Während sich der Sturz von Assad anbahnte, nahmen Angriffe auf die kurdischen Gebiete in Nordostsyrien zu. Die kurdische Journalistin Khabat Abbas warnt vor dem Wiedererstarken des IS und fürchtet um die Zukunft Rojavas.
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Khabat, was war dein erster Gedanke, als am 8. Dezember klar wurde, dass die Opposition Assad aus Syrien vertrieben hat?
In vielen Teilen Syriens haben die Menschen sofort gefeiert, sie waren froh und erleichtert. Aber für mich war es anders - ich war besorgt. Ich ertappte mich bei der Frage: Was ist die Alternative? Wer sind diese Leute, die als neue Machthaber:innen auftreten? Und vor allem: Was bedeutet das für Minderheiten wie uns Kurd:innen?
Die kurdische Community hatte keine Zeit, den Sturz Assads zu feiern – obwohl wir zu den am stärksten Verfolgten seines Regimes gehörten. Denn parallel wurden wir in unseren Gebieten immer noch von den von der Türkei unterstützten Milizen beschossen und angegriffen. Nein, wir hatten nicht einen Moment der Freude oder auch nur den Raum, um all das Leid zu betrauern, das wir in diesen Jahren ertragen haben. Wir hatten keine Zeit, irgendetwas zu verarbeiten. Stattdessen sind wir sofort in einen Zustand der Selbstverteidigung übergegangen und haben ständig daran gedacht, was als Nächstes kommt.
Die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA), attackierte zunehmend die kurdische Autonomieregion. Wie hat sich die Lage im Nordosten Syriens in den letzten Tagen entwickelt?
Die Konfrontationen entlang der Frontlinien haben sich verschärft, insbesondere durch von der Türkei unterstützten Milizen, wie die SNA. Sie kündigten eine Operation gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) an [der offizielle militärische Flügel der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, der von den USA unterstützt wird, Anm. d. Red.]. Sie heißt Fajr al-Hurriya (dt.: Aufbruch zur Befreiung).
Ihre Angriffe konzentrierten sich auf Gebiete wie Manbidsch, das Umland von Raqqa und die westlichen Euphrat-Regionen, die zuvor unter den von Russland garantierten Vereinbarungen von 2019 standen. Trotz dieser heftigen Angriffe ist es den SDF gelungen, ihre Stellung zu halten und die SNA daran zu hindern, die Kontrolle über diese Gebiete zu übernehmen.
Als Reaktion darauf hat die Türkei ihr Engagement erheblich verstärkt und Drohnen und Kampfflugzeuge eingesetzt. Dennoch ist es der SNA nicht gelungen, die Kontrolle über die Stadt zu erlangen.
Nun haben sich die SDF-Truppen aus Manbidsch zurückgezogen. Das war Teil der US-Vereinbarung, warum?
Die SDF haben hart um Manbidsch gekämpft. Die Stadt ist für die kurdische Volksverteidigungseinheit (YPG) und die Frauenschutzeinheit (YPJ) von großer symbolischer Bedeutung. Im Jahr 2016, während des Kampfes gegen den Islamischen Staat (IS), verloren viele YPG- und YPJ-Kämpfer:innen hier ihr Leben oder wurden schwer verletzt.
Doch trotz des Widerstands und der Opfer, führte die Einmischung von Großmächten wie den USA zu einem Abkommen, das die Kontrolle über die Stadt den von der Türkei unterstützten Milizen übertrug. Um Zivilisten zu schützen, zog sich die SDF zurück. Das ist exemplarisch: In Syrien bestimmen oft die Absprachen der Großmächte das Ergebnis, während der Wille der Menschen vor Ort und ihre erbrachten Opfer kaum Gewicht haben.
Das von den USA vermittelte Abkommen beinhaltet einen Waffenstillstand zwischen den SDF und der SNA in bestimmten Gebieten. Gibt dir das Hoffnung?
Leider war die Erfolgsbilanz der Waffenstillstände in den letzten zehn Jahren miserabel – insbesondere jene, die von Russland garantiert wurden. Selbst mit der Unterstützung der USA gehe ich nicht davon aus, dass sich dieser Waffenstillstand wesentlich davon unterscheidet. Er ist auf bestimmte Gebiete wie Manbidsch beschränkt und deckt nicht den gesamten Nordosten Syriens ab.
Heute [11.12.2014, Anm. d. Red.] gab es Drohnenangriffe in Raqqa und Qamishli - ein klarer Verstoß gegen jede Waffenstillstandsvereinbarung. Die SDF halten sich als die schwächere Partei in diesem Konflikt oft an solche Vereinbarungen, während die Türkei sie häufig missachtet. Ohne Nachdruck oder Konsequenzen für Verstöße sind diese Waffenstillstände kaum mehr als vorübergehende Unterbrechungen der Feindseligkeiten.
Erdogan fliegt seit Jahren Angriffe auf die Region und hat stets auf einen 30 Kilometer breiten Kontrollstreifen auf der syrischen Seite der Grenze gedrängt. Wie schätzt Du die derzeitigen Ambitionen der Türkei ein?
Da die Türkei auf keinen nennenswerten Widerstand stößt, wird sie ihre Pläne vermutlich aggressiv weiterverfolgen. Eine 30-Kilometer-Pufferzone würde alle kurdischen Städte entlang der Grenze, wie Qamishli, umfassen. Dieser Plan würde die kurdische Präsenz in diesen Gebieten effektiv auslöschen. Die Türkei hat bereits die Städte Afrin, Serê Kaniyê und Girê Spî besetzt.
Ohne internationales Eingreifen - sei es durch die USA oder die EU - gibt es wenig, was die Türkei und die SNA aufhalten könnten. Ihre Milizen haben viele Verbindungen zu ehemaligen IS-Kämpfer:innen und scheinen von Rache gegen die Kurd:innen getrieben zu sein. Ihr Ziel ist es nicht nur, inhaftierte Kämpfer:innen aus Lagern und Gefängnissen zu befreien, sondern auch die Kontrolle über ressourcenreiche Regionen zu erlangen. Diese Gebiete enthalten wertvolle Öl-, Gas-, Wasser- und landwirtschaftliche Ressourcen, die die Türkei und ihre Verbündeten ausbeuten wollen.
Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) hat die Absicht geäußert, ein Syrien für alle aufzubauen. Wie gestaltet sich der Kontakt zwischen den SDF und HTS?
Es gibt nicht viele Informationen dazu, aber Anzeichen für ein gewisses Maß an Austausch. So legen Berichte nahe, dass während der jüngsten Übernahme bestimmter Stadtteile von Aleppo Vereinbarungen von der HTS getroffen wurden, die es der YPG und der YPJ erlaubt, die Kontrolle über einige Gebiete zu behalten. Darüber hinaus haben die SDF ihre Bereitschaft bekundet, mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die die Macht in Damaskus übernehmen werden, um Syrien eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Im Nordosten Syriens befinden sich viele IS-Gefangene. Die Autonomieregierung warnt seit Jahren davor, dass sich Gefängnisausbrüche wie in Hasaka 2022 auf Grund der schwierigen Sicherheitslage wiederholen könnten. Planen Gruppen wie die SNA die Befreiung dieser Kämpfer:innen?
Auf jeden Fall. Ehemalige IS-Kämpfer:innen sind jetzt Teil der SNA. Das zeigt sich allein in ihrer Rhetorik und Kommunikation, vorwiegend auf Plattformen wie Telegram. So wird etwa argumentiert: „Warum sind unsere Gefangenen unter kurdischer Kontrolle, während andere, wie die von Sednaya, aus Assads Gewahrsam befreit wurden?“. In der Region gibt es aktive IS-Zellen, von denen einige mit den von der Türkei unterstützten Kräften in Verbindung stehen und die aktiv Anschläge zur Befreiung der Gefangenen planen.
Zusammen mit dem allgemeinen Chaos, das durch die türkischen Angriffe und andere Entwicklungen entstanden ist, macht dies die Situation heikel. Die Gefahr eines Ausbruchs früherer IS-Kämpfer:innen aus den Gefängnissen ist nach wie vor groß und stellt nicht nur für Syrien, sondern auch für den benachbarten Irak eine große Bedrohung dar. Auch die irakischen Behörden haben ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht und mit einem Eingriff gewarnt, sollte die Lage in Al-Hol eskalieren.
Wie reagieren die SDF darauf?
Vor allem im riesigen Camp Al-Hol ist das Risiko groß. Das Gefängnis wird von internen Sicherheitskräften bewacht, die ohnehin schon überlastet sind, weil sie an mehreren Fronten kämpfen und Städte wie Raqqa kontrollieren müssen. Als Vorsichtsmaßnahme wurde in den letzten fünf Tagen in den Städten im Nordosten Syriens eine Ausgangssperre von 20 Uhr abends bis 8 Uhr morgens verhängt. Da Wachpersonal jedoch zu dringenden Prioritäten abkommandiert wurde, ist die Sicherheit der Haftanstalten gefährdet. Trotz ständiger Warnungen in den letzten Jahren hat die internationale Gemeinschaft es versäumt, sich mit dem Problem dieser tickenden Zeitbombe zu befassen.
Siehst du im Moment keine Unterschiede zwischen der SNA, dem IS und anderen islamistischen Gruppen in Syrien?
Für viele gelten diese Gruppen als Oppositionskämpfer und als Alternative zu Assad. Aber für uns sind sie das nicht. Als Frau und als jemand, der in Rojava für Demokratie und Menschenrechte kämpft, kann ich solche Gruppen nicht als legitime Machthaber:innen in Syrien akzeptieren. In den vergangenen 15 Jahren haben wir im Nordosten Syriens ein System aufgebaut, das Minderheiten respektiert und eine Alternative sowohl zum Baath-Regime als auch zu radikalen islamistischen Ideologien bietet.
Der Anführer von HTS, Abu Mohammad al-Dscholani, hatte enge Verbindungen zum IS und ist ein ehemaliges Mitglied der al-Nusra-Front. Er verpasst der HTS ein neues Image und behauptet, Minderheiten wie Drus:innen und Alawit:innen zu respektieren, erwähnt aber nicht einmal die Kurd:innen. In den letzten Tagen haben verschiedene Gruppen Kurd:innen hingerichtet und gedemütigt. Natürlich können wir diesen Leuten nicht trauen. Natürlich können wir unter ihrer Führung keine Hoffnung für Syrien sehen. An Orten wie Latakia und Damaskus sind wieder IS-Fahnen aufgetaucht. Kämpfer:innen aus dem Ausland schließen sich ihnen an. Das sind klare Warnsignale, die die internationale Gemeinschaft nicht ignorieren darf.
Was muss jetzt passieren?
Die Priorität liegt jetzt darin, wachsam zu bleiben und die neue Regierung und die kommenden Entwicklungen vollständig zu verstehen. Es wird Zeit zum Feiern geben, aber später. Jetzt ist es dringend notwendig, eine Verfassung und ein Komitee zu etablieren, die die Vielfalt Syriens wirklich widerspiegeln.