13.07.2023
Lieferdienste boomen, ihre migrantischen Arbeiter treten in den Streik
Sommer 2021, Motorräder warten auf Benzin, Beirut. Foto: Manu Ferneini (IG: manuferneini)
Sommer 2021, Motorräder warten auf Benzin, Beirut. Foto: Manu Ferneini (IG: manuferneini)

Auf der ganzen Welt haben Fahrer:innen von Liefer-Apps die Schnauze voll. Im Libanon organisieren sie sich und streikten mehrmals gegen die lokale Liefer-App Toters. Die Ausbeutung der Arbeiter ist systematisch und fußt auf dem Kafala-System.

Ein Lieferant fährt im Libanon durchschnittlich zwischen 20 und 25 Touren pro Schicht. Die Straßen sind oft in schlechtem Zustand und die Löhne reichen nicht einmal aus, um die Grundbedürfnisse zu decken. Einmal angestellt, muss der Fahrer für seine Ausrüstung zahlen, für eine getragene Uniform, die Liefertasche der Firma und für ein eigenes Motorrad. Mit diesem fährt er seine Lieferungen aus, auch Reparaturen zahlt der Fahrer. Dazu kommt noch ein hohes Risiko, denn die Lieferungen werden meist in bar bezahlt: Wird er ausgeraubt, übernimmt die Firma keine Kosten; das fehlende Geld muss der Fahrer selbst ersetzen. Typische Arbeitsbedingungen in der sogenannten Gig-Economy.

Was ist die Gig-Economy?

Liefer-Apps sind Teil der Gig Economy. Dabei handelt es sich um ein digitales, plattform-basiertes Geschäftsmodel, das als „flacher und partizipativer“ und damit als idealer Ersatz für herkömmliche Geschäftsmodelle beworben wird. Weltweit werden Angestellte der Plattformen als „unabhängige Auftragnehmer“ angestellt. Die Fahrer heißen auch „Klein-Unternehmer“ oder „Selbstständige“. Ihre Arbeit wird durch eine Reihe von Algorithmen gesteuert, die in der Regel in einer Online-App zusammengefasst sind. Dieselbe App verwenden auch die Kund:innen, die die Lieferdienste in Anspruch nehmen.

Toters, Libanons größte Liefer-App, bewirbt das System wie folgt: „Wir bieten den Fahrern die Möglichkeit, eine Ausbildung zu bekommen und gleichzeitig einen neuen Weg, Geld zu verdienen und vollkommen flexibel entscheiden zu können, ob sie arbeiten möchten oder nicht.“

Auf den ersten Blick scheint diese Neugestaltung von Arbeit eine positive Entwicklung zu sein, denn sie verspricht mehr soziale Mobilität. In Wahrheit werden den Angestellten der Plattformen ihre grundlegenden Rechte entzogen, wie zum Beispiel das Recht auf Kranken- und Versicherungsleistungen, das Recht Gewerkschaften zu gründen und zahlreiche weitere Arbeitsrechte. Denn, wenn die hierarchische Natur des klassischen Managementsystems abgelehnt und es als veraltet verurteilt wird, erlöschen auch die Rechte, die gegen dieses System erkämpft wurden.      

Arbeitsmigrant:innen sind der Motor der Gig Economy

Das Herzstück dieser Plattformen sind Arbeitsmigrant:innen , denn sie stellen die Mehrheit der Angestellten. In den vergangenen Jahren haben die vermeintlich flexiblen Arbeitsverträge und Einstellungsverfahren der Gig Economy weltweit eine zunehmende Zahl an Migrant:innen angezogen. Das gilt insbesondere für Großstädte in Indien, Bangladesch und China. Dort hängt die Gig Economy vor allem von Binnenmigrant:innen ab, die meistens von ländlichen Gebieten in die großen Städte ziehen. Dort bieten sie dann Dienstleistungen der Gig Economy an, wie Mitfahrgelegenheiten, Essensauslieferungen sowie Haus- und Care-Arbeit. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Plattform-Unternehmen ohne einen kontinuierlichen Zustrom von Migrant:innen nicht in der Lage wären, ihre Dienstleistungen zu so niedrigen Preisen anzubieten wie heute.

Sollten wir also die Platform Economy und die Ausbeutung ihrer Angestellten als das „kleinere Übel“ hinnehmen, da sie tausende Arbeitsstellen bietet und damit eine Chance, sich aus der Armut zu befreien? Dieses Argument wird seit dem Aufstieg des Kapitalismus gegen Arbeiter:innen verwendet und unterstreicht lediglich, dass die einzige Freiheit im Kapitalismus darin liegt, ausgebeutet zu werden – heutzutage unter der Aufsicht von Algorithmen.

Das Beispiel Libanon

Der Libanon ist ein Mikrokosmos unserer heutigen kapitalistischen Widersprüche. Die aktuelle finanzielle Enteignung zerstörte eine sozio-ökonomische und finanzielle Ordnung, die als unfehlbar galt. Im Zentrum der Enteignung steht ein Netzwerk von politisch und wirtschaftlich einflussreichen Persönlichkeiten, die sehr an der Lebensfähigkeit des Banksektors interessiert sind. Die libanesische Wirtschaft fußte schon immer auf der Arbeit von tausenden von Arbeitsmigrant:innen. Sie werden seit Jahrzehnte maßlos ausgebeutet und prekarisiert, was zur Entstehung einer ‚Reservearmee‘ an Arbeiter:innen geführt hat.

Die Covid-19-Pandemie hat deren sozio-ökonomische Lage weiter verschlechtert und hat gleichzeitig den Markt für kapitalistische Profiteur:innen geöffnet. Lebensmittellieferdienste erlebten während der Pandemie beispielsweise einen Boom, weil Supermarktketten an ihren alten Gewinnspannen festhielten und so billige, kleinere Lieferdienste eine Chance bekamen.

Die Gig Economy profitiert seitdem vor allem im Liefersektor von einer absteigenden Mittelklasse und von Arbeitsmigranten, deren Situation äußerst prekär ist. Die Arbeitskräfte der Gig Economy im Libanon sind meist Libanesen, Syrer und Palästinenser, die der Wirtschaftskrise im Libanon nicht entkommen konnten – und genau sie haben angefangen, sich zu organisieren.

Graffiti "Down with the capitalist system", Beirut. Foto: Manu Feneini (IG: manufeneini)

Toters, die Kafala-App

Toters geht es gut: Im Juni 2022 berichtete das Online-Magazin „Rest of World“, dass die Besitzer von Toters mehr als 15 Millionen US-Dollar an Funding von der International Finance Corporation (IFC), der March Holding und BY Venture Partners einwerben konnten. Einer der Mitbegründer von Toters, Tamim Khalfa, ist ein in Syrien geborener und in Saudi-Arabien aufgewachsener, kanadischer Unternehmer und ehemaliger Systemingenieur. Im Jahr 2011 wechselte er in die Management-Beratung und traf dort seinen Geschäftspartner Nael Halwani. Laut eigener Aussage, kommt Khalfas finanzielles Talent von seinem Willen, die „Risiko-Aversion der Finanzindustrie gegenüber Ländern zu ignorieren, die ein herausforderndes makroökonomisches und politisches Profil haben“, wie beispielsweise der Libanon. Er setzt damit auf die Ausbeutung  von Arbeitsmigranten, die durch das Kafala-System dazu gezwungen sind niedrige Löhne akzeptieren.

Wie anderswo auch baut die Gig Economy ihr Geschäft auf bestehende Arbeitsverhältnisse und -beziehungen auf: Im Fall des Libanon ist es das Kafala- oder Bürgschaftssystem. Laut der feministischen Soziologin Amrita Pande, verlagert das Kafala-System im Libanon die strukturelle Verletzung der Rechte von Migrant:innen in Privathaushalte. Dieses System bringt eine Bevölkerung an leicht auszubeutenden Arbeiter:innen hervor. 

Die Verantwortung der Kund:innen

Von Arbeitern in der Gig Economy wird erwartet, dass sie so effizient funktionieren wie Software und Technologie es berechnen. Prekarisierte Arbeitsmigranten werden nicht nur gegeneinander ausgespielt, sondern stehen auch im Wettkampf mit einem künstlichen Idealbild eines Lieferanten. Dies führt zu einer integrierten Diskrepanz zwischen den von der Software berechneten Vorgaben und den Bedingungen, denen ein menschlicher Zusteller ausgesetzt ist.

Platform Economies machen die privaten Haushalte zwar nicht mehr zu direkten Arbeitgeber:innen dieser Arbeitsmigranten, wohl aber zu ihren Kund:innen. Die Verlagerung von traditionellen Geschäftsmodellen auf Algorithmen überträgt nun Verantwortung auf die Kund:innen. Sie unterstützen das System jedes Mal, wenn sie einen Fahrer für sein Zuspätkommen oder schlechtes Benehmen melden oder sich über die Qualität des Essens beschweren. Jeder Klick, jede Bewertung und wütende Rezension bindet die Nutzer:innen ideologisch an das algorithmische Management und hindert sie daran, die migrantischen Lieferanten als gleichwertige Menschen zu behandeln.

Viele Unternehmen benutzen ein Punktesystem, mit Extrapunkten und Kunden-Feedback, um das Verhalten der Arbeiter:innen nach ihren Wünschen zu beeinflussen. Die Überwachung und Disziplinierung können das Leben eines Fahrers verändern, werden aber gleichzeitig zu Onlinespielen. Gamifizierung ist eine Technik, bei der Arbeit in eine Reihe von Aufgaben umgewandelt wird, die wie ein Spiel erledigt werden können.   

Dieser Prozess ist weder neu, noch ist die Gig Economy die einzige Industrie, die sie anwendet. Die Liefer-App unterstreicht und digitalisiert nur das, was das Kafala-System bereits institutionalisiert hat. Die App macht Klassen- und race-Zugehörigkeiten nicht etwa unkenntlich, sondern betont sie. Gleichzeitig versucht die Gig Economy im Libanon an die Geschichte der Kund:innen anzuknüpfen, die durch das Kafala-System migrantische Arbeiter:innen ausgebeutet haben.

Die Toters-Lieferanten schlagen zurück

Der erster Streik der Fahrer fand im Oktober 2021 vor dem Hauptsitz des Unternehmens statt. Das Management von Toters reagierte, in dem sie bewaffnete Kräfte schickten.  Die Arbeiter streikten, weil ihnen in Zeiten von Treibstoffrationierung und Stromausfällen oft die Bezahlung verweigert wird, wenn der Auftrag von den Kund:innen storniert wurde.

Wie bereits erwähnt, gelten die Fahrer von Liefer-Appen im libanesischen Arbeitsrecht als „unabhängige Auftragnehmer“. Damit haben sie keinen Zugang zu Sozial- oder Gesundheitsleistungen und ihre Arbeitgeber:innen können sie jederzeit entlassen. Das Management ihres Unternehmens hält sie für entbehrlich, ungelernt und leicht ersetzbar. Daher verstärkte das Management die Überwachung und schlägt jedes Anzeichen an Selbst-Organisation der Arbeiter nieder. Als einige Fahrer von Toters anfingen, sich auf WhatsApp und Instagram über ihre Situation und einen möglichen Streik auszutauschen, deaktivierte das höhere Management von Toters ihre Accounts. Sie wurden von der Arbeit ausgeschlossen, bis sie die Beiträge gelöscht hatten.

Trotz der Repressionen führten die Zusteller von Toters im Februar 2023 zwei weitere Streiks durch. Toters berechnet den Kund:innen 90.000 libanesische Pfund (LL; etwa 0,80 Euro nach dem Wechselkurs der Toters-App)[1] Gebühr pro Lieferung. Davon gehen nur etwas mehr als die Hälfte geht an die Fahrer, der Rest verbleibt bei Toters. Die Fahrer forderten, dass die Gebühr offengelegt wird und sie die volle Summe ausbezahlt bekommen. Das Unternehmen beantwortete die Proteste wieder mit Repression, die Organisatoren der Bewegung mussten in den Untergrund gehen.

Diese Bedingungen haben die Fahrer der Lieferdiest-Apps zu einer der am stärksten ausgebeuteten Gruppen der prekären Arbeiterklasse im Libanon gemacht, öffnen aber gleichzeitig Möglichkeiten, sich genau dagegen zu organisieren. Auch wenn sie derzeit verboten sind, zeigen die gegenseitige Hilfe in den Sozialen Medien und die fortgesetzten Streikaktionen den wachsenden Widerstand.

 


[1] Stand 13.07.2023. Die Preise und auch die von jedem Anbieter selbst festgelegte Wechselrate schwanken stark. Der offizielle Wechselkurs entspricht nicht dem vor Ort verwendeten Kurs.

 

 
 
 
Elia ist revolutionärer Kommunist, momentan lebt er in Freiburg. Seine Texte wurden bei The Reservoir, Left Voice, Pluto Press Blog, Spectre Journal, Salvage, imago journal, dem Historical Materialism blog und Jacobin veröffentlicht. Er ist macht seinen PhD und forscht am Arnold Bergstraesser Institut in Freiburg. In seinem PhD Projekt geht es um...
Redigiert von Clara Taxis, Eva Hochreuther
Übersetzt von Eva Hochreuther