22.07.2020
„Ich bin kein Ungläubiger, doch Hunger ist Ketzerei“
„Alles zum halben Preis." Foto: Ginan Osman
„Alles zum halben Preis." Foto: Ginan Osman

Wirtschaftskrise, Massenproteste, Corona, Hyperinflation - und nun eine drohende Hungersnot. Der Libanon steckt aktuell in der schwersten Staatskrise seit Ende des Bürgerkrieges 1990. Wie kam es dazu? Beobachtungen aus Beirut.

Es ist dunkel in Beiruts berühmtester Einkaufsstraße, der Hamra Street. Seit Wochen gibt es kaum Elektrizität und so liegt das Land mit Stromausfällen von bis zu 22 Stunden am Tag im Dunkeln. Grund für die Stromausfälle ist mangelnder Brennstoff, der so wie viele weitere essenzielle Güter gerade knapp wird. Die Dunkelheit scheint jedoch eine passende Metapher für die gravierende Krise zu sein, in der sich der Libanon seit Monaten befindet.

Während sich in Hamra noch vor wenigen Monaten Menschen lautstark um Parkplätze stritten und aus den Bars die Bässe hämmerten, ist es jetzt fast schon unheimlich ruhig. Wer nun durch die Straßen schlendert, sieht in den Schaufenstern vieler Boutiquen statt Sonderangeboten „For Rent“-Schilder. Und als würde die Sommerluft Beiruts mit ihrer Melange aus Müll und Abgasen nicht ohnehin wie eine Bleidecke über der Stadt hängen, scheint nun der Frust und die Verzweiflung der Passant*innen aus jeder ihrer Poren zu kriechen.

Mit jedem Tag verschlechtert sich die Lage. So nahm sich am 3. Juli ein 60-Jähriger Mann mitten in Hamra aus Verzweiflung das Leben. Er hinterließ sein sauberes Führungszeugnis mit dem Satz „Ich bin kein Ungläubiger, doch Hunger ist Ketzerei“, ein Zitat aus einem berühmten Lied des linken Musikers Ziad Rahbani, veröffentlicht inmitten der Misere des Bürgerkriegs.

Ich schreibe diesen Text in meinem Lieblingscafé Café Younes in Hamra, ein beliebter Treffpunkt für viele meiner Freund*innen. Der Dieselmotor, der bei Stromausfall automatisch anspringt, ist überhitzt und alle fünf Minuten sitzen wir in der schwülen Dunkelheit. Der Kaffee ist noch immer gut, aber mittlerweile teurer geworden. Die Gesichter der Baristas und Kund*innen sind müde, das Lächeln gezwungen.

Ein Großteil meiner Bekannten und Freund*innen haben in den vergangenen Monaten ihre Jobs verloren oder erhalten keine Gehaltszahlungen mehr. Statt „Wie gehts dir?“ fragen wir nun „Wie hältst du dich?“ oder vermeiden gar das ganze Thema. An die Stelle der neu gewonnenen Hoffnung einer besseren Zukunft, die noch vor wenigen Monaten mit dem Ausbruch der Protestwelle durchs Land ging, ist Hilflosigkeit getreten.

Der kollektive Missmut ist überwältigend, die Bewältigungsstrategien dafür umso vielfältiger. Immer wieder werde ich nach Details zum Leben und Studium in Deutschland gefragt. Täglich sehe ich verzweifelte, weinende Menschen auf der Straße oder vor den Kühlregalen im Supermarkt, ungläubig über die wieder gestiegenen Preise für Jogurt, Milch und Käse. Ich sehe zu, wie ein Volk, das lange gekämpft hat, nun langsam zerbricht.

Politisches Mismanagement, Konfessionalismus und Korruption

Seit Jahren befindet sich der Libanon in einer Wirtschaftskrise, die sich vor allem im letzten Jahr extrem zugespitzt hat und nun mit der globalen Pandemie ihren dramatischen Höhepunkt erlebt. Heute sprechen Expert*innen von einer Wirtschafts-, Finanz-, Banken- und Währungskrise. Schuld ist das Missmanagement der politischen Klasse, die seit Jahrzehnten mit einer gefährlichen Mischung aus Konfessionalismus, Klientelismus und Korruption das Land in den finanziellen Ruin regiert hat.

Charakteristisch für diese politische Ideologie, die auf einer engen Vernetzung von Politik und Kapital fußt, ist beispielsweise die umfassende und strukturelle Privatisierung staatlicher Leistungen, wie Bildung oder die Gesundheitsversorgung. Die Folge ist eine durch konstant steigende Lebenshaltungskosten und zunehmende Arbeitslosigkeit gespaltene und verarmte Bevölkerung.

Am 17. Oktober 2019 begann aus diesen und weiteren Gründen eine breite Protestwelle gegen die herrschende politische Klasse, Korruption und Armut, die das Land monatelang in Atem hielt. Mit dem Ausbruch der Pandemie und den weitreichender Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Regierung, kamen die Proteste jedoch zu einem abrupten Halt. In dieser Zeit verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage dramatisch und bereits wenige Wochen später brannten die Barrikaden und Banken, vor allem in der besonders marginalisierten Hafenstadt Tripoli im Norden des Landes. Unter dem Credo „lieber riskiere ich am Coronavirus zu sterben, als durch Hunger“, gingen Hunderte erneut auf die Straße.

Der Libanon ist einer der höchst verschuldeten Staaten der Welt. Am 07. März 2020 verkündete Premierminister Hassan Diab offiziell den Staatsbankrott mit der Nachricht, dass die Regierung zum ersten Mal in der Geschichte eine fällige Eurobondrate nicht zurückzahlen werde. Die lokale Währung, die libanesische Lira, befindet sich aktuell im freien Fall und hat in den vergangenen Monaten etwa 85 Prozent ihres Wertes verloren. Während der offizielle, staatliche Wechselkurs noch immer bei 1 US-Dollar zu etwa 1500 Lira liegt, beträgt der Preis auf dem Schwarzmarkt heute bei 1 US-Dollar zu 10.000 Lira. Somit hat die Hyperinflation in der libanesischen Wirtschaft, die stark an den Dollar gekoppelt ist und vor allem auf Importen aus dem Ausland basiert, schwerwiegende Folgen.

Lebensmittelkrise und mögliche Hilfe aus dem Ausland

Praktisch alle Güter im Land sind schlagartig teurer geworden, die Preise im Supermarkt werden fast täglich nach oben korrigiert. Mit einem Preisanstieg um 25 Prozent auf Brot steht nun eine drohende Lebensmittelkrise unmittelbar bevor. Der Import von Lebensmitteln ist so teuer geworden, dass Supermärkte sie sich teilweise nicht leisten können. Nach offiziellen Angaben des UN World Food Programme sind die Preise für grundlegende Lebensmittel wie Öl, Zucker, Reis oder Salz zwischen Herbst 2019 und Mai 2020 durchschnittlich um etwa 56 Prozent gestiegen- inoffizielle Schätzungen liegen mit Zahlen von 150 bis 200 Prozent weitaus höher.

So bleiben viele Supermarktregale leer und kleinere Lebensmittelgeschäfte sehen sich gezwungen, zu schließen. Währenddessen steigt die Armutsrate, die im Herbst noch bei etwa 30 Prozent lag, praktisch täglich und liegt aktuell bei mehr als 50 Prozent. Ende April 2020 schätzte Sozialminister Ramzi Musharrafieh, dass bis zu 75 Prozent der Bevölkerung bald auf Hilfe angewiesen sein werden.

Die Krise betrifft natürlich auch alle anderen Sektoren des öffentlichen, politischen und privaten Lebens, die Auswirkungen auf das stark privatisierte Gesundheitssystem inmitten der globalen Gesundheitskrise sind dabei besonders besorgniserregend: Vertreter*innen der privaten Krankenhäuser kündigten an, bald die Operationen in Krankenhäusern auf Notoperationen zu beschränken. Darüberhinaus entließ die renommierte Amerikanische Universität (AUB) unter schwerer Militärpräsenz gerade 850 Mitarbeiter*innen des zugehörigen Universitätskrankenhauses ohne Vorankündigung.  

Es ist klar, dass das Land ohne ausländische Hilfe nicht auskommen wird und befindet sich aus diesem Grund nun seit Mai in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds. Doch diese Verhandlungen bergen große Unsicherheiten: Was bedeuten mögliche Sparsanktionen und die Ausweitung von Privatisierung in einem Land, das praktisch keine soziale Infrastruktur aufweist und bald zu hungern droht? Der aktuelle Stand der Verhandlungen lässt jedenfalls nichts Gutes verhoffen. Seit Wochen stagnieren die Gespräche und zwei der führenden Personen im libanesischen Verhandlungsteam mit dem IWF haben aufgrund von Differenzen mit der libanesischen Regierung bereits ihre Posten geräumt.

Derweil versagt die Regierung, in effektiver Form auf die dramatischen Zustände zu reagieren. Der führende christliche Politiker Gebran Bassil schlug im Juni vor, statt importierten Wein von nun an libanesischen Wein zu trinken, um die lokale Wirtschaft zu stärken. Hezbollah-Führer Hassan Nasrallah präsentierte seine Idee, die lokale Landwirtschaft zu stärken und forderte die Bevölkerung auf, ihre Lebensmittel von nun an selbst anzubauen. Energieminister Raymond Ghajar verspricht fast täglich eine Verbesserung der Stromversorgung, die seit Anfang Juli praktisch nicht existent ist.

Letztendlich lassen sie alle ihre Bevölkerung im Dunkeln stehen.

 

 

Ginan Osman studiert derzeit Middle Eastern Studies (M.A.) an der American University in Beirut, wo sie sich vertieft mit Politik und Wirtschaft des Landes auseinandersetzt. Zuvor studierte sie Politik des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und Rabat und arbeitete in der deutschen Landes- und Bundespolitik.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Eva Garcke