Diskriminierung und Gewalt gegenüber Syrer:innen in der Türkei beruht auf einer vielschichtigen politischen Agenda. Was als Willkommenskultur durch das Erdoğan-Regime begann, erreicht heute ein alarmierendes Ausmaß an Rassismus.
Zu Anfang der Präsidentschaft Recep Tayyip Erdoğan’s und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 erhielt die Türkei Zuspruch für ihre Versöhnungspolitik. Auch die teilweise Anerkennung vergangener Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten, vor allem an den Kurd:innen, rief positive Reaktionen hervor. Doch seit Beginn der Revolution und dem Konflikt in Syrien 2011 hat sich die Lage in der Türkei schnell verändert. Rassistische und türkisch-nationalistische Übergriffe auf syrische Geflüchtete im öffentlichen Raum nahmen zu und erweisen sich heute als tiefgreifendes Problem in Großstädten wie dem multikulturellen Istanbul.
Mit drastisch steigenden Inflationsraten, Arbeitslosigkeit und einer starken Abwertung der Währung seit 2021 verschlechterte sich die Situation syrischer Geflüchteter in der Türkei weiter. Zusätzlich sorgten einige ultranationalistische Politiker:innen für eine beispiellose Welle der Feindseligkeit: Die Wut, die die Bevölkerung aufgrund der fatalen Wirtschaftslage auf die Regierung verspürte, lenkten sie gezielt auf die syrischen Geflüchteten um. So wurden aus kleineren Auseinandersetzungen und verbalen Angriffen gewaltsame Übergriffe auf Syrer:innen – am Arbeitsplatz ebenso wie im eigenen Wohnraum.
Die Türkei als Transitland
In den ersten Jahren des Syrien Konflikts haben der Libanon und die Türkei als Nachbarländer die meisten Flüchtenden aufgenommen. Im April 2022 lebten offiziell 3,762 Millionen Syrer:innen in der Türkei. Dabei spielte die Türkei im Syrien Konflikt eine bezeichnende Rolle im Vergleich zu den weiteren an Syrien angrenzenden Ländern. Zum einen liegt das Land an einer der wichtigsten Migrationsrouten nach Europa. Andererseits unterstützte die türkische Regierung die islamistischen Fraktionen innerhalb der Freien Syrischen Armee/Syrischen Nationalen Armee (FSA/SNA) in ihrem Kampf für den Sturz des Assad-Regimes.
Während einer Rede in einem Lager für Geflüchtete nahe der türkisch-syrischen Grenze im Jahr 2014 umriss Erdoğan die Position der Türkei gegenüber syrischen Geflüchteten. Er bezeichnete diese als Muhajirs (frühe Muslime), die in den Ländern der Ansar ankommen. Der arabische Begriff al-Ansar bezieht sich in der islamischen Tradition auf die lokale Bevölkerung von Medina, die Mohammed und seinen Anhänger:innen nach deren Verfolgung in Mekka Aufenthalt in ihrer Stadt gewährten.
Mit offenen Armen?
Die Bezeichnung der Türkei als al-Ansar ging über die Migrations- und Grenzpolitik hinaus. Als Erbe des Osmanischen Reichs, das den Titel des Kalifats trug und über 400 Jahre Syrien beherrschte, versuchte die Türkei sich nun erneut über die politische Ordnung in Syrien zu stellen. Die direkte Einmischung in den Syrien Konflikt und Rhetorik der Willkommenskultur führten dazu, dass sich die Türkei zum wichtigsten Zufluchtsort insbesondere für die sunnitisch-arabische Bewohner:innen aus den oppositionell kontrollierten Gebieten entwickelte.
Dieser Haltung liegt ein einfaches, aber ehrgeiziges Narrativ zugrunde. Es versteht Syrer:innen als vorübergehende Bevölkerung, die günstige Arbeitskräfte bietet und damit die Türkei auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähiger macht. Das Narrativ geht ebenfalls davon aus, dass mit dem Sturz Assads die Syrer:innen in ihr Land zurückkehren und der Türkei und dem türkischen Volk für immer dankbar sein würden.
Strategische Missgriffe
Auf Erdoğans offene Migrationspolitik in den Anfangsjahren des Syrienkonflikts folgte 2016 der EU-Türkei-Deal. Das berüchtigte Abkommen schränkte die Mobilität von Flüchtenden zwischen der Türkei und den EU-Staaten stark ein. Dabei externalisierte die EU ihr Migrationsmanagement an die Türkei und machte sich indirekt immun gegen die Folgen der daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen.
Das Abkommen kann als maßgeblicher Grund für den Tod von Tausenden im Mittelmeer und in der Ägäis betrachtet werden. Es hinterließ Tausende von Flüchtenden im Ausnahmezustand, was zudem tiefgreifende Auswirkungen auf deren allgemeine Gesundheit und psychische Verfassungen hatte.
Die Pläne Erdoğans, durch die Unterstützung der FSA/SNA das Assad-Regime zu stürzen, erwiesen sich 2018 als maßgeblicher Fehlschlag. Mit der stärkeren Beteiligung Russlands und Irans gewannen die Kräfte Assads in vielen zuvor oppositionell kontrollierten Teilen Syriens die Macht zurück. Gleichzeitig erzielten die mehrheitlich kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) mithilfe der USA und anderer strategischer Verbündeter erhebliche Erfolge gegen den sogenannten Islamischen Staat. Das Eingreifen der Türkei in Syrien weitete den gewaltsamen Konflikt gegen Kurd:innen vom Inland auf den Nachbarstaat aus.
Die Alternative
Der alternative Syrien-Plan der Türkei kristallisierte sich 2019 einige Tage vor der Operation Peace Spring im heraus: Die US-Truppen würden einige Teile Nord Syriens unter der Kontrolle der SDF lassen; Gleichzeitig würde die Türkei die Region von SDF übernehmen, um eine 30 km tiefe sogenannte Sicherheitszone einzurichten und über drei Millionen in der Türkei lebende, hauptsächlich sunnitisch-arabische Syrer umzusiedeln.
Erdoğan wusste wohl, dass keiner der NATO-Verbündeten die groß angelegte Militäroperation in Syrien unterstützen würde. Aber er wusste auch, dass westliche Politiker:innen eine weitere Migrationsbewegung an ihren Grenzen um alles verhindern wollen. Erdoğan schüttelte also einige Wochen vor der Operation sein Ass aus dem Ärmel und drohte der EU mit der erneuten Öffnung der griechisch-türkischen Grenze für Syrer:innen: „Entweder ihr unterstützt uns, oder ihr entschuldigt unsere Handlungen, aber wir werden diese Last nicht allein tragen.“ Trotz der Einnahme großer Teile der von den SDF kontrollierten Gebiete in Nordsyrien konnte die Türkei keine Zone einrichten, die Syrer:innen als sicher genug für eine Rückkehr ins Land empfanden.
Grenzüberschreitungen
Für die in der Türkei lebenden Syrer:innen bedeutete der politische Wandel den Beginn einer neuen und dunkleren Ära. Um die Umsiedlung von Syrer:innen besser zu rechtfertigen, verwies Erdoğans auf die finanzielle Last, die anscheinend von den Geflüchteten ausgehe. Damit schürte er die Ablehnung gegenüber Syrer:innen in der türkischen Gesellschaft – am schmalen Grat zwischen Rettertum und Feindseligkeit.
Ab diesem Zeitpunkt (2019) wurde die Präsenz syrischer Geflüchteter in der Türkei nicht mehr als eine Schutzverantwortung formuliert. Die Schutzsuchenden mussten stattdessen aus dem Blickfeld des Staats und der Gesellschaft der Türkei entfernt werden. Dabei spielten zwei grundlegende Veränderungen im öffentlichen Diskurs eine Schlüsselrolle in der Herausbildung von Anfeindungen gegenüber Syrer:innen: die steigende Zahl der in Syrien getöteten türkischen Soldat:innen und die Erkenntnis, dass Syrer:innen nicht in eine fragile Konfliktzone zurückkehren.
„Der:die Syrer:in ist ein Feigling, der vor einem Krieg geflohen ist, den die türkische Bevölkerung für ihn führen.“ „Der:die Syrer:in sieht die türkische Kultur als minderwertig gegenüber seiner arabischen Kultur an und will unsere Viertel arabisieren, anstatt zurückzukehren und seine Heimat wieder aufzubauen.“ „Der:die Syrer:in sieht uns nicht als muslimisch genug an; deshalb würde er nicht zögern, uns zu töten und zu bestehlen oder türkische Frauen zu belästigen.“
Wer wie ich in Istanbul oder einer anderen Großstadt lebt, konnte solche rassistischen Äußerungen online oder in türkischen Haushalten aus fast allen Seiten des politischen Spektrums vernehmen.
Eine Zukunft nach Erdoğan
Die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Syrer:innen in der Türkei veranlasste die Regierung Erdoğans in den vergangenen Wochen aktive Schritte zu unternehmen. Viele in syrischem Besitz befindliche Geschäfte mussten ihre Aushängeschilder von Arabisch auf Türkisch ändern. Auch kündigte Erdoğan öffentliche Wohnbauprojekte für freiwillige Rückkehrer:innen in die von der Türkei unterstützten und von der FSA/SNA kontrollierten Gebieten in Syrien an.
Nicht zuletzt gab es Massenverhaftungen und Abschiebungen von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Diese erfolgten vor den Kameras der Mainstream-Medien, um einen weiteren Verlust an Wähler:innen für die AKP und Erdoğan zu verhindern.
Nach Angaben von Meinungsumfragen liegt die Stimmen für die AKP und Erdoğan derzeit bei unter 35 Prozent. Deren Niederlage in den kommenden Wahlen ist damit wahrscheinlicher denn je. Auch wenn das Ausmaß an Rassismus in der Türkei auch nach Erdoğan noch lange nachhallen wird: Die Abwahl des gegenwärtigen Regimes beschreibt den langjährigen Traum vieler Menschenrechtsvertreter:innen und Aktivist:innen und wäre der erste Schritt auf dem Weg hin zu einer Türkei als dezentralisierte und parlamentarische Demokratie.