Das alljährliche Newroz-Fest in Diyarbakır ist im Pandemiejahr 2021 nicht nur von Hygieneregeln bestimmt, sondern vor allem vom aktuellen HDP-Verbotsverfahren in der Türkei.
„In welcher Straße befindet sich das Schuhgeschäft deines Onkels? Wie heißt dein Vater?“ Ich fühle mich wie in einem Verhör und dabei haben die Örtlichkeiten der Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) in der Nähe der ostanatolischen Provinzhauptstadt Elâzığ mit einem Polizeirevier nichts gemein. An den Wänden hängen Porträtfotos von Menschen im Widerstand, welche Opfer der türkischen Staatsgewalt beziehungsweise des türkischen Nationalismus wurden: Scheich Said, Deniz Gezmiş oder Hrant Dink.
Auch die für die HDP so charakteristisch bunten Fähnchen in lila, rot, grün und gelb zieren den lichtdurchfluteten Raum. „Eigentlich sollte ich doch hier die Fragen für die Recherche meiner Masterarbeit stellen“, schießt es mir durch den Kopf.
Aber ich verstehe das mir entgegengebrachte Misstrauen sehr gut. Mein Besuch findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem 900 km weiter westlich in Ankara gegen die linke und prokurdische HDP ein Verbotsverfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht läuft.
Die Kriminalisierungskampagne der Regierungskoalition gegen die HDP hat auch ganz direkt hier vor Ort Spuren hinterlassen. Vor einem Monat waren der hiesige Bezirksvorsitzende und drei weitere Parteimitglieder festgenommen worden. Man wirft ihnen „Propaganda für die terroristische Vereinigung PKK“ (Arbeiterpartei Kurdistans) vor.
Das kriminalisierte Newroz
Zwar sind Repressionen nichts Neues für die Vertreter:innen der HDP, mit dem Verbotsverfahren erreicht der Druck aber einen neuen Höhepunkt. Hinzu kommt, dass das Verfahren ausgerechnet kurz vor dem kurdischen Neujahrsfest Newroz angestoßen wird. Das ist wohl kein Zufall: Denn, obwohl der Moment des Jahres, in dem Tag und Nacht gleich lang sind, seit über 3000 Jahren von vielen unterschiedlichen Kulturen in der Region gefeiert wird, spielt Newroz insbesondere in der kurdischen Nationalbewegung eine maßgebliche Rolle.
Das liegt zum einem am mythologischen Ursprung des Festes. Der Legende nach gelang es dem kurdischen Schmied Kawa, der Tyrannenherrschaft des Despoten Dehok, der jedes Jahr zwei Jungen opfern und an seine Schlangen verfüttern ließ, ein Ende zu setzen. Nach der erfolgreichen Revolte entfachte Kawa für alle sichtbar ein Feuer im Palast und der Frühling kam. Neben dieser symbolischen Bedeutung gewann Newroz auch eine politische Dimension, weil die Begehung dieser Tradition lange von den Machthaber:innen in der Türkei verboten wurde.
Ein Anflug von Hoffnung
Wer wissen will, wie es um das Verhältnis zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bevölkerung steht, der sollte an einer Newrozfeier in Städten wie Van, Cizre oder Diyarbakır teilnehmen. Besucher:innen, die sich im Jahr 2013 auf den Festplätzen einfanden und aus allen Teilen des Landes anreisten, hatten nicht nur detailverliebte, traditionelle Kleidung im Gepäck, die erst beim Govend (bzw. türkisch Halay) tanzen ihre volle Wirkung entfaltet, sondern auch eine gehörige Portion Hoffnung.
„Auf dem Weg zum Festplatz sangen Jung, Alt, Frauen, Männer und Kinder in den von der Stadt zur Verfügung gestellten Shuttlebussen gemeinsam kurdische Lieder und alle glaubten, dass ein 100 Jahre alter Kampf vorbei sei“, erinnert sich ein Teilnehmer des diesjährigen Newrozfestes in Diyarbakır.
Damals sah es so aus, als ginge der meteorologische Frühling einher mit einem politischen Neuanfang, befanden sich die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und die Arbeiterpartei Kurdistans doch in historischen Friedensverhandlungen. Sogar ein „Friedensbrief“ des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan wurde auf der Bühne des 156 000 Quadratmeter großen Veranstaltungsgeländes verlesen, auf Türkisch und Kurdisch.
Newroz 2021: Das Feuer brennt weiter
Diese Worte waren in den Jahren 2015 und 2016 aber schon verhallt und Newroz verlor abermals seine Unbeschwertheit: Die türkischen Sicherheitskräfte und Barrikadenkämpfer:innen der YDG-H (der Jugendorganisation der PKK) lieferten sich Gefechte in der historischen Altstadt Diyarbakırs.
Der Tod hatte über das Leben, Dehok über Kawa gesiegt. Und auch dieses Jahr weht kein Wind des Aufbruchs, die Feierlichkeiten werden vom Verbotsverfahren überschattet, darüber kann auch der wolkenfreie, blaue Himmel über Diyarbakır nicht hinwegtäuschen.
Bereits um neun Uhr morgens mache ich mich auf den Weg zum Newroz-Park im etwas außerhalb gelegenen Stadtteil Bağlar. Der Ort des Geschehens ist nur zu Fuß, mit eigenem Fahrzeug, den gelb-weißen Taxis oder den sporadisch fahrenden öffentlichen Sammelbussen zu erreichen.
Was für mich wie eine präventive Maßnahme in Pandemiezeiten aussieht, nehmen die Menschen vor Ort als eine weitere Schikane seitens des von der Regierung 2019 eingesetzten Zwangsverwalters der Stadt wahr. „Sie wollen verhindern, dass die Menschen Newroz feiern”, erklärt mir der Taxifahrer, der es heute nicht nur als seinen Beruf sondern auch als Pflicht ansieht, den Transport zum Festplatz zu gewährleisten.
Als ich an der ersten Sicherheitskontrolle ankomme, sieht es tatsächlich so aus, als wäre diese Rechnung aufgegangen. Nur einige Hundert Menschen tummeln sich vor den Absperrungen und warten auf Einlass. Dass die Nerven angespannt sind, merke ich, als ich die Wartezeit nutze, um Fotos zu schießen. „Warum fotografierst du so viel?“, will ein junges Mädchen wissen und zupft dabei an den etwas zu lang geratenen Ärmeln ihres violetten Kleids. Eine andere Teilnehmerin bittet mich darum, die Fotos, auf denen sie zu sehen ist, nicht in den sozialen Netzwerken zu teilen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Wartenden, die Einlasskontrollen beginnen. Neben dem eindringlichen Abtasten jeglicher Körperstellen verlangen die Polizist:innen von den Teilnehmer:innen dieses Jahr auch ihre personalisierte Kennnummer (HES-Code genannt) der türkischen Corona-App. Um auch jenen den Einlass zu ermöglichen, die bis dato keinen HES-Code angefordert hatten, bilden sich Grüppchen von meist jungen Menschen, die Hilfestellung leisten.
Ich passiere zwei Kontrollen und sehe, wie das Mädchem im violetten Kleid, das vorhin noch so nervös wirkte, mit jedem Meter, den sie zwischen sich und die „Skorpione” (so heißen die gepanzerten Fahrzeuge der Ordnungskräfte) bringt, aufrechter geht.
Die Stimmung der Menschen um mich herum ändert sich: Kämpferische Sprechchöre, ausgelassenes Singen, energetisches Klatschen und Pfeifen, spontane Tanzeinlagen werden jetzt zum Besten gegeben. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass zahlreiche Besucher:innen aus allen Richtungen heranströmen und sich ihren Weg zum zentralen Newrozplatz bahnen.
Ein Zeichen gegen das Verbotsverfahren
Je näher die Bühne kommt desto schneller werden die Schritte, der Platz wird erobert. Die ersten Lieder erklingen aus den Lautsprechern und es wird zusehends schwieriger, den coronabedingten Abstand einzuhalten. Die Kurd:innen, die an diesem Tag in Diyarbakır und anderen Städten Newroz feiern, wollen vor allem ein Zeichen gegen das Verbotsverfahren der HDP setzen und zeigen, dass man zwar eine Partei verbieten kann, nicht aber eine Idee.
Dieses Thema dominiert sowohl auf als auch abseits der Bühne die Feierlichkeiten: „Nehmen wir mal an, ihr habt es geschafft, die HDP zu schließen, was werdet ihr mit den Menschen machen? […] Die HDP ist doch kein Geschäft! Was wollt ihr schließen? Die HDP sind die Menschen, ein Ort der der Hoffnung, die HDP ist die Garantie für ein freiheitliches und friedliches Miteinander in diesem Land“, empört sich der HDP Co-Vorsitzende Mithat Sancar auf der Bühne.
Die Anwesenden antworten ihm mit einem Meer aus HDP-Fahnen, das sich in Bewegung setzt. In der Menge suche ich nach meinen Begleiter:innen, mein Blick trifft Mohammed*, der nüchtern kommentiert: „Filiz, dieses Jahr ist Newroz ein Auferstehungsfest.“
*Name geändert