Das Völkerrecht gilt als Grundlage globaler Gerechtigkeit. Doch seine Geschichte und selektive Anwendung zeigen, dass es stets ein Instrument kolonialer Machtinteressen war. Das zeigt sich aktuell an Israel und Palästina.
Viele, die an universelle Gerechtigkeit glauben, sind angesichts israelischer Kriegsverbrechen in Gaza, die trotz zahlreicher Belege folgenlos bleiben, enttäuscht. Die Praxis zeigt, wie konsequent inkonsequent das Völkerrecht angewandt wird. Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 wurde sofort als „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ verurteilt. Zu Recht. Doch diese Klarheit bleibt eine Ausnahme. Staaten, die im Globalen Süden angreifen oder als Partner des Westens gelten, werden selten direkt in die Verantwortung gezogen und noch seltener sanktioniert. Die berechtigte Empörung über solche Doppelstandards ist keine Krise des Völkerrechts, sondern vielmehr Ausdruck einer verspäteten Erkenntnis seiner Funktion.
Die Entstehung des Völkerrechts als europäisches Phänomen
Das moderne Völkerrecht entstand in den 1860er-Jahren als Produkt der europäischen Expansion. Es diente weniger der universellen Gerechtigkeit als der Rationalisierung kolonialer Herrschaft, wobei Begriffe wie Zivilisation, Humanität und Säkularismus eine europäische Überlegenheit untermauern sollten. Ernest Nys (1851-1920), belgischer Jurist und Historiker des Fachs, erklärte in Le Droit international das Völkerrecht zu einem Teil der zivilisatorischen Mission Europas und übernahm die Einteilung der Welt in zivilisierte, barbarische und wilde Völker. Souveränität war dabei allein „den Zivilisierten“ vorbehalten.
Die Ursprünge verortete Ernest Nys in der Renaissance und der christlichen Lehre vom gerechten Krieg. Daraus folgte eine Logik, nach der nur Gesellschaften, die diesem europäischen Bild entsprachen, als Rechtssubjekte gelten konnten, während andere entrechtet wurden.
Die Kolonisierung der Amerikas und Afrikas – legitimiert durch rassifizierte, biologistische Theorien – brachte eine Ordnung hervor, die Weißen und Kolonisierten unterschiedliche Rechte zuwies. Zentral in diesem Unterfangen war die Schaffung der terra nullius Doktrin, die Gebiete zum Niemandsland erklärte und den Kolonialmächten erlaubte, sich das Land der indigenen Gesellschaften anzueignen. Politische Gemeinwesen wurden ausgelöscht, koloniale Gewalt rechtlich abgesichert und als „Zivilisierung“ verklärt.
Im 19. Jahrhundert verstetigte sich diese Hierarchisierung durch den Standard of Civilization – eine Theorie, die nur westlichen Staaten volle Souveränität zusprach. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte der Völkerbund diese Annahme im Mandatssystem um: Völker, die „noch nicht imstande waren, unabhängig zu existieren“, wurde die Souveränität entzogen und die Vormundschaft an die „weiterentwickelten“ Nationen übertragen. In Westasien wurde so etwa Großbritannien die Vormundschaft über Palästina und den Irak, oder aber Frankreich über Syrien und den Libanon zugesprochen. Eine Fortführung kolonialer Herrschaft im Namen der zivilisatorischen Mission.
Diese verklärten Grundannahmen wirken bis heute nach, etwa im Statut des Internationalen Gerichtshofs, das von „zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ spricht. Zwar sind damit heute alle anerkannten Staaten gemeint, doch die Kolonialität der Sprache verweist auf ein Erbe, das Ungleichheit zur Norm erhob.
Von der Dekolonisierung zur Kontinuität
Auch nach dem formellen Ende des Kolonialismus wurden koloniale Strukturen nicht abgeschafft, sondern in internationale Institutionen überführt. Allen voran in die 1945 gegründeten Vereinten Nationen. Ihr Anspruch auf universelle Friedenssicherung steht im Widerspruch zu ihrem hierarchischen Aufbau: Zwar wurde das Selbstbestimmungsrecht aller Gesellschaften anerkannt, doch die faktische Entscheidungsgewalt blieb bei den einstigen imperialen und kolonialen Mächten.
Zentrum dieser Asymmetrie ist der UN-Sicherheitsrat, der sich infolge der Nachkriegsordnung aus den Siegern des Zweiten Weltkrieges zusammensetzt. Die fünf ständigen Mitglieder – USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – verfügen über ein Vetorecht und können jede Resolution blockieren, selbst bei schwersten Völkerrechtsverstößen. Diese privilegierte Stellung einiger Länder basiert weniger auf Gerechtigkeit als auf kolonial-imperialer Machtgeschichte. Die Staaten des Globalen Südens bleiben de facto machtlos. Sie können zwar Anträge stellen, aber nicht mit deren Umsetzung rechnen, wie dies beispielsweise während der Apartheid in Südafrika geschah, als westliche Vetomächte wiederholt Sanktionen gegen das Regime blockierten.
Israel mit Persilschein im internationalen Recht
Die selektive Anwendung des Völkerrechts zeigt sich nirgends deutlicher als im Gazastreifen. Seit dem 7. Oktober 2023 führt Israel einen Krieg mit massiven Angriffen auf eine eingeschlossene Zivilbevölkerung. Die Blockade von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff ist Teil der militärischen Strategie. Das willentliche Aushungern der Bevölkerung bricht humanitäres Völkerrecht.
Zugleich kündigt Premier Netanyahu – gegen den der Internationale Strafgerichtshof bereits Haftbefehl erlassen hat – offen die Besetzung des Gazastreifens an. Dass Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtler:innen dies seit Monaten als Völkermord bezeichnen und nichts folgt, zeigt, wie wenig justiziabel die Verbrechen westlicher Verbündeter sind.
Besonders sichtbar wird dies im UN-Sicherheitsrat. Seit Kriegsbeginn blockieren vor allem die USA jede bindende Resolution: bereits am 18. Oktober 2023 gegen humanitäre Pausen, am 8. Dezember 2023 gegen einen Waffenstillstand, aber auch 2024 und 2025 gegen dauerhafte Waffenstillstände, trotz wachsender Notlage. Diese Blockadepolitik entlarvt die UN als Bühne geopolitischer Loyalitäten.
Auch das gezielte Töten von Journalist:innen in Gaza verstößt gegen das Völkerrecht und bleibt folgenlos. Am 25. August 2025 wurden bei einem israelischen Doppelschlag auf das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis fünf Journalist:innen getötet. Internationale Reaktionen forderten zwar Untersuchungen, doch bei israelischen Verfahren zu möglichem Fehlverhalten werden Verantwortliche nur selten zur Rechenschaft gezogen. Ein Bericht des Action of Armed Violence Netzwerks im August 2025 ergab, dass 88 % der Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Gaza eingestellt wurden oder ergebnislos blieben. Auch die Untersuchung im Fall der palästinensisch-amerikanischen Al-Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh, die durch einen israelischen Scharfschützen im Jahr 2022 getötet wurde, verlief ergebnislos.
Als im Juni 2025 Israel erneut iranische Atomanlagen angriff, was ebenfalls das Völkerrecht bricht, dominierten in der deutschen Medien- und Politiklandschaft Begriffe wie „Präventivschlag“ oder „Selbstverteidigung“. Ganz abgesehen davon, dass ein unabhängiger Bericht des UN-Menschenrechtsrats, der in Deutschland als „Meinung“ diskreditiert wird, Israels Vorgehen in Gaza klar als Genozid kennzeichnet.
Russland als Gegenbild
Im Fall Russlands, des „ewigen Feindes des Westens“, zeigte sich im Gegensatz eine beispiellose Geschlossenheit der westlichen Staaten. Die UN-Generalversammlung verurteilte den Angriff auf die Ukraine wiederholt als Bruch des Gewaltverbots – der jus cogens-Norm und obligatio erga omnes (dt.: zwingendes Recht und Verpflichtungen gegenüber allen). So konnten Drittstaaten Sanktionen verhängen, Russland isolieren und Zentralbankreserven einfrieren – ein Muster kollektiver Rechtsdurchsetzung also. Ganz anders im Fall Israel, denn trotz systematischer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und der Einigkeit des UN-Menschenrechtsrats darüber, dass es sich um Völkermord handelt, billigt Deutschland Waffenlieferungen nahezu vorbehaltlos. Eine Mitverantwortung für Kriegsverbrechen wird ausgeblendet und rechtliche Verpflichtungen zugunsten geopolitischer Loyalitäten vernachlässigt. Diese Asymmetrie zeigt, wie stark die globale Rechtsordnung bis heute von kolonialen Machtverhältnissen und politischem Willen geprägt ist.
Nachkriegspläne für Gaza als Ausdruck derselben imperialen Logik
Die von Trump vorgeschlagene internationale Übergangsverwaltung mit Tony Blair – einem der Hauptarchitekten der Legitimationsstrategie für die US-Invasion im Irak 2003 – als möglichem Leiter präsentiert sich als technokratische Lösung für Sicherheit und Wiederaufbau. Doch unter der Oberfläche wiederholt sich ein altbekanntes Muster. Die Mächte des Globalen Nordens definieren, wer Gaza regiert, wie Ressourcen verteilt werden und wie Sicherheit definiert wird.
Der Vergleich zum britischen Mandat über Palästina drängt sich auf. Auch damals versprach eine treuhänderische Verwaltung Selbstbestimmung, setzte in Wirklichkeit aber britische Kontrolle durch, erleichterte Landkäufe für Siedler:innen, baute Infrastruktur nach kolonialen Prioritäten und hielt die arabische Mehrheit politisch außen vor. Das Ergebnis waren Enteignung, ein wachsendes Wohlstandsgefälle, wiederholte Aufstände in den 1920er- und 1930er-Jahren und ein Erbe der Fremdbestimmung, das bis heute im israelischen Siedlerkolonialismus nachwirkt.
Das Völkerrecht ist kein humanistisches Ideal, vielmehr ein System kolonialer, eurozentrischer Geschichte. Die Einsicht über seine Selektivität ist daher keine Enttäuschung, sondern Ausdruck der Bewusstwerdung seiner kolonialen Kontinuität.




















