29.03.2022
Auf dem Markt der Solidarität
Bosnisches Bistro, Treffpunkt an der Grenze, 2021. Foto: Dominik Winkler
Bosnisches Bistro, Treffpunkt an der Grenze, 2021. Foto: Dominik Winkler

Unterstützer:innen von Migrant:innen an der EU-Außengrenze „geben“ ihre Solidarität. Aber was erhalten sie dafür im Gegenzug? Basierend auf Erfahrungen in Bosnien reflektiert dieser Text das Geben und Nehmen an der EU-Außengrenze.

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch.

„Vielen Dank, dass ihr den Menschen helft“ – mit diesen Worten bezahlt ein älterer Bosnier das Imbissessen von mir und meiner Kollegin. Ich unterdrücke den Drang zu erklären, dass unsere Arbeit eigentlich keine Hilfe sein soll und belasse es bei einem netten Small-Talk. Ich versuche auch gar nicht erst zu lügen und zu behaupten, wir seien gar nicht hier um solidarische Arbeit mit Menschen auf der Flucht machen, sondern nur Tourist:innen, wie unsere Organisation es eigentlich zum Selbstschutz fordert.

Jeden Monat kommen mehr als ein Dutzend weiße Menschen, insbesondere aus Deutschland, um für einige Wochen in Bosnien Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Also Holz, Kleidung oder Essen zu verteilen. Natürlich wissen die Menschen vor Ort, was wir machen. Aktivist:innen und Freiwillige sind nach mehr als einem halben Jahrzehnt „Krise“ genauso Teil der Grenze wie Grenzbeamte und illegalisierte Migrant:innen.

Der Imbissbesuch liest sich vor meinem inneren Auge fast wie eine Theaterszene: In der Hauptrolle weiße Menschen die helfen, daneben eine meist freundliche lokale Bevölkerung, die dankbar meine Ćevapčići bezahlt, und natürlich Menschen auf der Flucht. Jede der Gruppen hat dabei ihre eigene Funktion – sie alle geben und nehmen etwas an der Grenze. Ihre Rollen spielen sie dabei in gegenseitiger Ergänzung und Abhängigkeit.

Die beschriebene Szene ist ein Mikrokosmos dessen, was ich als Grenzökonomie beschreiben werde. Im Kleinen wird Anerkennung gegen Ćevapčići getauscht, Hilfsgüter verwandeln sich in das gute Gefühl des Helfens. Im Großen werden vor allem zwei Güter verhandelt: Mobilität und Solidarität.

Die trennende Kraft der Grenzen

Die Anreise aus dem Inneren der „Festung Europa“ war unerwartet entspannt: Von München aus fährt direkt ein Bus in die bosnische Grenzstadt. Außer einer kurzen Kontrolle unterscheidet sich der Weg kaum von einer Fahrt von Freiburg nach Berlin. Die Grenze hat für mich de facto kaum materielle Bedeutung, ich kann sie jederzeit überqueren.

Die ihr zugeschriebene Bedeutung ist jedoch wie ein übergreifendes Schema, nach dem alles um sie herum geordnet wird. Die Grenze trennt zwischen Europa und nicht-Europa, zwischen „uns“ und „ihnen“, zwischen dem Ort, an dem ich normalerweise lebe und dem Ort, an dem ich solidarisch bin. Wie ich öfter von anderen Freiwilligen hörte war ich angekommen, dort, wo man „endlich was tun kann“.

Die Grenze wird zu einem Raum für praktische Solidarität. Sie trennt zwischen Räumen der Krise, in denen Solidarität benötigt wird, und jenen, von welchen aus Solidarität geleistet wird. Diese Trennung rechtfertigt, dass Menschen reisen, um „solidarisch“ zu sein. Ob Voluntourist:innen, politische Aktivist:innen oder Menschen, deren Lohnarbeit solidarische Arbeit ist, sie alle benötigen eine Bühne, einen Krisenort, um ihre Solidarität umzusetzen. Wo und was die Krise ist, wird meist nicht von den Betroffenen bestimmt, sondern von der Ökonomie der Grenze geprägt.

Diese oft binäre Unterscheidung zwischen angereisten Helfer:innen und in die entgegengesetzte Richtung reisenden Migrant:innen blendet Gesellschaften im Grenzgebiet aus. Bosnier:innen sind in einer komplexen Position: die kollektive Erinnerung an den Genozid an den bosnischen Muslim:innen und die Flucht Vieler in die EU sind in der Gesellschaft präsent. Durch die Transitmigration entsteht eine neue Rolle als Host-Community für Menschen, die größtenteils nicht in Bosnien bleiben wollen. Medial aber auch in der Öffentlichkeitsarbeit von Nichtregierungsorganisationen wird die Auswirkung der Grenzökonomie für die lokale Bevölkerungen häufig komplett ignoriert, oder durch rassistische Narrative über „den Balkan“ verklärt.

Die Ökonomie der Grenze

Das Problem von einem rein geopolitischen Blick auf die Grenze ist, dass er das enorm vereinfachte Bild einer Linie auf der Landkarte suggeriert. Begriffe wie „Festung Europa“ sind wichtig, um auf die Militarisierung der Grenze Aufmerksam zu machen. Dabei handelt es sich übrigens um einen ursprünglich nationalsozialistischen Begriff, der in den 90er Jahren für Befürworter:innen des Neoliberalismus das Feindbild der unfreien globalen Märkte bezeichnete und den sich aktuell auch rechte Gruppierungen aneignen.

Es ist abgesehen von der Verwendung dieses Begriffes jedoch realitätsfern, die Grenze als eine rein physische Mauer zu betrachten. Sie ist keine Hürde, die einfach abgebaut werden kann, ebenso wenig wie die entlang des Grenzraums gebildeten Identitätskategorien einfach dekonstriuert werden können. Eine kritische Reflexion über die Vorstellung vom europäischen „Wir“ und dem außereuropäischen „Anderen“ ist unerlässlich. Doch solange mit EU-Steuergeldern die Waffen und Grenzsoldaten bezahlt werden, die „die Anderen“ draußen halten, reicht Reflexion nicht aus.

Die EU-Außengrenze ist auf zwei Ebenen fundamentaler Bestandteil einer politischen Ökonomie der EU. Erstens bildet sie die Grenze zwischen dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und dem, was oft als globaler Süden oder Peripherie bezeichnet wird. Dieser Wirtschaftsraum ist durch eine große Mobilität von Menschen, Waren, Kapital und Dienstleistungen gekennzeichnet.

An der EU-Außengrenze endet diese generelle Freizügigkeit. Von der EU subventionierte Agrargüter sind generell zur Ausfuhr zugelassen, ebenso wie Menschen mit EU-Pässen außerhalb der EU eine grundsätzlich große Mobilität genießen. Die Einreise in die EU ist jedoch schwieriger, sowohl für Waren als auch Personen. In dieser Dimension ist die Grenze ein Ort, an dem der globale Handel organisiert wird: Sie trennt und beschränkt selektiv.  

Die so gestaltete globale politische Ökonomie erzeugt Ungleichheit, welche eng mit der legalisierten und illegalisierten Migration an den Grenzen verbunden ist. Der Wohlstand innerhalb der EU basiert unter anderem auf neokolonialen Strukturen, in denen billige Arbeitskraft im EU-Ausland den Massenkonsum innerhalb der Union ermöglicht. Der Traum vom Paradies EU, für den so viele versuchen, die Grenze zu überqueren, wurzelt in diesem Sinne  in der Trennung von internen und externen Märkten.

Wer oder was schafft es über die Grenze?

Die Ungleichbehandlung von Menschen beim Grenzübertritt erreicht in den Diskussionen um die Flucht aus der Ukraine eine breitere Öffentlichkeit. Polen erlaubte Menschen mit ukrainischen Pass die Einreise, während es als Teil der EU-Abschottungspolitik an einer Grenzmauer baut. Flüchtende aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass erlebten teilweise extreme Schwierigkeiten bei der Ausreise und auch auf dem weiteren Weg in Deutschland. Aber auch von der Wehrpflicht betroffene Ukrainer werden vom Verlassen des Landes abgehalten. Hier tritt eine grundlegende Funktion von Grenzen zutage: sie bestimmen über (Im)Mobilität nach den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien.

Als Symbol der nationalstaatlichen Zugehörigkeit ermöglicht der Reisepass manchen den legalen Grenzübertritt. Diese Reisefreiheit beruht auf den diplomatischen Beziehungen zwischen den Ländern und ihrer jeweiligen Macht, Visaabkommen auszuhandeln. Kapital ist ein weiterer Faktor, der Mobilität ermöglicht. Einige EU-Länder boten Pässe und damit Zugang zum Schengen-Raum für Investitionen in sechs- bis siebenstelliger Höhe an, bis im Sommer 2021 Skandale diese Praxis vorübergehend stoppten.

Hinterlassene Gedanken zur Grenze, Velika Kladuša, Bosnien 2021; Foto: Theresa Wagner

Kapital spielt auch bei der illegalisierten Migration eine Rolle. Viele können sich die Kosten für Schmuggler:innen oder den Kauf neuer Handys und Kleidung, die regelmäßig von der Grenzpolizei zerstört werden, einfach nicht leisten. Neben dem finanziellen ist kulturelles Kapital hier von Bedeutung: international auftretende Künstler:innen zum Beispiel, genießen trotz geringem finanziellem Kapital eine höhere Mobilität als andere Nicht-EU-Bürger:innen.

Bekanntermaßen ist die Hautfarbe ein weiterer Faktor: Wer beispielsweise als Person ohne Visum innerhalb der EU reist, läuft ständig Gefahr, „gepushbackt“ zu werden, also gewaltsam aus der EU gebracht zu werden. Nicht-weiße illegalisierte Migrant:innen berichten regelmäßig, dass sie beim Besuch von Supermärkten verhaftet und über die Grenze zurücktransportiert werden, unter anderem weil Anwohner:innen die Polizei rufen. Das Risiko, Repressionen zu erleben, steigt also oft mit stärkerer Sichtbarkeit von Unterschieden zur weißen Norm.

Nicht nur die Mobilität von Personen, sondern auch die Mobilität von Waren ist entlang der Grenze selektiv. Nicht alle Menschen werden am Grenzübertritt gehindert, und nicht alle Waren sind gleichermaßen von Steuern oder Einfuhrverboten betroffen. Globale Handelsabkommen regeln, welche Waren aus bestimmten Ländern ein- und ausgeführt werden dürfen.

Die Mobilität von Menschen, Waren und Kapital ist ungleich verteilt, was die Volkswirtschaften und Arbeitsmärkte der reichen Länder begünstigt und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum für die ausgebeuteten Länder oft unmöglich ist. Die Grenze muss also im Zusammenhang mit dem globalen Kapitalismus und der (Im)Mobilität der Arbeiter:innen verstanden werden.

Der marxistischen Analyse nach stecken die Arbeiter:innen ihre Arbeitszeit in die von ihnen produzierten Waren. Die Mobilität der Waren über die Grenze wird zur „Mobilität“ der Arbeitskraft derjenigen, die diese Grenze selbst oft nicht überqueren können. Mit anderen Worten: Eine Arbeiterin, die Baumwolle erntet, kann vielleicht nicht in die EU reisen, wo ihre Arbeit aber als produziertes T-Shirt verkauft wird. Die Ware, wie Baumwolle oder später Kleidung, reist um die Welt.

Diese Kluft zwischen der Mobilität der Waren und der Immobilität vieler Arbeiter:innen ist im Kontext der deutschen und EU-Wirtschaft eine relativ neue Entwicklung. Noch während der fordistischen Produktion in den Nachkriegsjahren wurden sogenannte Gastarbeiter:innen angeworben, vor allem aus dem Mittelmeerraum. Mit der Ölpreiskrise wurden alle diese Abkommen gekündigt und das Weltwirtschaftssystem auf eine postfordistische, neoliberale Produktion umgestellt. In den folgenden Jahrzehnten nahm die Mobilität der Arbeiter:innen immer weiter ab, während ihre Arbeitskraft in Form von Waren weiterhin zirkuliert.

Positionierungen entlang der Grenze

Die persönliche Erfahrung von Grenzen ist sehr stark davon geprägt, wo man innerhalb der beschriebenen Matrix von Nationalität, Kapital, Hautfarbe und weiteren Kategorien steht. Für eine weiße deutsche Mittelschicht ist die Grenze beispielsweise von Urlaubsreisen, Warteschlangen, und Passkontrollen geprägt. Die Grenze schafft eine kollektive Erfahrung für verschiedene Gruppen. Für Migrant:innen, die von der EU kriminalisiert und von der kroatischen Grenzpolizei verprügelt werden, hat die EU-Außengrenze eine ganz andere Bedeutung. Die Grenze schafft nicht nur Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, sondern schafft auch materielle Realitäten, in denen sich Alltag und das Verständnis der Welt grundlegend unterscheiden.

Teilen von Essen und Gedanken in Velika Kladuša, Bosnien 2021; Foto: Sara Del Dot

Der materielle Unterschied lässt sich nicht einfach durch Selbstreflexion oder Sensibilität für rassistische Narrative dekonstruieren. Kritische Reflexion ändert nichts an der Tatsache, dass man jederzeit in einen Bus einsteigen und innerhalb einer halben Stunde in die EU einreisen kann, während Flüchtende auch nach Jahren und Dutzenden von versuchten Grenzübertritten noch in Bosnien festsitzen. Egal wie viel Öffentlichkeitsarbeit Sea Watch, Seebrücke oder eine andere der zahlreichen Organisationen machen, am Ende bleibt die Grenze für die meisten Deutschen nur ein Grenzübergang und keine undurchdringbare Mauer.

So groß die Wut der Aktivist:innen auf die kroatische Grenzpolizei und Frontex auch sein mag: Sie haben bezüglich ihrer gesellschaftlichen Position an der Grenze mehr mit der Grenzpolizei gemeinsam als mit illegalisierten Migrant:innen. Menschen, die sich mit Flüchtenden solidarisch sehen, laufen oft Gefahr, die Grenze als solche abzulehnen, ohne zu erkennen, dass ihre gesamte Existenz praktisch auf ihr beruht. Das betrifft ihre Mobilität, durch die sie erst in die Grenzregion reisen können, genauso wie die Finanzierung des Ehrenamts.

Die Kriminalisierung von Migration ist ein Katalysator der Ungleichheit entlang der Grenze und setzt illegalisierte Migrant:innen zusätzlichen Unsicherheiten und Bedrohungen aus. Der Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Unterkunft wird in Bosnien nicht einfach von einem Sozialstaat übernommen, sondern ist häufig prekär bis nicht existent, oder an internationale Organisationen mit fragwürdigen Zielen gebunden. Die humanitären Programme der EU drängen die Flüchtenden in Lager, die weiter von der Grenze und einem potentiellen neuen Grenzübertritt entfernt sind.

Dass „humanitäre“ Gelder gleichzeitig für die Finanzierung von Lebensmitteln für illegalisierten Migrant:innen als auch für die Bewaffnung der örtlichen Polizei verwendet werden, ist scheinbar kein Widerspruch, ebenso wenig wie die Zusammenarbeit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mit der Polizei bei der Räumung von selbstorganisierten Lagern. Flüchtende werden von diesen Hilfsprogrammen, die an den Interessen der EU-Staaten ausgerichtet sind, abhängig gemacht. Sie werden zum Objekt dieser Interessen, seien es Sicherheitsaspekte oder humanitäre Erwägungen.

Solidarische Arbeit als kulturelles Kapital

Solidarität existiert immer innerhalb der oben beschriebenen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen. Wie Yassin al-Haj Saleh argumentiert, funktioniert die Solidarität wie ein Markt zwischen denen, die Solidarität erhalten, und denen, die sie geben. In der solidarischen Arbeit an der Grenze kommt noch eine weitere Ebene hinzu: solche Auslandsaufenthalte bieten gerade weißen Deutschen eine Reihe von Erfahrungen, die sich später in kulturelles Kapital verwandelt, insbesondere in linksliberalen Kontexten.

Ob im Lebenslauf oder beim Dating: In einer Gesellschaft, in der humanitäre Helfer:innen bejubelt werden wird die Solidarität mit Flüchtenden „attraktiv“. Gleichzeitig geraten die Empfänger:innen der Solidarität aus dem Blickfeld und werden unter Umständen weiter abgeschoben oder eingesperrt.

Für Hilfsorganisationen wird kollektive Solidarität zum strategischen Kapital für das Fundraising. Die Sichtbarkeit dieser Solidarität ist die Grundlage für ihre eigene Finanzierung. So bleibt die Darstellung illegalisierter Migrant:innen als Opfer gegenüber weißen Retter:innen ein Kernmotiv des Fundraisings. Es lassen sich selbst im explizit linken und aktivistischen Kontext kaum Organisationen finden, die aktiv darstellen, wie sie als Organisation und als solidarische Menschen von dieser systematisierten Gewalt und Unterdrückung profitieren.

Hilfsorganisationen gefährden selten die Grundlage ihres Fundraisings und Einzelpersonen ziehen unter Umständen eine Karriere in der humanitären Industrie vor. Solidarität bleibt ein Markt mit wenig Platz für die aktive Reflexion der eigenen Position.

Solidarität im „hier“

Die direkte Solidarität endet für viele Freiwillige mit der Heimreise. Die Grenze zieht eine Trennung zwischen der Erfahrung als Helfer:in und dem davon losgelösten Leben in Deutschland. Für viele ist dieser Moment persönlich belastend, da man hier „hilflos“ ist, scheinbar nichts tun kann. Ein Teil der Ökonomie der Solidarität fällt weg: Zeit und Hilfsgüter können nicht mehr gegen Lächeln, Dankbarkeit und ein gutes Gefühl getauscht werden. Der eigene Wohnort, das „hier“,  wo die Grenze politisch legitimiert und finanziert wird, ist für viele ein Ort der Inaktivität.

Der Blick ins „Innen“ bietet aber auch Hoffnung: Wenn die Grenze als etwas verstanden wird, das innerhalb Deutschlands und der EU geschaffen und legitimiert wird, dann ergeben sich aus der EU heraus verschiedene Möglichkeiten einer politisch-solidarischen Praxis. Ein selbstkritischer Blick auf die eigenen Verstrickungen in die Grenzökonomie, auf die eigene Rolle in diesem „Spiel“, wird möglich. Ohne, dass man dafür nach Bosnien reisen muss.

In der aktuellen Kritik an der so breiten öffentlichen Solidarisierung mit der Ukraine kann der Blick der Grenzökonomie ebenfalls zur Debatte beitragen. Solidarität kann auf explizitem Rassismus basieren, wie beispielsweise ein CBS Reporter der argumentierte Ukrainer:innen seien im Gegensatz zu anderen Flüchtenden zivilisiert. Die Aushandlung der Zugehörigkeit der Ukraine als weiß, nicht-weiß, christlich, jüdisch, als Unterdrückerin oder Unterdrückte passiert nicht in einem Vakuum, sondern ist Teil des beschriebenen Aushandlungsprozesses von Solidarität und Identität.

Dass Flüchtende mit der Deutschen Bahn nach Berlin fahren dürfen ist natürlich gut. Wenn aber zeitgleich die Mitnahme von Flüchtenden aus anderen Ländern kriminalisiert wird, hat das mehr als einen bitteren Beigeschmack.

 

 

Dominik ist politischer Geograph und setzt sich mit der Verhandlung von Identitäten in Räumen und an Grenzen auseinander. Aktuell arbeitet er in der politischen Kommunikation in Berlin.
Redigiert von Pauline Jäckels, Clara Taxis