Am 20. Juli 2015 starben 33 Aktivist:innen durch einen Anschlag des sogenannten Islamischen Staats in Suruç an der türkisch-syrischen Grenze. Am zehnten Jahrestag prägen tiefgreifende Umbrüche im türkisch-kurdischen Konflikt das Erinnern.
In der Türkei gibt es viele Jahrestage, die an gewaltsame und traumatische Ereignisse erinnern. Sie tauchen Jahr für Jahr im persönlichen Kalender vieler Menschen im ganzen Land auf. Vom Staat übergangen oder gar kriminalisiert, bleiben sie jedoch tief im Gedächtnis von Betroffenen und Angehörigen verankert. So ist das auch im Falle von Suruç.
Am 20. Juli dieses Jahres jährt sich zum 10. Mal der Anschlag von Suruç. Dies fällt auch in eine Zeit monumentaler historischer Entwicklungen, die erneut Hoffnungen auf ein Ende des jahrzehntelangen Konflikts zwischen der PKK und dem türkischen Staat wecken. Mit der aktuellen Waffenniederlegung der PKK zeichnen sich gerade Signale eines möglichen Friedens ab. Die Hoffnung auf Frieden bestand auch im Sommer 2015, da die türkische Regierung und die PKK sich zu diesem Zeitpunkt in einem seit 2013 andauernden „Lösungsprozess“ befanden. Genau deshalb wirkt die Erinnerung an den Anschlag von Suruç in diesem Jahr besonders schmerzhaft: als Symbol für eine zerstörte Hoffnung, als Mahnung an das, was möglich gewesen wäre und jetzt gelingen muss.
Was geschah im Sommer 2015?
Als sich im Juli 2015 eine Gruppe von ca. 300 Angehörigen der Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (Sosyalist Gençlik Dernekleri Federasyonu, SGDF) auf den Weg in die Stadt Suruç an der syrisch-türkischen Grenze machte, befanden sich die türkische Regierung und die PKK seit zwei Jahren in einem als Lösungsprozess bezeichnetem Austausch. Dieser war zu dem Zeitpunkt zwar schon erheblich ins Stocken geraten, dennoch hegten die Menschen vor allem in den südöstlichen Regionen der Türkei, in denen viele Kurd:innen leben, weiterhin Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden.
So auch im türkischen Suruç, das nur wenige Kilometer von der nordsyrischen Stadt Kobanê entfernt liegt. Die Aktivist:innen, die aus allen Ecken der Türkei gekommen waren, wollten von hier aus weiter nach Kobanê reisen, dort Bücher und Spielzeuge spenden, humanitäre Hilfe leisten und damit den Wiederaufbau der Stadt unterstützen. Kobanê war zum Symbol des kurdischen Widerstands gegen die Terrororganisation IS geworden und bei der Rückeroberung aus dschihadistischer Hand fast komplett zerstört worden.
Die Solidaritätsaktion der SGDF-Aktivist:innen stand damit nicht nur symbolisch für den Wunsch nach Frieden innerhalb der Türkei, sondern auch für eine grenzüberschreitende Unterstützung kurdischer Selbstbestimmung. Doch genau diese Verbindung zwischen dem innerstaatlichen „Friedensprozess“ und der politischen Entwicklung in Nordsyrien machte das Vorhaben politisch brisant: Denn die Regierung in Ankara betrachtete die parallel entstehende kurdische Autonomie in Rojava zunehmend als Bedrohung.
Ein Anschlag auf den Frieden
Um die kurdischen Bestrebungen zu schwächen, scheute die türkische Regierung nicht davor zurück, islamistische Terrormilizen zu unterstützen. Immer wieder konnten IS-Kämpfer:innen unbehelligt die Grenze zur Türkei überqueren, sich dort neu gruppieren oder in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen. Ein Zeichen des Widerstands gegen diese Politik und der Solidarität zu setzen, war das Anliegen der Aktivist:innen, die sich am 20. Juli 2015 in Suruç versammelt hatten. Gegen 12 Uhr Mittag Ortszeit explodierte eine Bombe im Garten des Amara-Kulturzentrums, während die Aktivist:innen der SGDF eine Presseerklärung zum geplanten Wiederaufbau Kobanês verlesen wollten. Der Anschlag tötete 33 Menschen.

Als dann zwei Tage später zwei türkische Polizisten in Ceylanpınar, einer in derselben Provinz wie Suruç gelegenen Stadt, ermordet wurden, machte die türkische Regierung PKK-nahe Kräfte dafür verantwortlich. Die türkische Regierung instrumentalisierte die Morde und präsentierte sie der Öffentlichkeit als Grund für die Aufkündigung des „Friedensprozess“. Der Konflikt eskalierte in den folgenden Wochen in offene Gewalt.
Der Istanbuler HDP-Abgeordnete (heute DEM-Partei) Garo Paylan forderte 2018 die Eröffnung einer parlamentarischen Untersuchung der Ermordungen der türkischen Polizisten in Ceylanpınar, da Zweifel an der Täterschaft der Angeklagten laut wurden und diese tatsächlich auch von einem Gericht freigesprochen wurden. Wie so oft in der Türkei ist es schwierig auszuschließen, dass staatliche Stellen, ob Geheimdienst, Polizei oder andere Akteur:innen in irgendeiner Form involviert waren oder zumindest weggesehen haben. Auch die Gülen-Bewegung, die bis 2013 eng mit der Regierungspartei AKP kooperierte und zahlreiche Schlüsselpositionen in Justiz und Sicherheitsapparat besetzt hielt, geriet später unter Verdacht, in die undurchsichtige Rolle rund um den Anschlag und die nachfolgenden Ereignisse verwickelt gewesen zu sein. Eine lückenlose Aufklärung hat bis heute nicht stattgefunden.
Erinnern heißt kämpfen
Während die türkische Regierung die Morde an den Polizisten zum Vorwand nahm, den Friedensprozess für gescheitert zu erklären, ignorierte sie zentrale Fragen zum Anschlag von Suruç und kriminalisiert das Gedenken an den Anschlag.
Das liegt daran, dass die Opfer von Suruç sozialistische Aktivist:innen waren, die sich offen mit der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava solidarisierten, einem Projekt, das Ankara seit jeher als Bedrohung wahrnimmt. Darüber hinaus stehen bis heute Vorwürfe im Raum, dass der türkische Staat nicht nur bei der Verhinderung des Anschlags versagt, sondern durch seine Syrienpolitik indirekt ein Umfeld geschaffen habe, in dem Gruppen wie der sogenannte IS überhaupt erst erstarken konnten. Die Tatsache, dass ein Attentat dieser Größenordnung ausgerechnet in einer hoch militarisierten Grenzregion wie Suruç stattfinden konnte, nährt den Verdacht, dass es zumindest strukturelle Verbindungen oder Duldung zwischen türkischen Behörden und islamistischen Milizen gegeben haben könnte. Wer heute an Suruç erinnert, erinnert also nicht nur an eine Tragödie, sondern stellt die offizielle Erzählung infrage und damit auch die Rolle des Staates selbst.Wer heute an die 33 ermordeten Aktivist:innen der SGDF erinnert, stellt sich deshalb bewusst gegen das staatliche Vergessen und fordert nicht nur Erinnerung, sondern auch Gerechtigkeit und Übernahme von Verantwortung.

Außerdem kritisieren die Familien der Hinterbliebenen, dass nur ein Angeklagter verurteilt wurde: „Es wird behauptet, dass drei an dem Anschlag beteiligte Personen gestorben sind und die beiden anderen flüchtig sind.“ Yakup Şahin, der einzige inhaftierte Angeklagte in diesem Fall, wurde zu einer 34-fachen verschärften lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Dennoch wurden die Planer:innen, die Anstifter:innen und die wirklichen Mörder:innen, die hinter diesem Anschlag standen, nie aufgedeckt.“
Dabei geraten die Hinterbliebenen selbst ins Visier der türkischen Justiz: Wie Besra Erol, die wegen der Rede, die sie bei der Beerdigung ihres getöteten Sohnes Evrim Deniz Erol gehalten hatte, 2019 zu 7 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt wurde. Sie hätte im Dezember 2024 eigentlich auf Bewährung freikommen sollen, befindet sich aber weiterhin in Haft.
Der Traum vom Frieden
„Hiçbir düş yarım kalmayacak” („Kein Traum wird unvollendet bleiben“): Das war 2015 das Anliegen der Aktivist:innen, die nach Suruç aufbrachen. Heute ist es das Motto jener, die sich an Suruç erinnern. Es ist ein Auftrag, die Träume der „33 Traumreisenden“ (33 düş yolcusu) an ihrer Stelle fortzuführen. Die Träume der 33 Aktivist:innen zielten auf Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit. Zehn Jahre nach dem Anschlag von Suruç hat dieser Satz nichts an Bedeutung verloren. Mit der Waffenniederlegung der PKK rückt erneut die Frage nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage in den Vordergrund. Die Erinnerung an Suruç steht in diesem Zusammenhang nicht nur für Trauer, sondern auch für eine zerstörte Hoffnung und für die Verantwortung, Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.




















