Im Mai 2023 wählt die Türkei. Um seine Macht zu sichern, bombardiert Erdoğan den Norden Syriens. Hinzu kommt eine Charmeoffensive gegenüber Assad, den er bisher als Terroristen bezeichnete. Die kurdischen Gebiete sind doppelt in Gefahr.
Im Mai 2022 kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die mittlerweile vierte Militärinvasion in Nordostsyrien an. Kurz darauf folgten nahezu tägliche Drohnenangriffe, Mitte November dann Bombardierungen. Neben Militäreinrichtungen zielten diese auch auf Schulen, Wohn- und Krankenhäuser, Elektrizitätswerke, Gas- und Ölfelder. Das führte dazu, dass es der Bevölkerung an Diesel, Strom und Wasser fehlt. Mit der systematischen Zerstörung der Infrastruktur ist die Versorgung sowohl von privaten Haushalten als auch von Geflüchtetencamps massiv gefährdet.
Die schlimmste Befürchtung, die erwartete Bodenoffensive, blieb jedoch vorerst aus. Leider kein Grund zur Beruhigung, denn tatsächlich verstärkt die Türkei seit Anfang Januar 2023 ihre Militärstellungen. Entsprechend ist die Frage nicht ob, sondern wann türkische Bodentruppen einmarschieren.
In der Türkei ist Wahljahr
Vordergründig verklärt der türkische Präsident seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordostsyrien zum Kampf gegen Terrorismus. Die vermeintliche ausgemachte Bedrohung ist die dortige kurdisch dominierte Selbstverwaltung, die inzwischen ein Drittel Syriens ausmacht, und in der ethnische und religiöse Minderheiten gleichberechtigt miteinander leben. In deren militärischem Arm YPG sieht die türkische Regierung einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Er will diese möglichst weit von der türkisch-syrischen Grenze zurückdrängen.
Tatsächlich geht es bei Erdoğans Militärinvasion auch um den eigenen Machterhalt, denn im Juni 2023 stehen in der Türkei die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Die Zustimmung für den amtierenden Präsidenten schwindet, das Land steckt wirtschaftlich in einer tiefen Krise und ist gebeutelt von einer hohen Inflation. Die verschiedenen politischen Akteur:innen fahren deshalb seit längerem gezielt eine harte Rhetorik gegen Geflüchtete –Hass und Hetze verfangen in der unzufriedenen Bevölkerung. Diese richten sich insbesondere gegen syrische Schutzsuchende, die Türkei hat mit knapp vier Millionen Menschen weltweit am meisten von ihnen aufgenommen.
Der Plan ist die Zwangumsiedlung einer Million Menschen
Nun versucht Erdoğan einen großen Teil von ihnen gewaltsam wieder loszuwerden, um dem innenpolitischen Druck zu entkommen und sich Wählerstimmen zu sichern. Seine Vision: Die Zwangsumsiedlung einer Million syrischer Geflüchteter in die von ihm okkupierten syrisch-kurdischen Gebiete. Bereits jetzt hat die Türkei große Teile Nordsyriens besetzt und die einstige Bevölkerung weitestgehend in die Flucht getrieben. Mit der weiteren Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus völkerrechtswidrig eroberten Gebieten hätte Erdoğan genug Platz geschaffen, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Dieser Plan ist zwar nicht neu – die Türkei hat Nordsyrien zuvor bereits 2016, 2018 und 2019 angegriffen und dabei Hunderttausende vertrieben – angesichts der bevorstehenden Wahl drängt aber die Zeit, ihn final umzusetzen und mindestens eine Million Syrer:innen außer Landes zu schaffen. In den bereits besetzten Gebieten arbeiten die türkischen Truppen fleißig am Bau von neuen Wohneinheiten und Gemeinden, in denen die mehrheitlich arabischen Geflüchteten dann angesiedelt werden sollen, während die kurdische Bevölkerung durch den Angriffskrieg zu Binnenvertriebenen wurde. Nicht nur die militärische Aggression allein, sondern auch dieser anvisierte Bevölkerungsaustausch bedroht das syrische Sozialgefüge elementar und zementiert den Zerfall der noch jungen, demokratisch orientierten Gesellschaft im Nordosten Syriens.
Handschlag mit dem Erzfeind
Erdoğans Plan hat einen Haken: Für alle seine militärischen Operationen in diesem Gebiet ist ein Konsens mit Russland nötig – Putin ist jedoch seit 2015 enger Verbündeter des syrischen Regimes. Während die türkischen Bombardierungen zumindest auf so viel russische (und US-amerikanische) Zustimmung trafen, dass diese sie nicht verhinderten – immerhin kontrollieren beide Mächte den Luftraum – duldet Assad keine Besatzung syrischer Gebiete. Auch wenn er selbst in der Region nur noch wenige Kontroll- und Militärstützpunkte hat. Langfristig möchte Assad dies aber ändern. Das Verhältnis zwischen der Selbstverwaltung und dem Assad-Regime schwankt entsprechend seit Jahren zwischen offener Abgrenzung und Kooperation. Letztere immer dann, wenn es gemeinsam gegen die türkische Invasion geht.
Für Erdoğan könnte das zum Problem werden. Eine militärische Konfrontation mit Assads Verbündetem Russland dürfte nicht in seinem Sinne sein, da sich beide Staaten seit Ausbruch des Ukraine-Krieges auf einem Annäherungskurs befinden. Gleichzeitig kann er keinen Rückzieher machen, denn dann wäre seine Wahl in unmittelbarer Gefahr. Die Rettung könnte ein Deal mit seinem Erzfeind Assad sein – jenem Despoten, den Erdoğan bislang als Terroristen bezeichnete, weil er einen Krieg gegen seine eigene Bevölkerung führt. Ende Dezember 2022 trafen sich bereits die jeweiligen Verteidigungsminister in Moskau. Kurz darauf signalisierte Erdoğan öffentlich seine Redebereitschaft mit dem syrischen Präsidenten. Er wolle sich mit Assad zusammensetzen, um gemeinsam „Frieden und Stabilität“ in Syrien zu fördern.
Assad hingegen zeigt sich zögerlich. Unter Erdoğans direktem Einfluss stehen die Provinzen Idlib und Aleppo, also Regionen die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Zudem kämpfen auch von der Türkei finanzierte Milizen gegen das Regime. Assad dürfte deshalb wenig Interesse daran haben, dem türkischen Präsidenten Wahlhilfe zu leisten. Auf der anderen Seite könnte ihm ein Deal mit der Türkei dabei helfen, die Gewalt über jene Gebiete wiederzuerlangen, die sich derzeit seiner Kontrolle entziehen.
Die Aussicht auf eine Annäherung zwischen Assad und Erdoğan sorgt entsprechend für Entsetzen; nicht nur im Nordosten Syriens, sondern auch in Idlib und Aleppo im Nordwesten des Landes. Seit Dezember gibt es dort in vielen Städten große Demonstrationen, in denen lautstark die türkische Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen mit dem Assad-Regime verurteilt und Slogans wie „Der Freund unseres Feindes ist unser Feind“ skandiert werden.
Das Schweigen des Westens übertönt die Rufe der Zivilbevölkerung
Demonstrationen werden wohl kaum den finalen türkischen Angriff auf den Nordosten oder einen Deal mit dem Assad-Regime verhindern. Für die Menschen im gesamten Norden Syriens sind die Aussichten düster. Denn wer bei dem ganzen (geo-) politischen Geschachere unaufhörlich leidet, ist die Zivilbevölkerung. Auch ohne Bodentruppen werden die Lebensbedingungen im Nordosten immer dramatischer, denn die Bevölkerung lebt bereits seit Monaten im de facto Kriegszustand und in ständiger Unsicherheit. Hinzu kommt: die türkischen Luftangriffe gehen unaufhörlich weiter. Im Nordwesten sind es die russischen und syrischen Bomben, die auf ziviles Leben und Einrichtungen zielen – und mit einer Annäherung an Assad droht eine Rückeroberung des letzten oppositionellen Zufluchtsortes.
Weltweit wird darüber der Mantel des Schweigens gelegt. Nicht zuletzt aufgrund der westlichen Ignoranz und Untätigkeit können das Assad-Regime, Russland und die Türkei so frei und menschenfeindlich agieren. Die internationale Gemeinschaft hat bereits 2019 und auch im vergangenen Jahr verpasst, den vorab angekündigten türkischen Angriffskrieg zu verhindern. Nun muss sie schnell sein und einen so großen Druck auf die Türkei ausüben – beispielsweise über Sanktionen – sodass diese ihren erneuten Angriffskrieg sofort beendet.
Nur so kann die junge, demokratisch orientierte Gesellschaft im Norden Syriens gerettet werden. Die Zeit ist denkbar knapp, aber die Ukraine ist der Beleg dafür, dass schnelle Hilfe möglich ist, wenn eine Demokratie und Hunderttausende Menschenleben durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bedroht sind. Wir fordern diese Unterstützung auch für den Nordosten Syriens.