21.05.2024
Grund zur Hoffnung? Geflüchtete in der Türkei nach den Kommunalwahlen
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei spielte die Wirtschaftskrise mit Hyperinflation eine größere Rolle als die Flüchtlingspolitik. Foto: Pexels/Sara
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei spielte die Wirtschaftskrise mit Hyperinflation eine größere Rolle als die Flüchtlingspolitik. Foto: Pexels/Sara

Die Opposition konnte bei den Kommunalwahlen im März 2024 einen überraschend deutlichen Sieg einfahren. Sie wirbt vor allem mit Demokratisierung. Doch was bedeutet das Wahlergebnis für die Geflüchteten in der Türkei?

In der Türkei leben über vier Millionen Geflüchtete. Sie werden oft zum Sündenbock gemacht, es gibt bösartige Gerüchte über sie und sie sind immer wieder Spielball in politischen Debatten – sowohl innenpolitisch, als auch in Verhandlungen mit der EU.

Doch die Türkei war den Geflüchteten gegenüber nicht immer so feindselig eingestellt, erst mit der Zeit wurden sie zur politischen Verhandlungsmasse. In den frühen 2010er-Jahren erlebte ich persönlich, wie das Land hunderttausende Syrer:innen einreisen ließ, die vor Baschar al-Assad flohen. Zwischen 2011 und 2015 waren Städte wie Istanbul, Gaziantep und Antakya sichere Häfen für hunderte syrische Aktivist:innen und Organisationen. Deren Arbeit ist bis heute zentral für den Kampf um Gerechtigkeit angesichts der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in Syrien.

Ab Ende 2015 verschlechterte sich die Situation dramatisch. Das lag vor allem an drei Entwicklungen: Die russische Beteiligung am Krieg in Syrien führte zu mehr Flüchtenden; der EU-Türkei-Deal im März 2016 zog den Bau einer Mauer entlang der türkisch-syrischen Grenze nach sich und es wurde eine Visapflicht eingeführt; und der versuchte Coup im Juli 2016 war Anlass für noch autoritäreres Regieren in der Türkei.

Bei den Kommunalwahlen am 31. März 2024 trug die Oppositionspartei CHP einen unerwartet klaren Sieg davon. Das Schicksal der Geflüchteten in der Türkei, eine der größten Flüchtlingspopulationen weltweit, ist untrennbar mit der generellen Demokratisierung in der Türkei verbunden. Können sie also nach diesem überraschenden Ergebnis der Kommunalwahlen auf ein würdevolleres Leben hoffen?

Das Thema Flucht in der türkischen Politik

In der Türkei sind sich die meisten politischen Parteien darin einig, dass die Lösung für das „Flüchtlingsproblem“ die Rückkehr der Geflüchteten in ihre Herkunftsländer ist. Die Programme unterscheiden sich nur darin, wann und wie diese Rückführungen stattfinden sollen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) verspricht schon lange, syrische Geflüchtete in Gebiete Syriens abzuschieben, die er „Safe Zones“ nennt. Auch der CHP-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2023 gab damals das Wahlversprechen, alle syrischen Geflüchteten innerhalb von zwei Jahren zurückzuschicken.

Hetze gegen Geflüchtete dominierte damals sowohl die Wahlkampagne der CHP und, zu einem geringeren Ausmaß, die der AKP. Grund war vor allem die rechtsextreme „ATA-Allianz“, ein 2023 gegründetes Wahlbündnis aus vier kleinen Oppositionsparteien, das vor allem einwanderungsfeindliche Positionen vertrat. Sie waren mit einem Stimmenanteil von fünf Prozent der Königsmacher der Präsidentschaftswahlen und setzte das Thema ganz oben auf die Agenda des Wahlkampfes.

Nur ein Jahr später war das Thema in den Kommunalwahlen 2024 auffallend abwesend. Möglicherweise, weil die Regierung mit harten Maßnahmen gegen Migrant:innen vorgeht. Dazu gehören Abschiebungen, willkürliche Verhaftungen und brutaler Grenzschutz. Die Maßnahmen haben bereits zu einem Rückgang neuer Ankünfte aus Syrien geführt, das Thema bot der Opposition also wenig Spielraum.

Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, nachdem die Regierung eine 180-Grad Wendung vollzogen hat, hin zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik inklusive strenger Sparmaßnahmen. Wichtiger war vielen Wähler:innen das uneingelöste Versprechen der Regierung, in den 2023 vom Erdbeben betroffenen Regionen neue Wohnungen zu bauen.

Welche Rolle spielen Wahlen in der Türkei?

Wahlen sind in der Türkei weder frei noch fair: das Kräfteverhältnis ist eindeutig zugunsten von Präsident Erdoğan und der AKP verschoben, die seit 22 Jahren regiert. Und doch sind sie wettbewerbsorientiert. Auch Oppositionsparteien können theoretisch Wahlen gewinnen und führen einen ernsthaften Wahlkampf. 2023 war die knappe Wiederwahl Erdoğans vor diesem Hintergrund eine Enttäuschung für die Opposition – die Hoffnung, dass politischer Wandel durch Wahlen herbeigeführt werden kann, schwand. Umso größer war im März die Freude, als sich der Sieg der Opposition abzeichnete.

Obwohl die Türkei autokratisch regiert wird, zeigen Studien, dass Kommunen Orte des demokratischen Wandels sein können. Vor allem in Istanbul haben lokale Wahlen ein großes Gewicht und können die Politiklandschaft des ganzen Landes beeinflussen. Der Sieg der Opposition ist zu großen Teilen dem starken Wahlkampf des amtierenden, charismatischen CHP-Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, zu verdanken. İmamoğlu verkündete, dass Istanbul unter seiner Regierung zu einem Leuchtfeuer der Hoffnung und Demokratie geworden sei – für die Türkei und die ganze Welt.

Steht die CHP für eine erneuerte Demokratie in der Türkei?

Die CHP deckt als Partei ein breites politisches Spektrum ab, von links-liberal bis konservativ: sowohl migrationsfeindliche Politiker:innen wie der Bürgermeister von Bolu Tanju Özcan, als auch sehr viel offenere Bürgermeister:innen wie Tunç Soyer aus Izmir gehören zur CHP. 2024 stellte die CHP viele weibliche Kandidatinnen auf und warb mit einer Union aus dem liberalen, neu gewählten Vorsitzenden der Partei, Özgür Özel und Ekrem İmamoğlu.

Bei einer Veranstaltung der Organisation Socialist International im Februar 2024 sprach Özel über die solidarische Politik seiner Partei und rief zum weltweiten Kampf gegen die extreme Rechte auf. Dieser Ansatz trug zum Sieg der Partei bei. Auch in der Praxis zeigt sich der Wille zur Demokratisierung: Als die türkische Regierung kurz nach den Kommunalwahlen 2024 versuchte, den frisch zum Bürgermeister von Van gewählten kurdischen DEM-Kandidaten Abduallah Zeydan nicht zuzulassen, traten beide Politiker öffentlich für ihn ein. DEM steht für Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi (Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes). Sie ist 2023  aus der Grünen Partei hervorgegangen und löste die von einem Verbot bedrohte HDP ab. Mit Blick auf den internen Machtkampf zwischen liberalen und konservativen Teilen der CHP geben diese Auftritte Hinweise auf eine liberale Politik.

Angenommen, es kommt nicht zu vorgezogenen Wahlen, hat die CHP bis 2028 Zeit, um auf den aktuellen Versprechen aufzubauen. Zeit, um Bemühungen zur Demokratisierung auf den Weg zu bringen, die auch linkere Parteien wie die pro-kurdische DEM-Partei miteinbinden. Diese hat ein Wählerpotential von bis zu zehn Prozent, wie beispielsweise das Abschneiden des prominenten HDP-Kandidaten Selahattin Demirtaş 2014 zeigte.

Es ist jedoch nicht klar, wie weit die Bemühungen um Demokratie gehen. Es könnte sein, dass sie auf dem Niveau einer exklusiven Demokratie Halt machen, die Nicht-Bürger:innen wie Geflüchtete ausschließt. Wie wird die CHP mit Geflüchteten umgehen, die nach aktuellem Stand nicht freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren? Eine andere Frage ist, ob ihre potentiellen Verbündeten und Kleinparteien wie die DEM die Position der CHP in Sachen Migration beeinflussen können. Diese schwierigen Fragen muss die CHP beantworten, intern und im Rahmen der nationalen Politik.

Das Jahr der Wahlen

2024 stehen weltweit wichtige Wahlen an. Die EU-Wahlen im Juni 2024 werden voraussichtlich wichtig für Fluchtmigration zwischen der Türkei und der EU. Der prophezeite Rechtsruck im EU-Parlament wird die Türkei voraussichtlich beeinflussen, und zwar nicht nur die Regierung sondern auch die Opposition. Die Parteien CHP und DEM sind Teil der Partei der Europäischen Sozialisten (PES).

Die Zeit wird zeigen, ob der aktuelle demokratische Trend in der Türkei gegenüber weiteren Verhandlungen um Migrationsthemen seitens der EU immun ist. Hinsichtlich des EU-Türkei-Deals von 2016 gibt es Argumente, dass die EU durch die Auslagerung der Grenzkontrollen zur Fremdenfeindlichkeit gegenüber Geflüchteten in der Türkei beigetragen hat. 

Trotz der autokratischen Regierung bleibt ein Charakterzug der türkischen Politik erhalten: Sie ist dynamisch. Ein inklusiver Demokratisierungsprozess, der den Geflüchteten etwas Würde zurückgeben kann, ist nicht unmöglich.

Dieser Text ist eine übersetzte und überarbeitete Version des englischen Originals, das zuerst auf The Conversation erschien.

 

 

The Conversation

Dilshad ist ALMA- Fellow am Arnold-Bergstraesser-Institut (ABI) in Freiburg und Doktorand an der Universität Freiburg. Sein Promotionsprojekt befasst sich mit Kommunalverwaltungen in der Türkei und deren Umgang mit Zwangsmigration.
Redigiert von Jana Treffler
Übersetzt von Clara Taxis