07.04.2025
Ein Drahtseilakt für die kurdische Bewegung
Menschen feiern Newroz in Istanbul. Foto: Filiz Yildirim.
Menschen feiern Newroz in Istanbul. Foto: Filiz Yildirim.

Die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters İmamoğlu löste landesweit Proteste aus. Kurd:innen reagieren teils zurückhaltend, um den Dialog zwischen PKK und Regierung nicht zu gefährden, während letztere von antikurdischem Rassismus profitiert.

Die Istanbuler Marmaray-Linie Richtung Ataköy ist an diesem Sonntagvormittag besonders voll. Statt mies gelaunter Pendler:innen drängen sich heute Fahrgäste in farbenfrohen, mit floralen Mustern bedruckten Schals und paillettenbesetzten, glitzernden Kleidern in den Wagons. Sie alle sind auf dem Weg zur Yenikapı-Station. Von dort wollen sie weiter auf das Festgelände, auf dem auch dieses Jahr die kurdischen Newroz-Feierlichkeiten stattfinden.

Das Frühlingsfest Newroz ist seit den 1990er Jahren für Kurd:innen immer wichtiger  geworden. Es ist auch ein Barometer für die politische und gesellschaftliche Situation der kurdischen Bevölkerung, vor allem in der Türkei. Dieses Jahr ist die Stimmung ausgelassen. Die Kurd:innen hoffen auf Frieden, seit PKK-Führer Abdullah Öcalans dazu aufgerufen hat, die Waffen niederzulegen und die türkische Regierung sich zu Gesprächen bereit zeigt.

Dieses Jahr ist noch etwas anders als sonst. Die Feierlichkeiten finden zur gleichen Zeit statt, wie die Proteste gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Nur einen Kilometer vom Festgelände entfernt sammeln sich Demonstrierende in Saraçhane vor dem Rathaus.

Zwischen Repression und Hoffnung

Seit Öcalan dazu aufgerufen hat, die Waffen niederzulegen und es einen Dialog zwischen kurdischer Bewegung und Regierung gibt, schüren Oppositionsparteien das Narrativ, die Kurd:innen ließen sich von der Regierung vereinnahmen. Außerdem wolle der türkische Präsident Erdoğan sich die Stimmen der Kurd:innen bei einer angestrebten Verfassungsänderung sichern. Viele Türk:innen verfolgten daher gespannt, wie sich kurdische Akteur:innen nun in der Causa İmamoğlu positionieren.

Die pro-kurdische DEM-Partei (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker) verurteilte in einer öffentlichen Stellungnahme die Verhaftungen, die rechtswidrig und politisch motiviert seien. Gleichzeitig hält sich die Partei zurück, ihre Anhänger:innen zur organisierten Teilnahme an den Protesten aufzurufen. Das ist auf die aktuellen Gespräche zwischen den Regierungsparteien und Vertreter:innen der DEM-Partei zurückzuführen, die dem Aufruf gefolgt sind, die Waffen niederzulegen. Dieser beginnende Dialog birgt für die Kurd:innen die Hoffnung, einen jahrhundertelangen Konflikt zu beenden und Grundrechte und -freiheiten erlangen zu können. Für sie geht es um alles.  

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt

Die AKP versucht immer wieder, die kurdische Bewegung und andere Teile der Opposition gegeneinander auszuspielen. Bereits während des Friedensprozesses zwischen AKP und Kurd:innen 2013 und 2014 machte die AKP-Regierung der kurdischen Opposition Zugeständnisse, um die Gezi-Proteste zu schwächen.

Den Zeitpunkt von İmamoğlus Verhaftung scheint das Regime gezielt gewählt zu haben: Am 27. Februar rief Öcalan dazu auf, die Waffen niederzulegen. Am 19. März wurde İmamoğlu verhaftet. Erdoğan konnte so verhindern, dass İmamoğlu die Wahl zum Präsidentschaftskandidaten der CHP, der größten türkischen Oppositionspartei, gewinnt, die am 23. März stattfinden sollte. Vermutlich rechnete Erdoğan aber auch damit, dass sich die kurdische Opposition bei Protesten gegen die Verhaftung zurückhalten würde, um den beginnenden Dialog mit der AKP nicht zu gefährden.

Die Abgeordnete der DEM-Partei Erzurum und Co-Sprecherin des Demokratischen Volkskongresses (HDK) Meral Danış Beştaş kritisierte Erdoğan in einem Interview mit der BBC Türkce scharf. Er lasse sich einerseits auf den Dialog ein, sabotiere ihn jedoch gleichzeitig, indem er weiter Oppositionelle verhafte. Die kurdische Politikerin sieht im Verhalten der AKP einen Versuch, die Opposition zu spalten. Für die kurdische Bewegung ist es ein Drahtseilakt. Auf der einen Seite der Dialog mit der AKP, auf der anderen der Kampf für Demokratisierung mit anderen Oppositionellen.  

Antikurdischer Rassismus in Zuckerwatte gepackt

Und tatsächlich scheint die Rechnung des Regimes vorerst aufzugehen: Schnell machen Vorwürfe die Runde, die Kurd:innen seien der Opposition in den Rücken gefallen. Das nutzen rechtsextreme und ultranationalistische Demonstrierende für sich. Sie skandieren antikurdische Slogans und tragen Plakate mit rassistischen, antikurdischen Botschaften durch die Straßen. Sie erhalten dafür auch Applaus und Zustimmung aus „progressiven“ Kreisen, was am tiefverankerten Rassismus innerhalb der türkischen Gesellschaft liegt.

Eine Aussage von Mansur Yavaş, CHP-Oberbürgermeister Ankaras, zeigt, wie anti-kurdischer Rassismus auch in den aktuellen Protesten als Mobilisierungs- und Spaltungsgrundlage dient: „Während gestern irgendwo im Osten Fahnen geschwenkt wurden, die meiner Meinung nach Lumpen sind, und die Polizei denjenigen, die zu dieser Kundgebung gingen, Zuckerwatte schenkte, erwarten wir, dass sie den jungen Leuten hier Zuckerwatte schenkt.“ Yavaş bezieht sich auf eine Szene, die sich an Newroz in der Hauptstadt der gleichnamigen kurdischen Provinz Şırnex ereignete: Ein Polizist verschenkte dort Zuckerwatte an Kinder.

Şırnex steht wie kaum eine andere Provinz für die brutale historische Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, das Roboski-Massaker im Jahr 2011 etwa hat sich tief in das kollektive Gedächtnis vieler Kurd:innen eingebrannt. Zugleich markiert er Kurd:innen abermals als Feinde, die durch die AKP-Regierung eine bevorzugte Behandlung erführen. Oder anders ausgedrückt: Während die Kurd:innen ihr Frühlingsfest feiern, von der Polizei beschenkt und die Protestbewegung nicht unterstützen würden, opfere sich die türkische Jugend in den Protesten für das Wohl der „Nation“ und bekäme dafür statt Zuckerwatte Tränengas und Wasserwerfer.

Newrozfeiernde in Istanbul 2025, die ein Transparent hochhalten, auf dem “Mansur, kauf’ doch Zuckerwatte!” steht. Foto: Filiz Yildirim.

Newrozfeiernde in Istanbul 2025, die ein Transparent hochhalten, auf dem “Mansur, kauf’ doch Zuckerwatte!” steht. Foto: Filiz Yildirim.

Wo wart ihr bei der Verhaftung von Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ?

Auf dem Festivalgelände in Yenikapı zeigt sich Widerstand gegen dieses Narrativ. Während die Klänge von Kemençe, Saz und Bass langsam abebben, werden Pfiffe und Yuh-Rufe (die lokale Variante der Buhrufe) lauter. Der Grund: Die Newroz-Moderatorin hat angekündigt, eine Nachricht von Özgür Özel, dem Vorsitzenden der CHP, vorlesen zu wollen. „Das sind Faschist:innen! Die will hier keiner hören!“, ruft jemand in ihre Richtung.

Die kurdische Unterdrückungserfahrung wird in der Türkei unsichtbar gemacht. Deshalb können viele Kurd:innen nicht vergessen, dass es keine Proteste und kaum Unterstützung aus dem Westen des Landes gab, als unzählige kurdische Lokalpolitiker:innen durch Zwangsverwalter (kayyum) ersetzt wurden. Direkte Parallelen ziehen Newroz-Teilnehmende in Istanbul auch zu Selahattin Demirtaş. Der ehemalige Co-Vorsitzender der HDP (heute DEM-Partei) wurde 2016 inhaftiert, als er zu einer Bedrohung für Erdoğans Machtposition geworden war, ähnlich wie nun İmamoğlu – landesweite Proteste blieben damals jedoch aus.

Gegenüber dem Nachrichtenportal Bianet spricht ein Teilnehmer aus, was viele Kurd:innen derzeit denken: „Wo war die türkische Bevölkerung, als Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ [ehemalige Co-Vorsitzende und Abgeordnete der HDP, Anm. d. Autorin] verhaftet wurden?“

Newroz-Teilnehmende in Istanbul erinnern an den ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş, der seit 2016 unrechtmäßig in Haft sitzt. Foto: Filiz Yildirim.

Newroz-Teilnehmende in Istanbul erinnern an den ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş, der seit 2016 unrechtmäßig in Haft sitzt. Foto: Filiz Yildirim.

Die Demokratiefrage und die kurdische Frage sind untrennbar

Und damit legt der Mann den Finger in die Wunde, die in der Geschichte dieses Landes tausende Menschenleben gekostet hat: Wenn die kurdische Frage nicht gemeinsam mit einer allgemeinen Demokratisierung des Landes gedacht wird, kann es keinen wirklichen Frieden geben. Solange die antidemokratische Absetzung und Inhaftierung von kurdischen Politiker:innen keine Massenproteste in den westlichen Landesteilen der Türkei hervorruft, kann es keinen wirklichen Frieden geben.

Die kurdische Frage und die Demokratisierung der Türkei sind untrennbar miteinander verknüpft. Dessen ist sich auch das AKP-Regime bewusst, weswegen es immer wieder versucht, einen Schulterschluss der kurdischen Bewegung und anderer Oppositionsparteien zu verhindern. Solange sich demokratischen Kräfte nicht gesellschaftsübergreifend mit der kurdischen Bewegung solidarisch zeigen, wird die Rechnung des Regimes immer wieder aufgehen – in Yenikapı genauso wie in Saraçhane.

 

 

 

 

Filiz ist DAAD-Lektorin am Fachbereich Modern and Medieval Languages and Linguistics der University of Cambridge, UK. Sie hat im Master Konferenzdolmetschen studiert, besitzt einen deutsch-französischen Bachelorabschluss in den Fächern Geschichte und Französisch und absolviert gerade einen zweiten Master in Arts and Cultural Management.
Redigiert von Alicia Kleer, Hannah Jagemast
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