In der zentralanatolischen Stadt Kayseri kam es am 30. Juni 2024 zu schweren rassistischen Übergriffen auf syrische Geflüchtete. Dies markierte einen traurigen Höhepunkt der zunehmenden Gewalt gegen Geflüchtete in der Türkei.
Die mutmaßliche sexuelle Belästigung eines Kindes durch einen Mann syrischer Herkunft war der Auslöser für die Übergriffe gegen syrische Geflüchtete, die sich Ende Juni in der türkischen Stadt Kayseri ereigneten. Nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Falles mobilisierten sich extremistische Gruppen und griffen die syrische Bevölkerung an. Häuser, Geschäfte und Fahrzeuge wurden angezündet und mit Steinen beworfen. Die Polizei nahm laut Innenminister Ali Yerlikaya noch in derselben Nacht 67 Personen fest. Der Vorfall in Kayseri ist kein Einzelfall, sondern spiegelt die wachsende Fremdenfeindlichkeit in der Türkei wider.
Die veränderte Stimmung gegenüber den Geflüchteten
In der Türkei leben etwa 3,2 Millionen Syrer:innen. Damit zählt das Land zu den Hauptaufnahmeländern für Geflüchtete. Während die Türkei zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs noch Solidarität mit den Geflüchteten zeigte, hat sich die Stimmung in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die anfangs gastfreundliche Haltung wurde von rassistischen Narrativen, Angriffen und einer ausländerfeindlichen Politik abgelöst. Die Gewalt in Kayseri ist Teil einer landesweiten Entwicklung, die sich zunehmend auch auf die Großstädte der Türkei ausweitet. Extremistische Gruppen wie die ultranationalistischen Grauen Wölfe nutzen Vorfälle wie diese, um Hass und Gewalt gegen syrische Geflüchtete zu schüren.
Die anhaltende Wirtschaftskrise und die politische Instabilität haben die Ressentiments gegen Geflüchtete verstärkt. Die türkische Bevölkerung beklagt häufig fehlende Integration syrischer Geflüchteter, aber gleichzeitig fehlen Möglichkeiten für diese, sich erfolgreich zu integrieren, da staatliche Unterstützung in diesem Bereich oft unzureichend ist. Laut einer Umfrage des UNHCR aus dem Jahr 2022 fordern 48 Prozent der Befragten die Rückkehr der Syrer:innen nach Syrien. Dies verdeutlicht, dass ein wachsender Teil der türkischen Gesellschaft Geflüchtete als Belastung ansieht. Dies spiegelt sich auch in den rassistischen Übergriffen im Alltag.
Politische Dimension der Krise
Neben den rassistischen Übergriffen richtet sich der Zorn vieler Demonstrant:innen gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Migrationspolitik. „Tritt zurück, Erdoğan!“ skandieren Demonstrant:innen immer öfter auf den Straßen. Bisher stützte Erdoğan seine Migrationspolitik auf die gemeinsame Religion und setze dabei vor allem auf emotionale Zustimmung. Oft betonte er, dass die Türkei eine Verantwortung habe, geflüchteten Menschen zu helfen. Nun äußert er das Ziel, Syrer:innen möglichst „freiwillig“ nach Syrien zurückzuführen, doch weder die Bevölkerung noch andere Politiker:innen und Parteien scheinen den Versprechen einer sicheren Rückkehr nach Syrien zu vertrauen. Aus allen Richtungen werden Stimmen laut.
Özgür Özel von der oppositionellen „Republikanischen Volkspartei“ (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) äußerte, er könne den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad davon überzeugen, sich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen, um über eine mögliche Rückkehr der Syrer:innen sprechen. Mit einer Vielzahl von ähnlichen Aussagen werden Syrer:innen in der Türkei Opfer populistischer Propaganda. Die Rhetorik beruht auf der Vorstellung, dass die syrischen Geflüchteten eine Belastung für die türkische Gesellschaft und Wirtschaft darstellen. Dabei wird die Realität in Syrien, geprägt von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen, oft verschleiert oder ignoriert, um Rückführungen als humanitäre Lösung darzustellen. Doch es handelt sich in vielen Fällen um Zwangsrückführungen in gefährliche Verhältnisse. Darüber hinaus wird teils die Registrierung neu ankommender Asylbewerber:innen ausgesetzt. So verkündete der stellvertretende türkische Innenminister Ismail Çataklı im Februar 2022, dass Anträge von Ausländer:innen auf Aufenthaltsgenehmigungen in Stadtteilen, in denen der Anteil der ausländischen Bevölkerung 25 Prozent oder mehr beträgt, nicht mehr bearbeitet werden. Statt den Schutz und die Rechte der Geflüchteten zu priorisieren, scheinen verschiedene Kräfte in der Türkei Syrer:innen als Mittel für politische Machtkämpfe zu missbrauchen.
Die Lage in Syrien: Keine sichere Alternative
Eine Rückkehr nach Syrien scheint für die meisten Syrer:innen kaum eine realistische Option zu sein. Laut einem Bericht des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2023 bleibt die Sicherheitslage in Syrien extrem angespannt. Kämpfe zwischen dem Assad-Regime, kurdischen Milizen und islamistischen Gruppen halten an, besonders im Norden und Nordwesten Syriens, wo es regelmäßig zu Luftangriffen, Bombardierungen und Bodenoffensiven kommt.
Die humanitäre Lage ist katastrophal: Über 15 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, und etwa 68 Prozent der Bevölkerung droht eine Hungersnot. Die Infrastruktur ist durch den langjährigen Krieg und das Erdbeben von 2023 weitgehend zerstört. Auch Menschenrechtsverletzungen sind nach wie vor weit verbreitet. Folter, willkürliche Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Zivilist:innen sind an der Tagesordnung.
Kein Platz für Syrer:innen in der Türkei?
Berichterstattung und Befragungen, die die Perspektive der syrischen Geflüchteten abbilden, gibt es kaum. Das liegt zum einen an der wachsenden Angst der Syrer:innen, sich öffentlich zu äußern, und zum anderen am Desinteresse an den Empfindungen der Geflüchteten. Im Rahmen der Vorfälle in Kayseri machte es sich die türkische Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (IHD) zur Aufgabe, syrische Bewohner:innen der Stadt zu ihren Gefühlen und Erfahrungen zu befragen. Die IHD, eine Menschenrechtsorganisation, die 1986 gegründet wurde und ihren Hauptsitz in der türkischen Hauptstadt Ankara hat, setzt sich ehrenamtlich vor allem für Themen wie Diskriminierung, Krieg, Folter, Todesstrafe und Einschränkung der Grundrechte ein.
Wenige Tage nach den gewaltvollen Auseinandersetzungen in Kayseri sprachen sie vor Ort mit Syrer:innen, darunter einem syrischen Ladenbesitzer namens Muhammed und seinem Sohn Haydar. Sie berichteten, dass über 50 Arbeitsstellen angegriffen worden seien und brachten ihre Sorge zum Ausdruck: „Ich habe einige meiner Familienmitglieder nach Aleppo geschickt, manche Familien sind vollständig zurück nach Syrien oder ziehen in andere türkische Städte und ein anderer Großteil hat ähnliche Überlegungen“, fügte Muhammed hinzu. Die Gefahr sei groß, und sie hätten beobachtet, dass einige der Extremist:innen bewaffnet seien.
Andere Betroffene berichteten von ähnlichen Erfahrungen und gaben an, dass die Polizei Schwierigkeiten hatte, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Kritische Stimmen warfen der türkischen Polizei vor, insbesondere in den ersten Tagen wenig bis gar nicht eingegriffen zu haben. Syrer:innen schildern der IHD, dass sie sich vom Staat nicht ausreichend geschützt fühlen. Diese und ähnliche Stimmen scheinen repräsentativ zu sein, finden aber öffentlich und medial selten Gehör. Laut dem Interview der IHD fühlt sich ein Großteil der Syrer:innen im Alltag bedroht. So ist das Sprechen der arabischen Sprache auf öffentlichen Plätzen oder die Kontaktaufnahme mit Einheimischen oft mit Unsicherheiten und Hemmungen verbunden
Was erwartet die Syrer:innen in der Zukunft?
Ob es durch die Annäherungen an den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vermehrt zu erzwungener Rückkehr nach Syrien kommen wird, bleibt ungewiss. Fest steht jedoch, dass bereits Rückführungen von Syrer:innen stattfinden, was bei vielen Betroffenen Besorgnis auslöst. Gleichzeitig ist die Stimmung in der türkischen Gesellschaft angespannt: Während einige türkische Bürger:innen eine schnelle Rückführung der Syrer:innen fordern, gibt es auch Stimmen, die zu einem differenzierten Umgang mit der Situation aufrufen.
Kurz nach den Unruhen im Land erklärte Erdoğan Anfang Juli, dass eine Wiederannäherung an Assad möglich sei. Während türkische Einheimische die Annäherung als Erfolg feiern, sorgen sich die in der Türkei lebenden Syrer:innen um ihre Sicherheit. Was wirklich geschehen wird und wie die Zukunft der Syrer:innen in der Türkei aussieht, bleibt offen. Aktuell scheinen die Perspektiven düster zu sein – sowohl in der Türkei als auch in Syrien.