02.08.2024
Ein Massaker als Randnotiz
Themaverfehlung: die „eigentlichen" Massenverbrechen landen nicht vor Gericht. Grafik: Zaide Kutay.
Themaverfehlung: die „eigentlichen" Massenverbrechen landen nicht vor Gericht. Grafik: Zaide Kutay.

In Hamburg ist ein Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Damaszener Stadtteil Tadamon angeklagt. Um das Tadamon-Massaker geht es dabei aber nicht. Thema verfehlt?, fragt Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Dreizehn Jahre nach Beginn des Kriegs in Syrien hat das Assad-Regime alle erdenklichen Verbrechen gegen die syrische Bevölkerung begangen. Einige davon prägten sich besonders tief in das Bewusstsein der syrischen und internationalen Gemeinschaft ein – vor allem jene, die bildlich dokumentiert wurden und um die Welt gingen. Diese Aufnahmen sind Meilensteine des Grauens, aber auch einzigartige Beweismittel für die Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen. Zu den bekanntesten Bildaufnahmen gehören die Videos eines Massakers, das 2013 im Stadtteil Tadamon im Süden von Damaskus stattfand. Sie zeigen, wie bewaffnete Männer in Militäruniform gefesselte Zivilisten mit Augenbinden zu einer Grube führen und hineinstoßen oder auffordern, darauf zuzulaufen. Währenddessen werden sie erschossen und fallen in das Massengrab. Später zünden die Täter, die ihre Gesichter ganz unbesorgt in die Kamera halten, die Grube mit Dutzenden Leichen an.

Vor fünf Jahren wurden die grausamen Videos geleakt und an ein Team aus Wissenschaftler:innen herangetragen, 2022 gerieten sie an die Öffentlichkeit. Der Name des Stadtteils Tadamon ist seitdem zum Synonym für das willkürliche Morden des Assad-Regimes geworden. Als das Oberlandesgericht Hamburg Ende Mai einen Prozess zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tadamon eröffnete, schien es daher naheliegend, dass das Massaker im Zentrum des Verfahrens stehen würde. Immerhin erwähnte die Bundesanwaltschaft es in ihrer Anklageschrift. Und eine der ersten Zeuginnen war die Wissenschaftlerin, die das Video an die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Doch die Taten, die dem Angeklagten Ahmed H. vorgeworfen werden, haben mit dem Massaker nichts zu tun. Er gehörte auch nicht der Geheimdienstabteilung an, die dafür verantwortlich gewesen sein soll – auch wenn die regimetreue Miliz, für die er arbeitete, mit dieser kooperierte. An Checkpoints in Tadamon soll H. Zivilisten geschlagen, festgenommen und zu harter Arbeit gezwungen haben. Wie bei vergangenen Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip stellt sich die Frage: Spiegeln die angeklagten Personen und Taten wirklich den Kern des Unrechts wider, oder folgt die Auswahl eher juristischem Pragmatismus?

Aus der Ferne anklagen, was greifbar ist

Das Weltrechtsprinzip erlaubt es den deutschen Strafverfolgungsbehörden, Verbrechen zu ermitteln und anzuklagen, die nichts mit Deutschland zu tun haben, sofern es sich um Völkerrechtsverbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen handelt. 2020 startete das erste Syrien-Verfahren am Oberlandesgericht Koblenz. Seitdem hat die Bundesanwaltschaft Angeklagte aus Syrien, dem Irak oder Gambia vor Gericht gebracht und teilweise verurteilt. Von staatlicher Seite wurde immer wieder Deutschlands Vorreiterrolle auf diesem Gebiet betont.

Und tatsächlich waren deutsche Gerichte die ersten, die die Folter der syrischen Geheimdienste als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichneten oder den Völkermord an den Jesid:innen als solchen verurteilten. Aber neben einigen formellen Mankos – Sprachbarrieren, mangelnder Zeug:innenschutz – bringt diese Gerechtigkeit aus der Ferne ein entscheidendes Problem mit sich: die Verbrechen eines Unrechtsregimes können nicht systematisch aufgearbeitet werden. Stattdessen muss mit den Tätern und Taten, die in Deutschland greifbar und verhandelbar sind, vorliebgenommen werden.

Beim Koblenzer Prozess ging es zum Beispiel um Folter und Mord in den Geheimdienstgefängnissen, was zweifellos von großer Bedeutung war und sehr viele Menschen betraf. Aber ein mindestens genauso brutales Verbrechen, nämlich das Verschwindenlassen, wurde nicht angeklagt. Dabei betonten Zeug:innen im Prozess immer wieder, dass das Unwissen über den Verbleib geliebter Menschen – in zehntausenden Fällen bis heute – zu den schmerzhaftesten Erfahrungen der Diktatur zählte. Eine Gesetzeslücke im deutschen Völkerstrafrecht hätte es jedoch nahezu unmöglich gemacht, diesen Tatbestand zu beweisen, daher wurde sie nicht angeklagt. Immerhin wurde diese Lücke in der kürzlich beschlossenen Reform des Völkerstrafgesetzbuchs geschlossen.

Auch in Berlin 2023, beim Verfahren gegen einen Milizionär im palästinensischen Flüchtlingslager und Damaszener Stadtteil Jarmuk, schien es, als verhandelte die Justiz an dem vorbei, was für Dutzende Überlebende das zentrale Verbrechen war – ja, wofür der Name des Stadtteils, ähnlich wie Tadamon, ein Schlagwort geworden war: die Belagerung von Jarmuk, bei der zwischen 2013 und 2014 mehr als 170 Menschen an Unterernährung starben, viele davon Kinder.  Mehrere Zeug:innen baten am Ende ihrer Aussage darum, etwas ergänzen zu dürfen. Dann erzählten sie detailliert von den verheerenden Zuständen während der Belagerung, vor allem vom Hunger, der sie zwang, Gras, Hunde und Katzen zu essen. Verurteilt wurde der Angeklagte jedoch nicht wegen seiner Beteiligung an diesem Verbrechen, sondern wegen einem persönlichen Racheakt, bei dem er in eine Menge von Zivilist:innen geschossen hatte. In ihren Schlussplädoyers kritisierten die Nebenkläger:innen, dass Mouafak D. wegen diesem Kriegsverbrechen angeklagt war, nicht aber wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der Belagerung und Aushungerung der Bevölkerung.

Bodensatz der Massenverbrechen

Immerhin werden die großen Verbrechen wie die Belagerung Jarmuks oder jetzt das Massaker von Tadamon bei solchen Ermittlungen quasi als Nebenprodukte aufgeklärt. Ressourcen werden genutzt, um Beweise zu sammeln und Zeug:innen hören zu können. Damit erfahren Überlebende eine gewisse Genugtuung. Trotzdem fühlt es sich irgendwie falsch an, wenn ein Gericht in Deutschland Schläge und Zwangsarbeit an Checkpoints anprangert, während eines der bekanntesten Massaker des Kriegs in Syrien nur eine Randnotiz bleibt. Andersherum scheint es nicht ganz fair, dass der Angeklagte in Hamburg mit einem Massaker assoziiert wird, obwohl seine mutmaßlichen Taten im Vergleich dazu geringer waren.

Ich kenne viele Völkerrechtler:innen und interessierte Menschen, die sagen: jedes Völkerrechtsverfahren ist ein wichtiges Zeichen gegen Straflosigkeit. Und Verbrecher:innen aus dem Ausland sollten sich nicht vor Strafverfolgung in Länder wie Deutschland flüchten können. Da ist natürlich was dran. Aber wenn durch das Weltrechtsprinzip nur der Bodensatz der Massenverbrechen vor Gericht landet, wirkt das bisweilen wie eine Themaverfehlung. Natürlich sollten alle Verantwortlichen und alle Taten als Teil eines umfassenden Aufarbeitungsprozesses ihren Platz vor Gerichten oder in Wahrheitskommissionen finden, ob in Syrien, Irak, Gambia oder auch außerhalb der Tatort-Staaten. Und selbstverständlich tragen auch kleine Rädchen eines Unrechtsregimes einen Teil der Verantwortung, auch Nebenschauplätze haben Opfer hervorgebracht, die irgendeine Form der Wiedergutmachung brauchen.

Trotzdem machen Prozesse wie der in Hamburg deutlich, dass deutsche Gerichte Prioritäten und Einschränkungen haben, die die Wirkmacht des Weltrechtsprinzips immer wieder schmälern. Sie müssen sich auf die Taten und Täter beschränken, die gerade da sind, statt aufs große Ganze zu blicken. Sie müssen den deutschen Gesetzen folgen statt den Bedürfnissen der Überlebenden. Eine systematische, zukunftsorientierte Aufarbeitung von Verbrechen kann daher nicht wirklich sinnvoll im Ausland stattfinden, nicht ohne Beteiligung großer Teile der betroffenen Community und nicht, solange die Hauptverantwortlichen weiter regieren und sich, wie im Falle des Assad-Regimes, einer fortschreitenden Rückkehr in die internationale politische Community erfreuen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich