Anspannung, Zweifel, Hoffnung – nach Beginn der Rebellenoffensive erlebte die syrische Community Tage voller Ungewissheit. Sonntagmorgen folgte dann die Nachricht, die lange undenkbar schien: Assad ist gestürzt.
Am 27. November verbreiteten sich die ersten Nachrichten über eine Rebellenoffensive in den vom syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad kontrollierten Regionen Syriens. Von Idlib aus, das sie seit 2018 regieren, griff die Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Regierungsgruppen an und eroberte Aleppo innerhalb weniger Tage.
Viele Syrer:innen in und außerhalb des Landes konnten sich nicht gleich freuen: „Wir wurden einfach zu oft enttäuscht“, kommentierten mehrere meiner Freund:innen. Es gab und gibt viele Fragen, die die Menschen vom Feiern abhielten. Ein anderer Kommentar aus dem Freundeskreis lautete: Ich habe Angst, mich „zu früh“ zu freuen – was wäre, wenn Assad und die Russen weiterhin Städte bombardieren, die bereits von den Rebellen eingenommen wurden? Was wäre, wenn die Russen ihre militärische Basis an der Mittelmeerküste brutal verteidigen? Was, wenn Kämpfe zwischen verschiedenen Rebellengruppen ausbrechen?
Ab Beginn der Offensive im Nordosten Syriens war die Geschwindigkeit des Vormarsches der Rebellen kaum zu glauben. Je weiter sie vorrückten, desto mehr hingen wir – mein Partner, deutsche und syrische Freund:innen – an unseren Bildschirmen. Neben arabischen, deutschen und internationalen Medien sowie Social Media, wo viele Informationen von vor Ort – aber auch viele Fehlinformationen – zu finden waren, nutzten wir eine Website, auf der die neuesten Meldungen auf einer Landkarte dargestellt wurden. Ungläubigkeit und Aufregung wuchsen, während eine von der Regierung kontrollierte Stadt nach der anderen fiel. Mein Freund Modar kommentierte passend: „Es ist, als wäre Vaseline auf den Straßen“ – die Rebellen schienen sich fast ohne Widerstand zu bewegen.
Sind die Rebellen vertrauenswürdig?
Breit diskutiert wurde in meinem Freundeskreis, ob dem HTS zu trauen ist. Sie und ihr Anführer Ahmed al-Scharaa (bekannt als Abu Mohammed al-Dscholani) gingen aus Al-Qaida hervor und haben als Dschihadisten gekämpft. Seit 2016 hat sich ihr politischer Ton zwar verändert, doch das Misstrauen bleibt. Ein weiterer Grund, Dscholanis guten Absichten skeptisch gegenüberzustehen, ist die Herrschaft der HTS in Idlib seit 2018. Sie haben zwar eine funktionierende Verwaltung eingerichtet, aber auch Menschen inhaftiert, die mit ihren Strategien nicht einverstanden waren. Gegen ihre Herrschaft in Idlib wurde immer wieder protestiert.
Seit Beginn ihrer Offensive verbreiteten al-Dscholani (z.B. auf CNN) und andere Sprecher der Rebellengruppen im nationalen Fernsehen folgende Botschaft: „Wir kämpfen für ein Syrien für alle, wir respektieren die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen.“ Vielerorts verhandelten sie offenbar mit den Oberhäuptern lokal einflussreicher Gruppen, bevor sie in die Städte einmarschierten, sodass oftmals Kämpfe und Zusammenstöße vermieden werden konnten.
Wie enthusiastisch meine Freund:innen waren, hing auch davon ab, wo ihre Familien in Syrien zuhause sind. Vor allem für die Menschen im Nordosten Syriens, in den kurdisch kontrollierten Gebieten, gab es wenig Anlass zur Freude: Die HTS setzt zwar derzeit auf Geschlossenheit, sie kooperiert aber auch mit der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA), eine von der Türkei geführte und kontrollierte Miliz. Im Gegensatz zur HTS zog diese nach Osten und nahm die von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierte Region östlich von Aleppo und westlich des Euphrat ins Visier, die Stadt Manbidsch wurde zur Frontlinie. Bei den SDF handelt es sich um eine kurdisch geführte Koalition. Allein in den ersten Tagen der Offensive flohen schätzungsweise 120.000 Menschen in die von der SDF kontrollierten Gebiete, es folgten Berichte über Misshandlungen und Entführungen von SDF-Soldat:innen sowie kurdischen Zivilist:innen.
Hoffnung macht verletzlich
Die Hoffnung wuchs mit jedem Video vom Sturz der Statuen von Vater und Sohn Assad: in Aleppo, später in Hama und dann in Homs. Als die ersten Statuen in den Vorstädten von Damaskus fielen, war es schwer, noch zu glauben, dass das Regime die Nacht überleben könnte. Meine Freund:innen und ich sowie ihre Familien in Syrien blieben wach, aktualisierten ständig die Live- Meldungen und besprachen die neuesten Entwicklungen.
Während wir auf der Karte mit Live-Updates navigierten, kamen viele Geschichten aus den Jahren der Revolution wieder an die Oberfläche: „Sie haben Duma eingenommen! Dort hat das Regime 2018 Chemiewaffen eingesetzt“; „Al-Houla, im Mai 2012 massakrierte das Regime dort 108 Menschen – das löste die ersten internationalen Sanktionen gegen Assad aus“; „Hama, sie haben 1982 durch Hafez al-Assad bis zu 40.000 Menschen verloren, ein schreckliches Massaker.“ Die Massen, die in Homs am Sonntag auf dem Platz mit dem Uhrenturm feierten, rührten viele zu Tränen. Der Platz war auch zu Beginn der Revolution Schauplatz gewaltiger Demonstrationen, die Videos von damals wurden auf Social Media erneut viel geteilt.
In den letzten Tagen haben die Oppositionsgruppen im ganzen Land zahlreiche Gefangene aus berüchtigten Einrichtungen des Assad-Regimes befreit. Fast sofort begannen Videos und Geschichten zu kursieren: Einige der befreiten Menschen waren ihren Familien schon vor Jahren als tot gemeldet worden. Andere kamen nach so langer Zeit aus dem Gefängnis, dass die Angehörigen schon die Hoffnung aufgegeben hatten, sie lebend zu finden. Unter diesen Umständen ist die Hoffnung groß – aber auch die Angst, dass diese Hoffnung durch eine erneute Enttäuschung zunichte gemacht wird. Wie Wafa Mustafa, eine syrische Aktivistin in Berlin, schreibt: „Hoffnung fühlt sich gefährlich an.“ Sie bezog sich damit auf ihre Hoffnung, etwas über das Schicksal ihres Vaters zu erfahren, der 2013 gewaltsam vom Assad-Regime verschleppt wurde.
Der Vater meines Partners ist besorgt über die bitteren Wahrheiten, die den Syrer:innen bevorstehen: Die in den Gefängnissen begangenen Verbrechen werden erst dann in all ihrem Grauen begreifbar, wenn sie ans Tageslicht kommen. Ein erster Hinweis auf den Verlust an Menschenleben ist die Zahl derer, die in diesen Tagen aus den Gefängnissen befreit wurden. Sie ist bei weitem nicht so hoch, wie die der gewaltsam Verschleppten und Verschwundenen.
Und dann war es offiziell: Nichts ist für die Ewigkeit
Später am Samstagabend fragten wir uns: Wann genau ist der Sturz Assads eigentlich wahr? Wenn seine Soldaten den wichtigsten Militärflugplatz aufgeben? Oder, wenn sein Präsidentschaftspalast ohne Schutz zurückgelassen wird? Endlich, in den frühen Morgenstunden, erklärte eine Gruppe der Rebellen in einer Ansprache im staatlichen Fernsehen die Machtübernahme – und auch das syrische Militär bestätigte das Ende der Assad-Ära.
Langsam realisierten wir: Das Regime ist gestürzt. Assad hat das Land verlassen, nach allem was wir wissen. Assad wird das Leben der Syrer:innen nicht mehr kontrollieren. Nichts ist für die Ewigkeit.
Tränen, Kopfschütteln und Anrufe bei Freund:innen und der Familie. Am nächsten Morgen sind die Chats voller Details, die sich vorher niemand vorstellen konnte: Das staatliche Fernsehen sendet, auf dem Pult liegt die Flagge der Revolution. Syriatel, der größte Mobilfunkanbieter des Landes und im Besitz der Regierung, erscheint über Nacht in neuem Gewand. Sein Instagram-Logo ist jetzt mit der Revolutionsflagge geschmückt. Und an der Küste, wo die letzten Assad-treuen Orte vermutet wurden, stürzen die Menschen weitere Assad-Statuen und feiern in den Straßen.
Dies ist der Moment zum Feiern. Es stehen zwar viele Fragen darüber im Raum, wie frei die Syrer:innen in den nächsten Monaten tatsächlich sein werden, ihr politisches System und ihren Weg in die Zukunft zu wählen. Die internationale Gemeinschaft muss die Revolution in Syrien mit allen Mitteln schützen. Befürchtet werden auch die Einmischung der Türkei, Israels und einer ganzen Reihe regionaler und internationaler Akteure. Bereits jetzt, während ich schreibe, am 8. Dezember, führt Israel Luftangriffe in der syrischen Region Daraa durch. Auch Meinungsverschiedenheiten und Zusammenstöße zwischen der HTS, der SNA und den SDF bleiben ein mögliches Risiko.
Und dennoch sind die ersten Schritte innerhalb Syriens vielversprechend – und vor allem: Assad ist Geschichte.