19.01.2025
Syrische Palästinenser:innen kämpfen für Staatsbürgerschaft
Das größte Vertriebenenlager der palästinensischen Diaspora Yarmuk, wurde zum Schauplatz heftiger Kämpfe. Foto: Abed Bisher
Das größte Vertriebenenlager der palästinensischen Diaspora Yarmuk, wurde zum Schauplatz heftiger Kämpfe. Foto: Abed Bisher

In Syrien leben aktuell etwa eine halbe Million Palästinenser:innen. Nach dem Sturz Assads sind viele unsicher, wie es mit ihnen unter der neuen syrischen Führung weitergeht. Besonders drängt die Frage nach der Einbürgerung in Syrien. 

„Ich kann meine Gefühle kaum beschreiben“, sagt der syrische Palästinenser Abed, nachdem er zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren das Viertel Yarmuk in Damaskus besuchte. „Hier sieht man das Elend in den Augen der Menschen. Die Armut ist so groß, dass die Kinder keine Winterkleidung haben. Man könnte sagen, das Lager gehört nicht zur Dritten, sondern, wenn man so will zur Fünften-Welt“, beschreibt er die katastrophale Situation vor Ort.  

Der am Rande von Damaskus liegende Stadtteil Yarmuk ist das größte palästinensische Vertriebenenlager in der Diaspora. Vor dem Krieg in Syrien lebten dort mehr als eine Million Menschen, darunter 160.000 Palästinenser:innen. Doch im Laufe des Krieges wurde Yarmuk seit 2012 zur Kampfzone zwischen dem ehemaligen Regime und den Rebellen. Yarmuk ist ein Beispiel für das Zusammenleben zwischen Syrer:innen und Palästinenser:innen, die in ihrem Viertel alles miteinander teilten: Zuerst ihre Kultur und wirtschaftlichen Beziehungen, dann Zerstörung, Hunger und Tod. 

Nach dem Sturz Assads feierten auch die Palästinenser:innen in Syrien diesen historischen Moment. Viele schöpften neue Hoffnung darin, sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen, um ein neues Syrien für alle Syrer:innen zu gestalten, ob Christ:innen, Kurd:innen, Drus:innen, Alawit:innen oder Sunnit:innen - auch für sie als syrische Palästinenser:innen, die bisher keine syrischen Staatsbürger:innen sind. 

Flucht nach Syrien 1948

Palästinenser:innen in Syrien sind eine Gruppe von palästinensischen Geflüchteten, die nach dem Krieg im Jahr 1948 aus Palästina vertrieben wurden. Im Jahr 1949 registrierte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) etwa 80.000 Palästinenser:innen, die nach Syrien geflohen waren. UNRWA ist für palästinensische Geflüchtete in Syrien sowie im Libanon, in Jordanien und im Gazastreifen zuständig und hat in Syrien den Auftrag, den palästinensischen Vertriebenen dort Gesundheits-, Bildungs-, Hilfs- und Sozialdienste zur Verfügung zu stellen.

Nach UNRWA-Angaben lag die Zahl der Palästinenser:innen in Syrien bis Ende 2020 bei etwa 600.000.  Sie leben in neun offiziellen Flüchtlingscamps in Daraa, Homs, Hama, Neirab, Sayyida Zeinab, Dscharamana, Khan Al-Sheih, Khan Dannoun und Al-Sabina sowie in drei inoffiziellen Flüchtlingscamps in Raml in Latakia, Ein al-Tal nordöstlich von Aleppo und Yarmuk in Damaskus. 

Die Palästinenser:innen in Syrien vor dem Krieg

Die palästinensischen Geflüchteten erhielten einen Rechtsstatus, der es ihnen erlaubt, zu arbeiten, Eigentum zu besitzen, Krankenhäuser zu besuchen, eine Ausbildung zu absolvieren und zu studieren, ohne die syrische Staatsbürgerschaft zu innezuhaben. Das Gesetz Nr. 260 vom 10. Juli 1956 besagt: „Palästinenser, die sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gesetzes auf dem Gebiet der Arabischen Republik Syrien befinden, werden in allen Angelegenheiten, die in den geltenden Gesetzen und Verordnungen vorgesehen sind, als Syrer ihrer Herkunft betrachtet, mit dem Recht auf Beschäftigung, Arbeit, Handel und Wehrdienst, wobei sie ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit behalten“. 

Für die Belange der palästinensischen Geflüchteten wurde daher am 25. Januar 1949 eine eigene Institution geschaffen, die General Authority for Palestine Arabian Refugees. Diese Behörde ist seit 1958 dem syrischen Ministerium für Soziales und Arbeit unterstellt und galt als strategisches Bindeglied zwischen der UNRWA und der syrischen Regierung. Die Hauptaufgabe dieser Behörde bestand darin: „Die Angelegenheiten der palästinensisch-arabischen Flüchtlinge zu organisieren, ihnen zu helfen, ihre verschiedenen Bedürfnisse zu befriedigen, geeignete Arbeitsplätze für sie zu finden und Maßnahmen vorzuschlagen, um ihre gegenwärtige und zukünftige Situation zu bestimmen.“

Allerdings verhindert das Gesetz trotz dieser Rechte die Einbürgerung von Palästinenser:innen und deren Kindern in Syrien, um so ihr Recht auf Rückkehr in die Heimat zu wahren. Allerdings beschloss das syrische Innenministerium am 2. Oktober 1963, den in Syrien lebenden palästinensischen Geflüchteten Reisedokumente auszustellen, sofern sie bei der General Authority for Palestine-Arab Refugees registriert sind.

Palästinenser:innen in der syrischen Revolution

Dank dieser Gesetze konnten sich die Palästinenser:innen am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben in Syrien teilnehmen und wurden so im Gegensatz zu den im Libanon lebenden Palästinenser:innen, ein Teil der Gesellschaft. Nach dem Ausbruch der syrischen Revolution gegen die Diktatur von Baschar Al-Assad entschieden sich daher viele, an der Seite ihrer syrischen Mitmenschen zu stehen. Viele nahmen an Demonstrationen teil und einige kämpften auf der Seite der Rebellen gegen das Regime. 

Die Jahre des Konflikts in Syrien hinterließen schwerwiegende Folgen und schmerzhafte Erinnerungen bei den palästinensischen Geflüchteten. Laut der Menschenrechtsorganisation Action Group for Palestinians of Syria wurden in den vergangenen dreizehn Jahren mehr als 4000 Palästinenser:innen getötet und mehr als 3000 in den Foltergefängnissen des Regimes verhaftet. Nur 46 von ihnen wurden nach dem Sturz Assads aus den Foltergefängnissen entlassen, andere werden weiterhin vermisst. 

Ihre Häuser sind ganz oder teilweise zerstört, Zehntausende wurden innerhalb und außerhalb Syriens vertrieben. Allein seit 2011 verließen etwa 150.000 palästinensische Flüchtlinge aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage Syrien und verteilten sich hauptsächlich auf den Libanon, Jordanien und die Türkei; einige Tausend leben auch in Ägypten und Europa. 

Nach Assads Sturz

Angesichts des Sturzes des Assad-Regimes und der laufenden politischen Prozesse zum Aufbau eines syrischen Staates auf der Grundlage einer neuen Verfassung stellt sich die Frage nach der Zukunft der beim UNRWA registrierten palästinensischen Geflüchteten in Syrien. 

Die neue Führung in Syrien berief Palästinenser:innen in Schlüsselpositionen wie dem Energieministerium trotz fehlender syrischer Staatsbürgerschaft. „Die Ernennung eines syrischen Palästinensers in eine solche Position innerhalb der neuen Führung bestätigt, dass die Palästinenser ein integraler Bestandteil der syrischen Gesellschaft und der Revolution sind und eine Rolle beim Aufbau des neuen Syriens spielen werden“, sagt Ayman Abu Hashem, Generalkoordinator der NGO Syrisch-Palästinensischen Versammlung (Masir). Bisher sieht es also nach einer angemessenen Beteiligung von Palästinenser:innen am Wiederaufbau in Syrien aus.

Es braucht politische Entscheidungen

Doch um diese Beteiligung zu bekräftigen, müssen die neuen Entscheidungsträger:innen in Syrien weitere Schritte unternehmen. Konkret müsste es um das Recht auf Einbürgerung für syrische Palästinenser:innen gehen, und zwar ohne die palästinensische Staatsbürgerschaft ablegen zu müssen, um auch nach Palästina zurückkehren zu können. „Ob die syrischen Palästinenser:innen in Syrien vollständig akzeptiert werden oder nicht, misst sich nicht an den Palästinenser:innen, die jetzt oder in Zukunft ein politisches Amt bekleiden, sondern an der Anerkennung dieser Gruppe als syrische Staatsbürger:innen.“, erklärt Abu Hashem. 

Eines steht fest: Ob die Anerkennung als syrische Bürger:innen für die palästinensischen Geflüchteten zukünftig in greifbare Nähe rückt, hängt stark davon ab, wie sich der aktuelle Übergangsprozess in Syrien entwickelt. Diesbezüglich sind noch viele Fragen ungeklärt: Kann sich die Regierung von Ahmed Al-Scharaa konsolidieren? Wie wird die neue syrische Verfassung aussehen? Und wie können sich die syrischen Palästinenser:innen in den Übergangsprozess mit einbringen, um ihre Rechte zu sichern?

 

 

 

Ahmad ist palästinensischer Journalist aus Syrien. Seit 2015 lebt er in Deutschland und arbeitet als Reporter unter anderem für das Kohero-Magazin. Er berichtet aus NRW zu Themen wie Migration und Flüchtlingen.
Redigiert von Vanessa Barisch, Dorian Jimch