunsch“ ist sein achter Roman und war 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Wie auch in seinen früheren Erzählungen geht Sherko Fatah in die Tiefe, wenn er die Beziehungen zwischen dem irakisch-syrisch-türkischen Grenzland und Deutschland aufzeigt. Während er in anderen Romanen einen Koch aus der Region auf der Flucht nach Europa portraitiert oder einen vom IS in den Irak entführten deutschen Aussteiger, so geht es ihm diesmal um Murad, der versucht zu verstehen, warum seine Tochter sich dem IS anschloss. Wie Fatah im Deutschlandfunk erklärte, läuft es auf die Frage hinaus „warum man sein Leben so radikal verändert“ zugunsten einer Ideologie.

Zum Ende hin nimmt die Handlung plötzlich an Fahrt auf, Murad bekommt die Möglichkeit, doch noch selbst im Grenzgebiet auf die Suche nach Naima zu gehen. Er ändert seine Pläne und muss sich dabei auf seinen langjährigen Freund und Geschäftspartner Aziz aus Berlin verlassen. Dieser kommt bis dahin im Buch nur am Rande vor: Ein Freund, der Murad besuchen will, aber schlecht erreichbar ist und nicht kommt. Die Beziehung zwischen den beiden ist nicht unbelastet, Murad hatte Aziz bestohlen, um Naima suchen zu können. Doch nun erscheint dieser, vermeintlich mit dem perfekten Plan im Gepäck, um Naima zu befreien.

Das Ende kommt dann unvermittelt, schockiert und lässt einen vor dem offenen Buch sitzen. Die Spannung löst sich nicht auf – ein Hinweis darauf, dass es dem Autor vor allem um die existenziellen Fragen geht, die Murad sich im Laufe seiner Isolation stellt und auf die es möglicherweise keine eindeutigen Antworten gibt.

Sherko Fatah: Der große Wunsch. Luchterhand Verlag, München, 2023, 384 Seiten, 25 Euro.

 

 

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und von 2022-2024 übernahm sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Wanda Siegfried, Sophie Romy