29.01.2025
Das Al-Khatib-Verfahren: Völkerstrafrechtliches Urteil zu staatlicher Folter in Syrien
2020 in Koblenz vor dem Oberlandesgericht. Foto: Mohamed Badarne
2020 in Koblenz vor dem Oberlandesgericht. Foto: Mohamed Badarne

Ein ehemaliger Regimeangehöriger wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Nach dem Sturz des Assad-Regimes ist das Urteil von großer Bedeutung für künftige Prozesse gegen verbliebene, flüchtende und geflohene Täter:innen.

Mehr als zwei Jahre nach der Urteilsverkündung im Januar 2022 hat der Bundesgerichtshof (BGH) nun endlich über die Revision in diesem ersten Verfahren von vielen im Zusammenhang mit den Völkerstraftaten des Assad-Regimes gegen die syrische Bevölkerung entschieden. Der BGH bestätigte alle relevanten Feststellungen sowie das Strafmaß des Urteils, mit dem Anwar R., ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Assad-Regimes, wegen in Syrien begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Er wurde der Beihilfe zu Folter, 27 Morden, schwerer Körperverletzung und sexueller Gewalt im Al-Khatib-Gefängnis in Damaskus, Syrien, für schuldig befunden. Das Urteil ist nun rechtskräftig.

Anwar R. bekleidete von 2011 bis 2012 die Position des Leiters der Ermittlungen in der berüchtigten Abteilung 251 der Haftanstalt des Syrischen Allgemeinen Geheimdiensts, der eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Regime spielte. Während dieser frühen Phase des syrischen Aufstands beging R. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach den Feststellungen des Urteils war er für die Folter von mindestens 4000 Menschen verantwortlich, die in der Abteilung 251 festgehalten wurden. Mindestens 27 dieser Inhaftierten starben. Die Hauptverhandlung begann im April 2020 gegen ursprünglich zwei Angeklagte, Anwar R. und Eyad A., wobei letzterer in Rheinland-Pfalz, dem Zuständigkeitsbereich des Oberlandesgerichts Koblenz, festgenommen wurde.

Mit dem Sturz des Assad-Regimes Anfang Dezember 2024 verstärkten sich die Forderungen nach einer Verfolgung der begangenen Verbrechen, und mit zunehmendem Bekanntwerden der Gräueltaten werden weitere potenzielle Wege juristischer Aufklärung diskutiert. In den vergangenen 13 Jahren waren Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip die einzige Möglichkeit im syrischen Kontext Gerechtigkeit zu erlangen.

Verfahren von internationaler Bedeutung in Koblenz

Dieses erste Verfahren gegen das Assad-Regime überhaupt – international weithin wahrgenommen und diskutiert – verlief über 108 Verhandlungstage. Im Laufe des Prozesses hörte das Gericht mehr als 80 Zeug:innen; unter ihnen zahlreiche Expert:innen, wie etwa ein Rechtsmediziner, der die sogenannten Caesar-Fotos untersucht hatte, sowie ein Ethnologe, der über die damalige politische und soziale Situation in Syrien aussagte. Das Gericht sichtete Fotografien aus den sogenannten Caesar-Akten: Fotoaufnahmen eines ehemaligen syrischen Militärfotografen, die die Folter (politischer) Gefangener durch syrische Staatsbeamte dokumentierte und unter Inkaufnahme von Lebensgefahr außer Landes schmuggeln ließ. Die Beweismittel waren von diesem Rechtsmediziner forensisch untersucht worden. Das Gericht berücksichtigte außerdem zahlreiche Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen.

Nach der Urteilsverkündung hatte R. bereits 2022 wegen mehrerer angeblicher Verfahrensrechtsverstöße Revision gegen das Urteil eingelegt, allerdings ohne Erfolg: Der Bundesgerichtshof stellt nun unter anderem klar, dass Berichte nationaler und internationaler Institutionen, etwa der Vereinten Nationen, der UN-Untersuchungskommission zu Syrien, oder des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Lage in Syrien, authentische und verlässliche Dokumente öffentlicher Institutionen sind. Sie dürfen daher in Gerichtsverfahren verlesen und im Urteil verwendet werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn unabhängige, internationale Ermittlungen im betreffenden Land nicht möglich sind, wie es in Syrien lange der Fall war.

Das Urteil betont insbesondere, dass sexuelle Gewalt nicht nur in Form von isolierten Vorfällen auftrat, sondern systematisch eingesetzt wurde. Die Verurteilung R.‘s wegen sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist für viele Betroffene ein wichtiger Meilenstein. Das Urteil stellt damit klar, dass diese Verbrechen systematisch begangen wurden, um das syrische Volk sowie jegliche auch nur vermeintliche Opposition zu unterdrücken. Die Initiative diesbezüglich ging von den Nebenkläger:innen des Verfahrens aus, die erfolgreich beantragten, sexuelle Gewalt als systematisches Verbrechen gegen die syrische Zivilbevölkerung in die Anklage einzuschließen.

Keine funktionale Immunität für Kriegsverbrecher

Interessanterweise hat der Bundesgerichtshof in der Revisionsentscheidung erneut Stellung zur funktionalen Immunität bezogen (gemeint ist: ein Staatsbeamter begeht im Dienst in amtlicher Funktion Verbrechen), ohne dass dies von den Verfahrensbeteiligten angemahnt worden wäre. Er hatte bereits 2021 bezüglich Immunitäten entschieden.

Nun hat der BGH erneut klargestellt, dass es für Amtsträger – einschließlich Anwar R. – keine funktionale Immunität gibt, wenn es um internationale Verbrechen geht. Da er in seiner Funktion als Beamter des syrischen Staates handelte, müssten seine Handlungen als Regierungshandeln betrachtet werden. Das Verfahren und das Urteil zeigen, dass sobald ein:e Regierungsbeamte:r internationale Verbrechen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord begeht, eine strafrechtliche Verfolgung dieser Person unabhängig von Status und Rang stattfinden kann. Dies spiegelte sich in der Folge im Sommer 2024 in der Reform des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) wider. Die Reform stellt klar, dass sich ausländische Staatsbeamte nicht auf funktionale Immunität berufen können, wenn sie von der deutschen Justiz wegen internationaler Verbrechen angeklagt werden.

Mehrere Schwierigkeiten des Verfahrens und des Urteils regten die Diskussion über die Notwendigkeit einer Reform des VStGB sowie des Strafprozessrechts an. Zu den Punkten, die die neue Gesetzesreform beinhaltet, gehört das Verbrechen des „zwangsweisen Verschwindenlassens“ von Personen, eines der symbolträchtigsten Verbrechen die das syrische Regime zur Unterdrückung der Zivilbevölkerung regelmäßig einsetzte. Dennoch wurde es trotz eines entsprechenden Antrags der Nebenkläger:innen nicht in das Urteil aufgenommen. In Syrien wurden hunderttausende Menschen Opfer des “zwangsweisen Verschwindenlassens“. Das ehemalige Regime nutzte diese Taktik als strategisches Instrument, um seine Kontrolle zu festigen, seine Gegner:innen zu zermürben und seine Bevölkerung zu unterdrücken. Das Verschwindenlassen wurde besonders gezielt gegen lautstarke Kritiker:innen des ehemaligen Regimes eingesetzt. Ihre Familien sollten über ihren Verbleib im Ungewissen gelassen werden, um sie zu terrorisieren und die Gesellschaft kollektiv zu bestrafen. Während des Al-Khatib-Verfahrens schilderten zahlreiche Zeug:innen wiederholt, wie sie selbst, Familienangehörige oder Bekannte dem staatlichen „Verschwindenlassen“ zum Opfer fielen. Um Gerechtigkeit für die Verschwundenen und ihre Familien zu gewährleisten, müssen zukünftige Prozesse auch dieses markante Verbrechen thematisieren. Insofern wird zu hoffen sein, dass das reformierte VStGB für eine veränderte Praxis sorgt.

Die Bedeutung des Al-Khatib-Urteils

Teil der Reform war es auch, die internationale Bedeutung der Prozesse in Koblenz zu verdeutlichen, indem man sie einem internationalen, nicht deutschsprachigen Publikum zugänglich machte. Internationale Reporter:innen und Journalist:innen haben durch diese Reform zukünftig die Möglichkeit, in Gerichtsverhandlungen auf eine Verdolmetschung zurückzugreifen, die in einigen Fällen bereits von den Gerichten bereitgestellt wird. Ein weiteres Anliegen, für das energisch gekämpft wurde, ist die Aufzeichnung von Verfahren von „herausragender zeitgenössischer Bedeutung“ für historische und akademische Zwecke durch die Gerichte selbst. Dafür ist keine besondere Relevanz des Verfahrens für Deutschland erforderlich (obwohl man sich wundern kann, wie internationale Makroverbrechen nicht ohnehin für jede Nation von Relevanz sein können).

Was jedoch in zukünftigen Prozessen von Bedeutung sein wird, und was das Al-Khatib-Urteil festgestellt hat, ist die Verantwortung des Assad-Regimes für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Urteil beschreibt diese Gräueltaten und die Verantwortung des Regimes dafür in sehr detaillierter Form. Diese rechtskräftigen Feststellungen sind von immenser Bedeutung für weitere Verfahren, wie etwa den laufenden Prozess gegen Alaa M. vor dem Oberlandesgericht Frankfurt oder den Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder einer syrischen Miliz, nach ihrer Festnahme im Juli 2024. Sie werden Signalwirkung für zahlreiche künftige Verfahren in Deutschland, Europa und international haben. Das Urteil bietet damit eine solide Grundlage für eine rasch wachsende Anzahl von Ermittlungen und Strafverfahren in zahlreichen Ländern.

Der Al-Khatib-Prozess, die Ermittlungen in Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip und alle weiteren Strafverfahren erwiesen sich nicht nur als theoretisch, sondern auch als praktisch möglich. Vorerst liegt ein rechtskräftiges Urteil in Bezug auf einen Täter der mittleren Verantwortungsebene vor und die Verantwortung des syrischen Regimes für diese Verbrechen ist festgestellt. Schließlich ist zu hoffen, dass Gerichte in künftigen internationalen Prozessen detaillierte Feststellungen bezüglich der verübten Verbrechen liefern und ihre bedeutenden historischen und sozialen Auswirkungen dokumentieren werden.

Neue Wege der Strafverfolgung nun möglich

Nach dem Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 wurde die Frage, wie die Täter zur Rechenschaft gezogen werden können, noch drängender. Die syrische Übergangsregierung hat bereits angekündigt in Syrien Prozesse gegen ehemalige Regimeangehörige durchführen zu wollen. Im Angesicht des Bekanntwerdens von Tatorten, wie etwa der ehemalige Gefängniskomplex Saydnaya nur wenige Tage nach dem Abzug des Regimes aus dem Land oder Massengräber im näheren Umkreis von Damaskus, werden die Forderungen nach Aufklärung lauter. Die syrische Übergangsregierung kündigte bereits an, eine Liste der Verdächtigen zu erstellen, die für die symbolträchtigsten Verbrechen des Regimes verantwortlich sind. Ein Besuch des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, in Damaskus lässt Überlebende und Angehörige hoffen. Eine entscheidende Aufgabe wird darin bestehen, alle relevanten Beweise aus den Archiven des Regimes, aber auch aus Haftanstalten und weiteren Tatorten zu sichern.

Viele fordern nun, dass Ermittlungen und Strafverfahren in Syrien selbst stattfinden, zum Beispiel mit Unterstützung internationaler Strafrechtsexperten. In den letzten Jahren konnten Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip lediglich als Notnagel dienen. Jetzt hat sich ein Zeitfenster geöffnet, um Straflosigkeit zu beenden. Dieser Prozess muss von der syrischen Zivilgesellschaft geleitet werden und ihren Interessen gerecht werden. Strafverfahren, die den Grundsatz des fairen Verfahrens sowie Prozessgrundrechte achten, scheinen nun in Syrien möglich. Der Prozess in Koblenz, der wichtige Erkenntnisse lieferte, war ein Meilenstein auf dem Weg hin zu mehr Gerechtigkeit. Derlei Verfahren werden weiterhin in europäischen Jurisdiktionen stattfinden, und es ergeben sich mehr Möglichkeiten, Beweise zu sammeln, da nun Ermittlungen und Rechtshilfe mit Syrien möglich scheinen. Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip stellen nunmehr lediglich eine von zahlreichen Optionen dar.

 

 

Helena Krüger studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Völkerrecht und Menschenrechte. Sie war Juristin bei der Anklagebehörde der Kosovo Specialist Chambers in Den Haag und ist seit Januar 2024 beim ECCHR im Programmbereich Völkerstraftaten tätig, wo sie insbesondere die Arbeit zu Menschenrechtsverbrechen in Syrien unterstützt.
Redigiert von Dorian Jimch, Claire DT, Sören Lembke
Übersetzt von Claire DT