Im Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes bieten die sogenannten „Wahrheitszelte“ den Familien von Opfern einen Raum, um über Wahrheit und Gerechtigkeit zu sprechen.
Jad al-Hamada ist der Neffe des bekannten Aktivisten Mazen al-Hamada, der vom früheren Regime zu Tode gefoltert wurde. Er studiert derzeit Betriebswirtschaftslehre und ist einer der Initiator:innen der Wahrheitszelte. Mit dis:orient sprach er über die Forderung nach einer Übergangsjustiz in Syrien.
Hallo Jad, du bist einer der Initiator:innen der sogenannten „Wahrheitszelte“, in denen regelmäßig Familien von Verschwundenen in verschiedenen Teilen des Landes zusammenkommen. Was geschieht dort genau?
Die meisten Teilnehmenden sind Mütter. In jedem Zelt beginnt das Treffen damit, dass sie oder andere Angehörige über die Menschen sprechen, die sie in Assads Gefängnissen verloren haben – und sich gemeinsam an sie erinnern. Dabei wird ihnen bewusst, dass sie dasselbe Leid teilen. Das ermutigt viele, aktiv zu werden und für ihre Rechte einzutreten. Im Anschluss sprechen sie darüber, was sie aktuell brauchen, was sie belastet, welche Aktionen oder Veranstaltungen geplant sind. Juristische Fragen spielen auch eine große Rolle, sowie die katastrophale wirtschaftliche Lage.
Wann und wie hat die Bewegung begonnen?
Das erste Wahrheitszelt fand im Februar in Jaramana (südöstlich von Damaskus) statt. Auslöser war eine Aktion, bei der die Wände der Gefängniszellen des politischen Geheimdienstes übermalt wurden. Das hat uns als Angehörige sehr aufgebracht. Jede Inschrift, jedes Dokument ist ein Beweisstück – und kann helfen, herauszufinden, was mit unseren Vermissten geschehen ist. Daraufhin organisierten wir einen Protest und forderten, dass Geheimdienstzentralen und Massengräber als Tatorte geschützt werden. Gleichzeitig erkannten wir: Die Arbeit der Opferfamilien außerhalb Syriens muss auch im Land selbst stattfinden. In den ehemaligen Assad-Gebieten gab es keinerlei organisierte Opfergemeinschaften. Die Wahrheitszelte sollen genau das ermöglichen: Sie sollen Familien helfen, sich vor Ort zu vernetzen und ihre Anliegen sichtbar zu machen.
Derzeit gibt es Wahrheitszelte in Jaramana, Yarmouk (südlich von Damaskus), Ghouta (süd-westlich von Damaskus) und Salamiya (Westsyrien). Kommen weitere dazu?
Ja, wir arbeiten daran. In der Regel nehmen wir Kontakt zu drei Familien aus einer Stadt oder einem Gouvernement auf. Wir erklären ihnen unsere Grundsätze und Ziele. Wenn sie mitmachen wollen, unterstützen wir sie in organisatorischen Fragen – die Kontrolle bleibt aber immer bei ihnen. Wir geben nur einen Anstoß. Bislang wird uns in der Regel mit Offenheit begegnet, weil viele sehen, dass es in anderen Regionen funktioniert.
Wie war das erste Zelt in Jaramana? Wie hast du die Atmosphäre dort erlebt?
Einerseits war ich stolz und fühlte mich frei: Endlich konnten wir die Fotos unserer Angehörigen zeigen und offen sagen, wer wir sind. Mein Vater war vom Regime gesucht worden – ich durfte früher nicht einmal meinen vollen Namen nennen. Gleichzeitig war es sehr schmerzhaft zu sehen, wie viele Menschen sich versammelt hatten, weil sie jemanden verloren haben. Mindestens 30 Mütter hielten Fotos ihrer Söhne und Ehemänner in den Händen. In Yarmouk kamen etwa 100 Personen, in Ghouta waren es bis zu 500.
„Nach dem Sturz des Regimes sind öffentliches und privates Leben völlig ineinander übergegangen. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“
Wie erleben die Menschen diese neue Realität, in der sie offen sprechen können?
Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung berichten: Mein Vater wurde vom Regime gesucht, das hat mein ganzes Leben geprägt. Ich führte ein Doppelleben: Öffentlich war ich Jad, der Schüler, Freund, Kollege. Privat, zu Hause, wussten nur wir, wer wir wirklich sind. Ich musste ständig aufpassen, was ich sagte. Niemand durfte wissen, dass mein Vater noch lebt. Ich konnte keine Freunde nach Hause einladen. Wenn ich beim Autofahren einen Unfall hatte, konnte ich mich nicht wehren – denn eine Anzeige hätte bedeutet, zur Polizei zu müssen. Und das ging nicht, weil sie nach meinem Vater hätten fragen können. Dieses Leben hat mich zerrissen – fast schon gespalten.
Nach dem Sturz des Regimes sind öffentliches und privates Leben völlig ineinander übergegangen. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Und was mir am meisten wehtut: Es geht so vielen so wie mir, auch in meinem direkten Umfeld. Acht Millionen Syrer:innen wurden vom Regime gesucht. Auch ihre Familien führten diese Art Doppelleben.
Also helfen die Wahrheitszelte den Menschen, ihre Traumata zu verarbeiten…
Nur eine kleine Minderheit ist überhaupt bereit, darüber zu sprechen oder sich zu engagieren. Die meisten Menschen kämpfen darum, ihre Grundbedürfnisse zu decken und irgendwie weiterzuleben. Nicht alle haben das Privileg, wie ich eine Therapie zu machen oder sich weiterzubilden. Die meisten Syrer:innen haben diese Möglichkeiten nicht. Sie ertrinken in ihrem Schmerz.
„Übergangsjustiz wird dann gelingen, wenn alle Syrer:innen an sie glauben. Die Wahrheitszelte können dabei helfen.“
Wie können die Wahrheitszelte zur Übergangsjustiz beitragen?
Nach dem Sturz des Regimes sagten manche: „Wir haben unser Ziel erreicht. Assad hat die Verschwundenen getötet, die neue Regierung trägt keine Schuld.“ Für mich war das inakzeptabel. Wir müssen wissen, was passiert ist. Wir brauchen Entschädigung – materiell oder immateriell. Und damit meine ich nicht einen Obstkorb, sondern das Erinnern: dass öffentlich anerkannt wird, was geschehen ist. Dass Plätze und Schulen nach den Verschwundenen benannt werden.
Ich glaube, immer mehr Menschen verstehen, dass wir Gerechtigkeit und Aufarbeitung brauchen. Die Übergangsjustiz befindet sich dann auf einem guten Weg, wenn wirklich alle Syrer:innen daran glauben. Die Wahrheitszelte helfen, diese Idee in alle Teile der Gesellschaft zu tragen – auch in Regionen, in denen Menschen nur der eigenen Gemeinschaft vertrauen. Die Wahrheitszelte machen über Grenzen hinweg hörbar, was Opferfamilien bewegt.
Ist das der Grund, warum die Wahrheitszelte dezentral organisiert sind?
Ja, genau. Jede Stadt, jede Region hat ihre eigene Kultur. Das müssen wir respektieren. Außerdem wollten wir nicht nur in der Hauptstadt Damaskus präsent sein. Menschen aus allen Landesteilen haben Angehörige verloren, es wäre unfair, sie zu übergehen. Wir möchten, dass sich Betroffene eigenständig organisieren und gemeinsam auftreten gegenüber Öffentlichkeit, Medien und Regierung. Unser Schmerz ist nicht vergangen. Was wir brauchen sind Wahrheit und Gerechtigkeit.
Wie beurteilst du die bisherigen Schritte der Regierung in Richtung Übergangsjustiz?
Bisher gibt es keine echte Übergangsjustiz in Syrien. Es wurde zwar eine Kommission eingesetzt und sie hat sich mit Familien getroffen – das gibt mir ein gewisses Vertrauen – aber die Erklärung, die sie veröffentlicht hat, bleibt problematisch. Sie erwähnt nur die Verbrechen des Assad-Regimes. Uns ist natürlich bewusst, dass 95 Prozent der Verbrechen vom Regime verübt wurden. Trotzdem darf man die Taten anderer Gruppen nicht völlig ausklammern. Ich habe den Vorsitzenden der Kommission, Abdul Basit Abdul Latif, darauf angesprochen. Er sagte, man müsse ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Gerechtigkeit finden. Ich bin da skeptisch – aber es ist eine Perspektive, die man ernst nehmen sollte. Er hat auch zugesagt, einen Weg der Gerechtigkeit zu finden, der alle Konfliktparteien einbezieht.
„Im Moment gibt es nur religiöse Richter oder Richter des alten Regimes. Davon ist keiner akzeptabel.“
Mitte Juni wurde ein syrischer Arzt in Deutschland wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. In der Vergangenheit wurden auch andere syrische Offizielle in Europa verurteilt, einige Verfahren stehen noch aus. Wie blickst du auf die internationale Gerichtsverfahren, verglichen zu den nationalen Bemühungen um Gerechtigkeit?
Ich glaube an nationale Gerichtsverfahren – aber sie müssen unabhängig sein. Aktuell gibt es nur religiöse Gerichte oder die Justiz aus Zeiten des alten Regimes. Beides kann ich nicht akzeptieren. Wir brauchen geregelte Verfahren, wie den Prozess gegen Alaa Moussa in Deutschland. Vielleicht kann es eine Mischung sein: Internationale Standards, aber Verfahren, die in Syrien stattfinden. Es wäre falsch, wenn westliche Länder ihre Agenda durch solche Prozesse durchsetzen würden – aber ich vertraue auch nicht blind auf unser Rechtssystem. Die syrische Regierung ist zwar auf einem guten Weg, aber sie ist als Institution noch sehr schwach. Sie nutzt das vorhandene Wissen und die Erfahrungen nicht. Wir brauchen ein Syrien, das alle Menschen vertritt, unabhängig von ihrer Ideologie.
Dieser Text erschien auf Englisch zuerst auf justiceinfo.net, am 27. Juni. Wir veröffentlichen den Text mit der freundlichen Genehmigung der Autorin.




















