Der „Caesar Syria Civilian Protection Act“[1] oder kurz der Caesar Act von 2019 ist im Juni diesen Jahres in Kraft getreten und belastet die labile Wirtschaft Syriens zusätzlich zum Konflikt . Mit dem Sozialisten und Aktivisten Joseph Daher sprach dis:orient über die politische Ökonomie des syrischen Regimes und die Sanktionen gegen Syrien.
Du hast vor kurzem das Buch mit dem Titel „Syria after the uprising: Political Economy of state resilience“ veröffentlicht, kannst du näher erklären was du mit der „Widerstandsfähigkeit des Staates“ meinst?
Was ich unter „staatlicher Widerstandsfähigkeit“ verstehe, sind die Mittel, mit denen das Regime im Grunde genommen überleben und sich selbst erhalten konnte. In diesem Zusammenhang habe ich in dem Buch mehrere Gründe dafür aufgelistet. Der wichtigste ist zweifellos die Hilfe, die der Iran und Russland während des Krieges auf politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Ebene geleistet haben. Diese staatliche Widerstandsfähigkeit mobilisierte die Bevölkerung durch seine verschiedenen offiziellen und inoffiziellen Netzwerke, und nutzte außerdem Werkzeuge wie Klientelismus oder Militarisierung und die Instrumentalisierung von z.B. Sektierertum, Ethnizität oder Stammeszugehörigkeit. Und auch nach 2014 wurden die traditionellen kollaborierenden Organisationen reaktiviert. Ich würde sagen, es gab ein Comeback dieser Gruppen, wie z.B. die Ba'ath Partei, die allgemeine Föderation der Opposition oder die generelle Föderation der Arbeiter. Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls sehr oft verwendet wurde und sehr wichtig ist, sind Netzwerke von Vetternwirtschaft und Geschäftsleuten, die mit dem Regime verbunden sind.
Du meinst solche wie Rami Makhlouf[2]?
Rami Makhlouf, aber auch der Aufstieg neuer wirtschaftspolitischer Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Samr Foz oder Wassim Qattan und andere. Vor allem Maher Assad gewann während des Krieges immanente politische und wirtschaftliche Bedeutung. Es gibt auch Akteure mit historischem Gewicht wie Mohammed Hamscho[3], der noch vor 2011 aktiv war, aber das Regime fand neue Frontmänner in Geschäftsleuten, die Assad durch Schmuggel und Handelsaktivitäten an der Macht halten.
Dies sind also die Hauptgründe für die Widerstandsfähigkeit des Staates, bzw. warum das Regime sich an der Macht halten konnte.
Auch das Versagen der Opposition war ein Grund. Diese scheiterte daran, schon zu Beginn des Protests, an Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zu appellieren. Tatsächlich wurden die Probleme, die vor dem Krieg in der breiten Opposition bzw. in der organisierten Opposition vorlagen, nur verstärkt, insbesondere in der Koalition zwischen Liberalen und den Muslimbrüdern. Es gab keine sozioökonomische Alternative, ihr Hauptdiskurs bestand in der Kritik an der Korruption und den klientelistischen Netzwerken des Regimes, aber nicht an der neoliberalen Politik, die sie wiederum befürworteten. Das ist typisch für die Muslimbrüder in der gesamten Region, wenn man bedenkt, dass ihre Politik ziemlich neoliberal ist. Die Muslimbrüder scheiterten auch bei der Schaffung einer inklusiven Alternative mit einem sektiererischen, ethnisch basierten Diskurs. Ich denke, das wichtigste Beispiel dafür ist, wie die Opposition der Hisbollah sich mit der kurdischen Frage auseinandergesetzt hat. Sie taten dies in einer sehr chauvinistische Art und Weise, die nicht sehr verschieden von der Rhetorik des Assad Regimes ist.
Du sprichst über Faktoren, die für die Widerstandsfähigkeit des Regimes verantwortlich sind. Zusätzlich hast du deine Dissertation „The political economy of Hisbollah“ auch als Buch veröffentlicht. Wie siehst du hier die Verbindung zu Syrien?
Ich habe 2010 mit meiner Dissertation über die Hisbollah begonnen, also vor dem Aufstand. Die Idee dazu wuchs vor allem nach dem Krieg von 2006, als die Hisbollah zum populärsten Thema in WANA wurde. Ich sehe, dass die Hisbollah einen strikt neoliberalen Weg geht, die jüngsten Entwicklungen im Libanon beweisen meinen Standpunkt. Die Hisbollah ist zu einer bourgeoisen Akteurin geworden und zu einer Partei, die immer mehr Fraktionen der schiitischen Bourgeoisie im Libanon vertritt und mit der iranischen Hauptstadt und deren geopolitischen Interessen verbunden ist. Sie streben eine ständige Koalition mit anderen Fraktionen des bürgerlichen Libanon an. Sogar mit Parteien, die mit dem westlichen Imperialismus in Verbindung stehen und sich pro-sektiererischen Volksbewegungen widersetzten. Die Hisbollah aktivierte 2015 die Bewegung „Neuer Staat“ oder 2011 die Bewegung „Das Volk will den Sturz des Regimes“ in Folge der Aufstände in der Region. Zudem wirkte die Hisbollah tatkräftig an der Zerschlagung von Arbeiter*innenbewegungen mit, vor allem der autonomen.
Als der Aufstand in Syrien begann, hatte ihr Führer Hasan Nazrallah den Diskurs in WANA denunziert, indem er behauptete, „wir sollten diesen Aufstand als Verschwörung des Westens betrachten“, und denselben Duktus nach dem Aufstand in Syrien übernahm, indem er sagte, dieser sei eine Verschwörung, die von Zionisten, Al-Qaida, Daesh, Europa, den USA usw. unterstützt werde. Sie schützte ihre eigenen und die iranischen Interessen, indem sie das Assad-Regime verteidigte. Besonders mit Baschar al-Assad sahen wir nach 2000 eine Zusammenarbeit zwischen dem Iran und der Hisbollah. Während Hafez al-Assad die Hisbollah bei ihren Verhandlungen mit Israel eher als taktisches Instrument einsetzte, vertiefte Baschar al-Assad die Beziehungen hin zu einem strategischen Partner, wie wir während des Aufstands gesehen haben. Und wir können sehen, dass die Rolle der Hisbollah nicht nur in der Konterrevolution im Libanon bestand, indem sie sich den Veränderungen von unten widersetzte, sondern auch in Syrien oder sogar im Irak.
Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir, während wir uns dem westlichen Imperialismus und den Golfmonarchien entgegenstellen, bedenken sollten, dass ein Akteur, dessen Diskurs antiamerikanisch ist, nicht sofort fortschrittlich oder antiimperialistisch ist.
In Bezug auf neoliberale Praktiken, was ist deiner Meinung nach der Einfluss der politischen Ökonomie auf zivile Selbstorganisation in Syrien?
Ich denke, einer der Aspekte, der in Syrien am meisten ignoriert wird, ist die sozial-ökonomische Frage. Deshalb ist es besonders wichtig, Syrien aus der Perspektive der politischen Ökonomie zu betrachten, um die Wurzeln des Aufstands, aber auch seine Entwicklungen zu verstehen. Zum Beispiel neigen wir dazu, zu vergessen, dass die wichtigsten Segmente des Aufstandes die Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Selbstständige aus dem formellen und informellen Arbeitsmarkt waren. Wenn man also die Geographie des Aufstandes betrachtet, sieht man, dass der Aufstand vor allem in den Vororten der großen Städte wie Damaskus, Aleppo und Homs verwurzelt ist. Auch stammen die meisten Menschen, die sich an den Protesten beteiligten, aus mittelgroßen Städten, die vom Staat nicht mit ausreichenden Mitteln ausgestattet wurden, um einen stabilen Dienstleistungssektor zu entwickeln.
Es fehlte ihnen an Infrastrukturen wie Gesundheit und Bildung. So litt Syrien durch Baschar al-Assad besonders unter der Politik des Neoliberalismus von 2000 und davor. Diese Politik erreichte aber im Jahr 2000 seinen Höhepunkt. Vor dem Aufstand lebten 30 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, dazu eine hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Hochschulabsolvent*innen. Damit weist Syrien also ähnliche Charakteristika auf wie andere Orte der Region, die von der gleichen kommerziellen, spekulativen und kapitalistischen Dynamik geprägt sind, mit vielen Investitionen in Finanzdienstleistungen, Tourismus oder Immobilien. Das war eine Entwicklung, die Syrien im Laufe der 2000er-Jahre besonders geprägt hat. Sogar das Baath-Regime kam an die Macht, indem es den Arbeiter*innen und Bäuer*innen sozioökonomische Vorteile verschaffte, immer unter der Bedingung, dass es keine autonome Arbeiter*innenbewegung geben würde. Sie sollte unter der Kontrolle des Staates stehen.
Diese Geschichte der Unterdrückung von Gewerkschaften innerhalb Syriens war also eine Geschichte, die von Hafez, aber insbesondere von Baschar al-Assad geprägt war. Also wurden alle Organisationen vom Staat unterminiert, so zum Beispiel die Berufsverbände der Ärzt*innen, Awält*innen, Journalist*innen, Ingeneur*innen und die Gewerkschaft der Bäuer*innen als auch die Hauptgewerkschaft der Arbeiter*innen. Die Opposition im Jahr 2000 hat dieses Thema nicht aufgenommen. Für die Mehrheit der Syrer*innen war es jedoch ein Hauptthema. Man kann also keinen Diskurs über Demokratie abhalten, ohne ihn mit der sozialökonomischen Frage zu verknüpfen. Dies ist auch in der syrischen Opposition der Fall, die mit der liberalen Bourgeoisie, wie Anwälten*innen und Ärzt*innen, sehr stark verbunden ist.
Wenn man bei den zivilen Basisorganisationen bleibt, wie beeinflusst die steigende NGO-isierung in Syrien den laufenden Konflikt?
Es gab eine große Volksbewegung von unten. Es gab Versuche der Doppelherrschaft, das Regime verschwand aus bestimmten Gebieten. Es gab lokale Koordinationskomitees, die eine wichtige Rolle spielten, sowie Gemeinderäte, lokale Organisationen, Jugendbewegungen, die sich vor Ort organisierten. Das waren alles Versuche der Doppelherrschaft, die wirklich stark waren, mit einem umfassenden, gleichberechtigten Diskurs. Natürlich hatten sie Grenzen, wenn es zum Beispiel um die Rechte von Frauen und Minderheiten ging, aber sie versuchten es, das ist wichtig zu sagen. Während des gesamten Aufstandes war die größte Schwäche die Militarisierung des Konflikts. Zu Beginn gab es Versuche, eine zivile und militärische Basis zu haben. Einige bewaffnete Oppositionsgruppen übernahmen die Strukturen der zivilen Selbstorganisationen. Islamisch-fundamentalistische Gruppen wurden aus den Wurzeln der zivilen Protestbewegung herausgerissen und begannen, die Aktivist*innen sowie kritische Institutionen und Gemeinderäte anzugreifen. Diese Entwicklung trifft nicht auf ganz Syrien zu, da es wirklich schwierig ist, in den vom Regime kontrollierten Gebieten eine Opposition zu bilden.
Meistens fand ein Prozess von NGO-isierung im Ausland statt, z.B. in der Türkei oder im Libanon, aber in einem viel kürzeren Zeitrahmen als zum Beispiel in Palästina. So gründeten ehemalige Aktivist*innen NGOs alsUnternehmen, so dass die Menschen in den südlichen Städten der Türkei anfingen, 3000 bis 5000 Dollar zu verdienen, eine riesige Summe, die sie von Spendern abhängig machen, um ihr Programm fortzusetzen. Gleichzeitig sahen sich diese Organisationen mit zunehmenden Problemen durch die Stärkung der autoritären Politik der Regierungen konfrontiert, besonders in der Türkei nach 2016 mit dem Militärputsch. Im Libanon gibt es eine generelle Zunahme von Repression gegen Syrer*innen, aber auch der in Syrien ansässigen NGOs, welche vom Libanon aus organisiert sind. Eine weitere Verschärfung der Lage ergibt sich, wenn man dazu noch die Finanzkrise seit 2019 mit der Kontrolle des Kapitals hinzufügt, bei dem Bankkonten gesperrt werden und jegliche Transaktion von Geld, sogar das Abheben unmöglich geworden ist. Dadurch wird es für diese Organisationen sehr schwierig, in Syrien humanitäre Hilfe zu leisten.
Daran anschließend, was denkst du, wird der Cesar-Act zu dieser bereits schwierigen Situation beitragen?
Nun, wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das Hauptproblem der Wirtschaft in Syrien die Widerstandsfähigkeit des Regimes und sein Krieg gegen die Bevölkerung mit seiner eigenen wirtschaftlichen Ausrichtung ist. Tatsächlich hat es während des gesamten Krieges die neoliberale Politik vertieft. Insbesondere durch die Instrumente der öffentlich-privaten Partnerschaft (PPP). Sie wurde zum Hauptinstrument für die Privatisierung in der gesamten Region. Wenn wir also sagen, dass das syrische Regime am meisten für die Zerstörung und die wirtschaftliche Situation verantwortlich ist, können wir nicht leugnen, dass der Cesar-Act die sozioökonomischen Probleme in Syrien vertiefen und die Ärmsten in noch größere Armut stürzen wird. Syrien fehlt es heute an Gas und Öl für seine eigene Bevölkerung.
Wenn man also einen ausländischen Akteur hat, der sich in diesem Bereich entwickeln will, wird dieser von Sanktionen betroffen sein. Es verstärkt also die Angst davor, „mit Syrien zu verhandeln“, weil sich niemand wegen der Androhung von Sanktionen mit Syrien befassen will. Alle NGOs, die in Syrien tätig sind, werden also noch tiefere Probleme mit eventuellen Sanktionen haben, zusätzlich zu den bereits bestehenden. Hinzu kommt, dass Sanktionen in der Vergangenheit das Verhalten des Regimes nie geändert haben. Sogar die USA selbst sagen, unser Ziel sei nicht der Sturz oder die Bestrafung des Regimes, sondern lediglich eine Änderung der politischen Ausrichtung, insbesondere in Bezug auf den Iran. Aber dennoch wird die Vetternwirtschaft weiterhin Kapital akkumulieren, während die Mehrheit der Bevölkerung darunter leiden wird.
Joseph Daher ist Redner bei unserer Online-Veranstaltung „Syria’s War Economy – War as a Reform“ am 13.08.2020.
[1]Trump unterzeichnete den Casear Act im Dezember 2019 und beschloss damit Sanktionen gegen Syrien wegen Menschenrechtsverletzungen. Der Name bezieht sich auf den desertierten Militärfotografen mit Decknamen „Caesar“, welcher Tausende von Bildern von Folteropfern des syrischen Regimes aus dem Land schmuggelte.
[2]Der vermögendste und einflussreichste Geschäftsmann Syriens und ein Cousin von Baschar al-Assad.
[3]Syrischer Geschäftsmann mit Verbindungen zur Assad Familie und bekanntgeworden durch diverse Korruptionsdelikte auch bereits vor 2011.