Welche Rolle spielen die Verfahren gegen Vertreter des Assad-Regimes in Deutschland bei der Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien? dis:orient sprach mit der Menschenrechtsanwältin Joumana Seif und wirft einen Blick auf die Prozesse.
Mehr als 10 Jahre ist es her, dass aus Demonstrationen auf den Straßen von Damaskus, Homs und Daraa ein Bürgerkrieg wurde – und aus einem Bürgerkrieg ein Stellvertreterkrieg. 10 Jahre in denen die postkoloniale Ordnung der Region implodierte. 10 Jahre geprägt von Vertreibung, Chaos und Gewalt. Doch zum ersten Mal seit 10 Jahren müssen sich nun auch Täter:innen für ihre in diesen Jahren verübten Verbrechen vor einem Gericht verantworten. Dabei finden die ersten Prozesse nicht in Damaskus statt, denn dort herrscht immer noch das Regime rund um die Assad-Dynastie. Sie finden auch nicht in einer der anderen arabischen Metropolen in der Region statt. Ebenso wenig in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Sie finden in Deutschland statt.
Das Recht der Welt
Die rechtliche Grundlage dafür bietet das sogenannte Weltrechtsprinzip. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Rechtsprinzip 2002 in Form des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) in die eigene Rechtsprechung mit aufgenommen. 2015 wurde es das erste Mal angewendet als zwei ruandische Anführer der Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) sich für ihre in der Demokratischen Republik Kongo verübten Verbrechen verantworten mussten. In den Prozessen gegen syrische Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher nimmt Deutschland nun eine Vorreiterrolle ein. Kein anderes Land ist so sehr darum bemüht entsprechende Verfahren anzustreben und vor Gericht zu bringen.
Die Unantastbaren vor Gericht
Das Verfahren in Koblenz ist nicht das einzige Verfahren mit Syrienbezug, in dem das Weltrechtsprinzip Anwendung fand. So standen und stehen Taha al-J., Alaa M. und Mouafak al-D. ebenfalls vor Gericht. Doch es nahm und nimmt vor allem für viele syrische Oppositionelle einen ganz besonderen Stellenwert ein. Denn zum ersten Mal standen hier Vertreter des syrischen Staates vor Gericht. Jene also die lange als Unantastbar erschienen aus Sicht derjenigen, die Widerstand gegen das Assad Regime leisteten.
Eyad A. und Anwar R., ein Oberst und ein Feldwebel, mussten sich in Koblenz für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Dabei wurden die beiden Verfahren im Laufe des Prozesses voneinander abgetrennt, wobei Eyad A., der einen weitaus niedrigeren Rang einnahm, mit vier Jahren und sechs Monaten ein deutlich milderes Urteil als Anwar R. erhielt. Der ehemalige Oberst und Verhörleiter wurde wegen Folter, 27-fachen Mord, gefährlicher Körperverletzung und sexualisierte Gewalt zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Stein für Stein auf dem Weg zu Gerechtigkeit
Doch wie kann eine deutsche Staatsanwaltschaft in einem Land ermittelt, indem seit einem Jahrzehnt Krieg herrscht? Eine Aufgabe die schier unmöglich wäre, gäbe es nicht mutige Syrer:innen, die trotz aller Desillusionierung daran arbeiten einen Pfad zur Gerechtigkeit offen zu halten. Stein für Stein tragen sie dabei die Beweismittel zusammen, die diesen Weg einmal pflastern sollen.
Der wohl bekannteste und bisher einflussreichste Aktivist dürfte Caesar gewesen sein. Der nur unter seinem Decknamen bekannte Syrer schmuggelte die Fotografien von 6786 Leichen aus Syrien, auf denen deutlich die Spuren der systematischen Staatsfolter zu erkennen sind. Sie stellen seitdem eines der wichtigsten Beweismittel für die Prozesse in Deutschland dar.
Eine weitere wichtige Säule in den Beweisführungen bilden die Zeugenaussagen der zahllosen Opfer des Krieges in Syrien. Viele von ihnen leben inzwischen in Deutschland und sagen vor deutschen Gerichten aus. Unterstützt werden sie dabei von syrischen oder internationalen NGOs, wie beispielsweise dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) mit Sitz in Berlin.
Opposition im Exil
Ungefähr ein Drittel aller Syrer:innen, circa 8 Millionen Menschen, haben seit 2011 ihr Land verlassen und leben im Exil. So auch die Menschenrechtsanwältin Joumana Seif: „Ich komme aus einer Familie, die seit Jahrzehnten für Menschenrechte in Syrien kämpft“, berichtet die Frau mit der kraftvollen Ausstrahlung. Wie viele ihrer Landsleute ging auch sie 2011 auf die Straße: „Ich habe mich an den Demonstrationen, an der Revolution beteiligt. (...) Unsere Forderung war die Freilassung aller politischen Gefangenen. Das Regime und die Sicherheitskräfte reagierten grausam und brutal. Von diesem Punkt an wussten wir, wie ihre Strategie aussehen würde.“ Konfrontiert mit dieser Gewalt entschied sich Seif Syrien zu verlassen: „Ich und meine Familie verließen Syrien nach zwei versuchten Mordanschlägen auf meinen Vater.“[1] Nach einem Umweg über Ägypten landete die Familie, dank Kontakten zur deutschen Regierung, per Visum in die BRD.
Die Flucht ins Exil bedeutete dabei keineswegs das Ende des Kampfes gegen al-Assad. Als Menschrechtsanwältin arbeitet sie für das ECCHR, bereitet Anklagen vor, berät Opfer in Verfahren und engagierte sich für eine Strafverfolgung von Menschrechts- und Kriegsverbrechern. Das Verfahren in Koblenz hat sie eng und intensiv begleitet.
Ein Stück Würde
Die Erfahrungen des Prozesses hinterließen dabei einen tiefen Eindruck bei ihr. Besonders der Respekt und die Einfühlsamkeit, die den Opfern entgegengebracht wurde: „Wir waren fast schockiert als der Vorsitzende Richter aufstand, während eine der Zeuginnen sehr emotional wurde, und zu ihr hin ging, um ihr ein Wasser und Taschentücher zu bringen.“ In diesen Zwischentönen drückte sich für Seif besonders der Unterschied zwischen dem Unrechtsstaat in Syrien und dem deutschen Rechtssystem aus. Aber auch im Umgang mit dem Angeklagten zeigte sich für Seif die deutliche Diskrepanz auf: „Am ersten Tag fragte die Vorsitzende Richterin den Angeklagten: Wie soll ich ihren Namen aussprechen? (...) Das ist ein sehr kleiner Unterschied aber sie wollte seinen Namen nicht falsch aussprechen und respektlos sein. So etwas hatten wir nie in Syrien.“ Unweigerlich fühlt sich Seif dabei an die Verfahren ihres eigenen Vaters erinnert, der als syrischer Dissident mehrmals vor Gericht gestellt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurde: „Ich erinnere mich an die Verfahren gegen meinen Vater und die anderen politischen Gefangenen. Die meisten gehörten zur Elite im Kampf für Menschenrechte und waren hochgebildete Intellektuelle. Die Art und Weise wie sie behandelt wurden, wie sie vorgeführt wurden in Handschellen und hinter Gittern, die Unmenschlichkeiten, die sie ertragen mussten.“
Die Verfahren in Deutschland sieht Seif dabei momentan als einzige Möglichkeit, um für Gerechtigkeit in Syrien zu kämpfen, da eine Übertragung an den Internationalen Strafgerichtshof auf Grund des russischen Vetos derzeit ausgeschlossen ist: „Als jemand der viel mit Überlebenden zusammengearbeitet hat, kann ich sagen, dass diese die Gerichtsprozesse sehr zu schätzen wissen. Besonders als sie mit ihren eigenen Ohren hören konnten, wie das Gericht in seiner Urteilsbegründung Jahrzehnte in die syrische Geschichte zurück ging, bis in die 1970er Jahre, um die Wurzeln dieser schrecklichen Verbrechen deutlich zu machen.“ Für viele Syrer:innen habe sich dieser Moment wie ein „historischer Sieg“ angefühlt, indem ihnen „ein Stück ihrer Würde“ zurück gegeben wurde.
Kein Sturz in Sicht?
Das syrische Regime jedenfalls scheint die Verfahren durchaus ernst zu nehmen. So sollen beispielsweise Zeugen massiv unter Druck gesetzt worden seien – mutmaßlich von Mitgliedern des syrischen Geheimdienstes. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik bemerkt zudem, dass Haftbefehle mit empfindlichen persönlichen Einschränkungen verbunden sind: „Reisen wird beispielsweise deutlich schwieriger, wenn man befürchten muss im Ausland festgenommen zu werden.“ Allerdings glaubt Steinberg nicht daran, dass die Verfahren einen unmittelbaren politischen Einfluss auf die Lage in Syrien nehmen werden. Zu eng verbunden seien die persönlichen Schicksale der Eliten mit dem Regime. Zudem sieht er auch einen negativen Effekt in den Verfahren: „Da in der Regel nur jene die sich von dem Regime abgewandt und das Land verlassen haben vor Gericht gestellt werden, verhindern die Strafprozesse weitere Absetzbewegungen. Dabei ist es eigentlich in unserem Interesse, dass möglichst große Teile des Regimes desertieren.“ Joumana Seif sieht trotzdem einen positiven Effekt in den Verfahren auch auf politischer Ebene: „Koblenz hat uns geholfen, Syrien zurück auf die Agenda zu bringen.“
„Ohne diesen Traum werden wir sterben“
Es fällt schwer einen Blick auf die aktuelle syrische Landkarte zu werfen und dabei nicht in trostlose Resignation zu verfallen, denn es präsentiert sich das Bild eines vollkommen zerrissenen Landes. Gleichwohl sieht Joumana Seif in den Verfahren in Deutschland eine wichtige Grundlage für die Zukunft Syriens, einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Denn Frieden, davon ist die Menschenrechtsanwältin überzeugt, kann es in Syrien ohne eine juristische Aufarbeitung nicht geben: „Ohne Gerechtigkeit, ohne Verantwortlichkeit wird es keine Lösung für Syrien geben.“ Trotz aller Ernüchterung möchte sie den Traum von einem Syrien, indem „volle Gleichberechtigung für alle Religionen, Ethnien und Geschlechter“ besteht daher nicht aufgegeben. „Ohne diesen Traum, werden wir sterben, dafür zu kämpfen gibt unseren Leben einen Sinn“ – auch im Exil.
[1] Joumana Seifs Vater ist Riad Seif. Er begründete Anfang des Jahrtausend das „Forum für Nationalen Dialog“ in der Hoffnung, dass nach dem Tod von Hafez al-Assad und der Übernahme der Präsidentschaft durch seinen Sohn Bashar al-Assad ein Zeit der Reformen eintreten würde. Riad Seif wurde wiederholte Male durch das syrische Regime zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.