26.10.2025
Wenn die Stadt im Müll versinkt – Izmirs ungelöstes Abfallproblem
Müllhaufen in Karşıyaka Çarşı, traditionelle Einkaufsmeile Izmirs. Foto: Yeşim Buldun.
Müllhaufen in Karşıyaka Çarşı, traditionelle Einkaufsmeile Izmirs. Foto: Yeşim Buldun.

Izmir ist mit 4,6 Millionen Einwohner:innen die drittbevölkerungsreichste Stadt der Türkei. Derzeit türmen sich hier die Müllberge. Streiks, Inflation und politische Machtspiele bringen die Müllentsorgung an ihre Grenzen.

Vor einigen Wochen streikte die Müllabfuhr in der an der türkischen Ägäis gelegenen Stadt. Schwarze und bunte Müllsäcke, Kartons und Sperrmüll türmten sich neben Müllcontainern und an Straßenlaternen. Die Wohnung, in der ich mit meiner Familie wohne, ist im Stadtteil Bostanlı im Bezirk Karşıyaka. Am Ende unserer Straße ist ein großer unterirdischer Müllcontainer, der eigentlich täglich geleert wird.

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es hier keine Müllcontainer, die zu einem jeweiligen Haus gehören. Ein Müllcontainer muss für alle Bewohner:innen einer Straße ausreichen. In den Streikwochen hat sich ein großer Müllberg rund um den Container gebildet. Der umliegende Parkplatz war teilweise nicht mehr benutzbar. Ich konnte nur noch kurz lüften – denn sonst wäre der beißende Geruch von Abfall direkt in die Wohnung gedrungen. 

Streiks für gerechte Löhne

Der Streik der Müllarbeiter:innen war ein unübersehbares Signal, dass sich in der Stadtverwaltung etwas tun muss. Die Inflation liegt inoffiziell bei über 70 Prozent. Mieten und Konsumgüterpreise scheinen sich jedes Jahr zu verdoppeln, während der Mindestlohn von 2024 auf 2025 nur um 30 Prozent gestiegen ist. Die städtischen Müllarbeiter:innen streiken, weil sie sich das Leben in Izmir schlicht nicht mehr leisten können. Ihre Grundgehälter sind niedrig; sie sind auf Zulagen angewiesen, um ihre Familien überhaupt durchzubringen.

Im Sommer, während dem großen Generalstreik der städtischen Mitarbeiter:innen vom 29. Mai bis 4. Juni., erkämpften die Arbeiter:innen zusätzlich zur 30 prozentigen Gehaltserhöhung einen Inflationsausgleich von 19 Prozent. Nun streiken die Müllarbeiter:innen in den Stadtbezirken Buca und Karşıyaka erneut, weil viele von ihnen monatelang gar kein Gehalt oder nur einen Teil davon ausbezahlt bekommen haben – die Stadtverwaltung sagt, sie sei knapp bei Kasse

Langsame Politik, wachsende Müllberge

Ein weiteres, drängendes Problem ist die seit Jahrzehnten unzureichende Infrastruktur in der Abfallwirtschaft. Täglich fallen in Izmir rund 5.000 Tonnen Müll an – aber die bestehenden Deponien reichen längst nicht mehr aus. Besonders betroffen ist das Mülldepot in Harmandalı, eines der größten der Stadt. Einige Wochen lang durfte dort kein Abfall mehr abgeladen werden. Die Bezirksverwaltung von Çiğli, wo sich das Depot befindet, sieht durch die täglich anwachsenden Müllberge die Gesundheit der Anwohner:innen als stark gefährdet. Der Gestank ist für die Anwohner:innen unerträglich und die aus den Müllbergen austretende Flüssigkeit ergießt sich in die Straßen und die Kanalisation. Man befürchtet zudem Brände oder gar Explosionen.

Ein Verwaltungsgericht ordnete deshalb die vorübergehende Schließung des Depots an. Manche behaupten sogar, dass die Regierung die Mülldeponie absichtlich geschlossen hat, um die Stadtverwaltung und den Oberbürgermeister als unfähig darzustellen. Inzwischen wurde das Depot wieder geöffnet – allerdings nur befristet bis Ende Oktober. Oberbürgermeister Tugay möchte zur Lösung des Müllproblems eine große Fläche im Gebiet Yamanlar - weit oberhalb der Stadt im Nordwesten- für eine neue Mülldeponie erschließen. Dafür braucht er aber die Genehmigung des staatlichen Ministeriums für Umwelt, Stadtentwicklung und Klimawandel. 

Izmir wird seit 2004 von der CHP (Republikanische Volkspartei) regiert. Durch ihre geografische Lage in der Ägäis hatte Izmir eine kosmopolitische Geschichte, doch das Nebeneinander von verschiedenen Religionen, Sprachen und Kulturen nahm ein jähes Ende nach dem 1. Weltkrieg. Izmir wurde jahrzehntelang von nationalistischen und konservativen Kreisen skeptisch beäugt – abschätzig als „Gavur Izmir“, das „heidnische (ungläubige) Izmir“, bezeichnet; auch aufgrund des Namens von Izmir, das noch bis 1923 unter dem griechischen Namen Smyrna gekannt wurde. Die konservative und betont religiös auftretende Regierungspartei AKP hat mehrfach vergeblich versucht, den Oberbürgermeister der Stadt zu stellen – und macht aus ihrem Ärger über seine Politik keinen Hehl. Ein Scheitern der CHP in Izmir käme der AKP’schen politischen Agenda entgegen.

Dass die Strategie der Regierung aufgehen könnte, höre ich sogar in meinem Keramikkurs, wo alle Teilnehmerinnen traditionell CHP wählen. Die Frauen diskutieren darüber, ob es nicht besser wäre, die Stadt für eine Legislaturperiode „der AKP zu überlassen“. Vielleicht, so die Hoffnung, würde dann endlich in die marode Infrastruktur investiert und Izmir wieder lebenswerter werden. „Danach können wir ja wieder zu unserer CHP zurückkehren!“, sagen sie – halb lachend, halb verzweifelt. Einige von ihnen sind Mütter oder Großmütter und machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel in der Stadt.

Gesundheit und wirtschaftliche Existenzen in Gefahr

Viele Müllberge befinden sich direkt neben Schulen und Kindergärten. Eine Mutter, die ihre Tochter in den Kindergarten gegenüber meiner Wohnung bringt, erzählte: „Meine Tochter liebt Katzen. Vorige Woche hat sie eine kleine Katze gestreichelt – bis sich etwas der Katze näherte. Es war eine riesige Ratte. Sowohl meine Tochter als auch die Katze haben sich zu Tode erschrocken.“

Auch Geschäftsinhaber:innen sind betroffen. Eine Boutique-Besitzerin in der Einkaufsstraße sagt: „Ich kann meine Ladentür nicht mehr offenhalten – aus Angst, dass eine Ratte hineinkommt. Aber eine geschlossene Tür bedeutet weniger Kund:innen“. Neben dem benachbarten Burgerladen blieb der Müll tagelang liegen. Der Gestank war so stark, dass die Gäste nicht mehr draußen sitzen wollten – und im Inneren gibt es nur drei kleine Tische. Die Bürger:innen, die Geschäftsinhaber:innen, alle fühlen sich von der Stadtverwaltung und ihrem Bürgermeister im Stich gelassen.

Wer löst das Müllproblem?

Seit der Wahl des amtierenden Oberbürgermeisters Cemil Tugay im Jahr 2024 – sein größter Gegner war damals Hamza Dağ, der Kandidat der Regierungspartei AKP – hat sich die politische Lage zugespitzt. Dağ musste sich bereits während des großen Generalstreiks von Ende Mai bis Anfang Juni kritischen Fragen hinsichtlich seiner Einflussnahme auf die Mitarbeiter:innen der Stadt Izmir stellen. Er verwehrte sich dagegen, dass er seine Beziehungen in der Stadtverwaltung ausnutze, um die städtischen Mitarbeiter:innen, darunter auch die Müllabfuhr als Teil eines politischen Spiels zum Streiken anzustiften.

Vor einigen Tagen wurde offiziell verkündet, dass der Streik der Müllarbeiter:innen beendet sei. An einigen Stellen wurde seither Müll abgeholt – doch in den meisten Straßen türmen sich die Abfälle weiter. In einem der bevölkerungsreichsten Bezirke, in Buca, geht der Streik weiter. Jeden Tag werden die Haufen größer. Der Müllcontainer in unserer Straße wird immer noch nicht täglich geleert.

Am Wochenende ist ein großer Teil des Parkplatzes rund um den Müllcontainer nicht mehr benutzbar. Im Haus schräg gegenüber von uns wurde eine Wohnung saniert. Die Arbeiter:innen haben die Müllsäcke aus der Wohnung einfach an den Zaun gelehnt und dort stehen lassen. Jetzt gehen die Anwohner:innen dazu über, ihren Müll auch an diesem Haus „wegzuschmeißen“. Wie wird es nach dem 31. Oktober weitergehen, wenn das größte Mülldepot in Harmandalı seine Tore schließt?

 

 

 

Yeşim Buldun hat in München als Projekleiterin und Geschäftsführerin im Sozialen Bereich gearbeitet. Sie ist Mitgründerin der Banu-Initiative für Afghanische Frauen und Kinder und lebt seit August 2023 in Izmir.
Redigiert von Filiz Yildirim, Sören Lembke